Dienstag, 31. Dezember 2019

Das "neue" Jahr und das "Glück"


Bei meinem Fotospaziergang entlang der Kleingärten um die Ecke fand ich neulich das Glück. Es sah etwas mitgenommen aus, sogar sehr, überhaupt nicht mehr frisch. Nun ja, es war halt alt. So alt, wie jedes Glück ist, sobald der eine strahlende Glücksmoment vergangen ist. Sofort fängt das Glück an zu rosten. Das fühlt sich nicht gut an. Der Moment, der das Glück gebracht hatte, hat es wieder mitgenommen, und mit dem Glück auch unser Glücklichsein. Das klebte nämlich am Glück, die beiden waren siamesische Zwillinge, solche kann man nicht trennen. Also muss schnell ein neues Glück her, glänzend, unverbraucht, das neues Glücklichsein mit sich bringt und hoffentlich länger hält als das alte.

Deshalb wünsche ich niemandem "viel Glück" im "neuen" Jahr.

Ich wünsche stattdessen die Neugier und die Entschlossenheit, das Glücklichsein zu erforschen. Wie fühlt es sich an? Wovon hängt es ab? Von etwas, das nach allgemeiner Überzeugung als "Glück" angesehen wird, ein Etwas, das man herstellen, erwerben, kaufen, klauen oder imaginieren kann und das, wenn unsere Bemühungen es nicht herbeizaubern, hoffentlich geschenkt wird von einer höheren Instanz - der Erbtante, dem Chef, dem Himmel? Und wenn das Glück kurz aufgeblitzt ist (funkelnd neu!) und im nächsten Moment aussieht wie ein in verrostetes Stück Eisen - wo ist das Glücklichsein dann? Weg? Noch da? Warum? Wie lange bleibt es? Kann es sein - solange ich will?

Es gibt kein "neues" Jahr. Es gibt nur diesen Augenblick, der immer neu ist. Es gibt Kalender-Zeit und Uhr-Zeit (okay, wichtig für das Bewältigen des Alltags), und es gibt die Zeitlosigkeit des immer neuen Augenblicks, in dem sich alles, innen und außen, um jeweils eine Winzigkeit neu ordnet. Nie war er vorher da. Nie kehrt er wieder. Jeder Augenblick: funkelnd neu und glänzend.

Ich wünsche Euch allen - Glücklichsein ...

Donnerstag, 26. Dezember 2019

Die Farben des Winters


Wenn wir "Winter" denken, dann erscheinen in unserem Geist automatisch Bilder von grauen Tagen und kahlen Äckern. Kein Schnee bedeckt heute mehr gnädig die Kargheit der Natur; wir hasten durch die Straßen, um schnell wieder ins Warme zu kommen, und meiden die aufgeweichten Feldwege, weil es da draußen ja ohnehin nichts zu sehen gibt. Aber stimmt das denn?


Die Farben des Winters sind unaufdringlich. Sie schreien uns nicht an, sind nicht omnipräsent wie Werbetafeln. Wir finden sie in Ecken und Winkeln, an Hecken, auf Pfosten und Zäunen. Für die Farben des Winters müssen wir uns hinunterbeugen, uns auf die Zehenspitzen stellen, durchs Unterholz spähen.


Die Farben des Winters machen glücklich. Anders als die des Sommers, die selbstverständlich sind (Sommer ist geradezu der Inbegriff von Farbe) und mich oft überwältigen. Zu viel. Zu laut. Aber in der Kargheit des Winters einen Schimmer Aprikose an einem Drahtzaun zu entdecken, das Grün einer Moosfamilie im Licht der untergehenden Sonne - das schenkt Freude für den ganzen Tag.


Ein Vorschlag für die nächste Gehmeditation, irgendwo in der eigenen Straße, einem Vorort, sogar im Industriegebiet (ja, siehe erstes Foto oben): Farben sehen.

Samstag, 21. Dezember 2019

Die Sonne wendet sich. Winter Solstice.


Heute erwartet uns die tiefste und längste Nacht des Jahres. So tief musste die Nacht werden, um das Licht, das immer kleiner wurde, in sich zu bergen und zu schützen, wie es eine Mutter tut. Und deshalb nannten unsere Vorfahren diese Nacht die Mutternacht, im Althochdeutschen Modranecht. Heute wird zur stillsten Stunde in der tiefsten Erde die Mutter das Sonnenkind wiedergebären. Ein Mythos, der sich in vielen Kulturen findet, zum Beispiel in Ägypten, wo die Göttin Isis das Horuskind zur Welt bringt.

Es liegt nahe, die Geburt Jesu, der auch "das Licht der Welt" genannt wird, als eine Umdeutung der heidnischen Feste zu sehen, um die Christianisierung zu beschleunigen. Sein "Geburtstag" wurde von Papst Hippolytos auf den 25. Dezember gelegt, und Kaiser Konstantin übernahm das dann im Jahr 330, als er das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Der Kirchenhistoriker Hans Förster bezweifelt in der Süddeutschen Zeitung zwar einen Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest und den heidnischen Sonnwendfeiern. Wahrscheinlich, sagt Förster, "wollte man den im 4. Jahrhundert immer zahlreicher werdenden Pilgern im Heiligen Land ein Ereignis bieten. Man wusste, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, es gab dort eine Geburtskirche, also brauchte man auch ein Geburtstagsfest."

Ich halte mich lieber an den uralten Mythos, denn Mythen sind Geschichten, die unsere Seelen geschrieben haben und, wie Joseph Campbell sagt, uns Lebendigkeit erfahren lassen. Die Geschichte von der Geburt des Lichts zeigt, dass wir Vertrauen haben dürfen in die Dunkelheit, in die mit den Augen wahrnehmbare und die in uns selbst. Sie ist nicht endlos, ja, sie ist geradezu notwendig als Schutz für den Keim des Lichts. Noch braucht er das Dunkel, um zu wachsen und zu erstarken. Irgendwann wird er aufbrechen und die Welt erleuchten.

Ich wünsche Euch, dass Ihr - was immer Ihr glaubt oder nicht glaubt - in diesem Vertrauen die Weihnacht, die Heilige Nacht, begehen könnt. Euch allen, die Ihr so zahlreich diesen Blog begleitet, eine wunderbare, stille, leuchtende Zeit.

Sonntag, 15. Dezember 2019

Weihnachten still & einfach


Sechs Empfehlungen für ein Weihnachtsfest, das so werden könnte, wie es eigentlich nie war. Aber immer hätte sein sollen. Nur haben wir das aus irgendeinem Grund nicht hingekriegt. Bei den Gründen halten wir uns nicht auf. Wir erschaffen jetzt einfach das stille, gelassene, leuchtende, freudvolle Weihnachtsfest ohne Konsumrausch und Stress. Allein, mit kleiner Familie, mit großer Familie, mit Freundin, Hund und Katze.

1. Die Weihnachtsdekoration sollte politisch korrekt sein, also schadstofffrei, ressourcenschonend, nachhaltig produziert und klimafreundlich. Das gibt ein gutes Gefühl, und mit gutem Gefühl schläft man besser.


2. Die Kinos sind an den Weihnachtstagen überfüllt mit Teenies, die dem weihnachtlichen Familienstress entflohen sind, hinter dir mit Popcorntüten knistern und die Kniee in deine Sitzlehne rammen. Ich empfehle, eine DVD zu kaufen, die auch nicht viel mehr kostet als ein Kinobesuch für eine Person, aber viele Male von vielen Menschen mit Freude angeschaut werden kann. Zum Beispiel den schönen Film "Zeit für Stille" von Patrick Shen.


3. Feine Empfehlungen für ein ganz und gar gansloses, sogar komplett tiertodfreies Weihnachtsessen gibt es in meiner Rubrik "Rezepte" auf der rechten Seite. Wer besonders viel Platz lassen will für die fabelhaften Plätzchen von Oma oder von mir (auch unter dem Stichwort Rezepte), wählt vielleicht diese federleichten Kartoffelküchlein mit Avocadocreme. Rezept hier (klick).


4. Selbst das stillste Weihnachtsfest wird geadelt durch das Geräusch umgeblätterter Buchseiten. Damit ihr nicht vor den randvollen Regalen in der Buchhandlung verzweifelt, hier vier Empfehlungen für garantiert kluge Unterhaltung von Autoren, die mit Sprache umgehen können.  

Matias Faldbakken "The Hills", Heyne Verlag: Ein altmodisches Restaurant, eingefahrene Rituale, ein herrlich schräges Personal - und dann taucht ein kleines Mädchen auf, und alles gerät ins Rutschen. Gérard Salem "Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst", Dumont Verlag: Der Roman des Psychiaters Gérard Salem. Ein Sohn hat vor Jahren mit der Familie gebrochen, wird krank und schreibt auf Anraten seines Therapeuten der Familie einen Brief. Plötzlich schreiben sie alle, jeder jedem, ehrlich und selbstkritisch. Und dann naht das Weihnachtsfest. Adam Haslett "Stellt euch vor, ich bin fort", Rowohlt: Die Geschichte einer Familie, die mit der bipolaren Erkrankung des Vaters gelebt hat - und der Sohn hat sie geerbt. Nein, nicht nur traurig - voller Wärme und Hoffnung. Peter Kurzeck "Ein Kirschkern im März, Fischer tb: Ich liebe alles von Kurzeck, diesen Titel vielleicht ein klein wenig mehr. Ein großer Sprachkünstler, der den Moment zu dehnen vermag, uns sehen lehrt und auf die Welt voller Schmerz und Liebe blickt.


5. An Weihnachten muss unbedingt gesungen werden. Nur Mut - es geht! Einfach ganz leise anfangen, mehr Herz als Stimme, dann wird das schon. Und als Belohnung dann meine Lieblingsgruppe Voces8 anhören. Hier mit dem modernen Arrangement des alten englischen Christmas Carols "Lully, Lulla, Lullay".


6.  Weihnachten war einst die Zeit der Wunder. Wir waren schon Wochen vorher aufgeregt, aus der Küche duftete es vielversprechend, hoch oben im Kleiderschrank lagen seltsame Päckchen, nachts raschelte Mutter hinter verschlossener Tür, und schon am Tag vor Heiligabend war es strikt verboten, das Wohnzimmer zu betreten. Die Wunder sind nicht ausgewandert, nicht verlorengegangen - nur wir haben uns ein wenig im Erwachsenenleben verirrt. Jetzt finden wir sie wieder. Ich bitte, bis zum 6. Januar pro Tag ein kleines Wunder zu erleben.

Wie das geht? Irgendwo, wo man gerade ist, stehenbleiben, die Augen schließen. Nicht denken, nichts erwarten, keine Angst vor irgendwas haben. Sich langsam zwei, drei Mal im Kreis drehen, stehenbleiben, blitzschnell die Augen öffnen, ganz bewusst schauen. Nur schauen, was sich da zeigt. Es nicht benennen, beurteilen, kritisieren. Es SEHEN. Dann ist es ein Wunder. Ein Sekundenwunder. Ein Lidschlagwunder. Nie vorher gesehen. Nie wieder zu sehen. So schnell vorbei.

Und das ganz kleine Wunder dann bitte bestaunen.



Mittwoch, 11. Dezember 2019

Bewege dich in deinen Eigenfarben


"Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung, aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, lass dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig, bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar. Zeig deine Augen, wink die anderen ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig. Vor allem hab Zeit und nimm Umwege.

Lass dich ablenken. Mach sozusagen Urlaub. Vergiss die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, missachte das Unglück, zerlach den Konflikt. Bewege dich in deinen Eigenfarben, bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. 

Geh über die Dörfer. Ich komme dir nach."

Peter Handke


Aus: Peter Handke "Über die Dörfer", Suhrkamp Verlag, ISBN: 978-3-518-39760-2 


Samstag, 7. Dezember 2019

Wie - nicht Was


Den ganzen November über nahm ich online an einem Foto-Workshop bei einer kanadischen Fotografin teil. Jeden Morgen bekamen wir eine E-Mail mit anspruchsvollen Fotoaufgaben; unsere Fotos teilten wir abends in einer eigenen Gruppe auf Instagram. Die Natur in Südbaden war aber offenbar in das Projekt nicht eingeweiht und schickte erst einmal ausgiebig Regen. Dann hüllte sie sich tagelang in Nebel. Als endlich die Sonne herauskam, lag ich krank im Bett. Wir waren eine internationale Gruppe, und täglich deprimierter betrachtete ich die Bilder vom sonnenglitzernden Meer der Fotografin aus Florida und die vom funkelnden Schnee der Kanadier. Und dachte: Was um alles in der Welt soll ich fotografieren?

Das kennen wir doch: Wir haben das Gefühl, unsere Umgebung biete uns nicht genug Anregung und suchen nach neuem Inhalt. Wir sehnen uns nach Begegnungen mit interessanten Leuten, einem neuen Partner, wollen uns nun doch einen Hund anschaffen oder wenigstens im Fernsehen einen spannenden Film anschauen, der unsere innere Leere mit Bildern füllt. Das Zen in seiner klaren Art lässt einen ja nie im Stich, und ich besann mich auf die einfache Zen-Anweisung: WIE, nicht WAS. Ich schaute mir also den Nebel genau an, spürte, wie er mich watteweich umgab, lauschte seiner großen Stille. Ich verfolgte das sich verändernde Licht hinter dem Vorhang in meiner Wohnung. Und fing das, was ich wahrnahm, in meinen Fotos ein.

... und dann haben mir auch noch die Tauben ein Geschenk auf den Balkon gelegt ...
 
Es gibt immer etwas zu entdecken. Wir müssen keine Leere füllen - wir brauchen nur unsere Sinne zu öffnen. Dann gibt es auch keine Langeweile mehr, keine Sehnsucht nach Mehr.

Vielleicht in diesem Monat, der so übervoll ist an Geklingel und Geblinke und aufdringlichen Aufrufen zum Konsum, mal das Wie in den Vordergrund stellen?


Donnerstag, 28. November 2019

Abschied von den Rosen


Einen Sommer lang waren sie bei uns zu Gast. Wir hatten Freude an ihnen. Sie waren anspruchslose Gäste - ein wenig zu trinken ab und an genügte ihnen. Dennoch brachten sie Geschenke im Überfluss mit: Duft und Farben in allen Schattierungen von Weiß bis Dunkelrot. Sie brachten auch weitere Gäste mit, die wir sehr mochten: Bienen und Schmetterlinge.


Unsere Gäste sind dabei, sich zu verabschieden. Sie falten sich leise und sorgfältig zusammen, packen sich selbst ein, wir brauchen ihnen dabei nicht zu helfen. Selten hatten wir Gäste, die wir so ungern gehen ließen; meistens sind wir froh, endlich wieder Haus und Garten für uns zu haben. Bei diesen Gästen ist es anders. Deshalb verabschieden wir sie, wie das geliebten Gästen gebührt.


Lebt wohl, dort, wo ihr jetzt seid. Tief in der Erde, wo es warm und ruhig ist. Wir sehen uns wieder, ja? Im nächsten Frühjahr wird die Sonne euch ein Zeichen schicken und ihr werdet wissen: Wir warten auf euch. Ihr seid willkommen bei uns. 


Sonntag, 24. November 2019

Arvo Pärt "Cantus"


Schwebende Musik
für diesen Sonntag, den wir "Totensonntag" nennen.

Genießt die Ruhe und Stille dieser Zeit.

Bald wird es glitzern und gleißen, klingeln und bimmeln. Bald wird man uns mit Vorschlägen für Weihnachtsgeschenke überschütten, die eigentlich niemand braucht.

Wann ist der Dezember der unruhigste, lauteste, grellste Monat des Jahres geworden?

In 30 Tagen aber wird sich die Sonne wenden und langsam aus ihrem tiefsten Punkt herausarbeiten. Und am selben Tag wird es still werden.

Für eine kleine Weile.
 

Sonntag, 17. November 2019

Nur dies (Winter's Watch)


Die Zeit der Stille und der Dunkelheit hat begonnen. Morgens liegt der Nebel wie ein weiches wollenes Tuch über dem Garten. Die Äste der von den Blättern befreiten Bäume stehen schwarz und präzise vor dem Himmel; die Kalligrafie einer Sprache, die uns rätselhaft bleibt. Die Natur zieht sich in sich selbst zurück. Sie hat alles verschenkt, was sie besaß, und wir haben es genommen. Gedankenlos. Als stünde es uns zu.

Jetzt ist die Zeit der Einfachheit gekommen. Wir müssen unsere Sinne neu einstellen,  uns tiefer über die Dinge beugen, sie genauer und länger betrachten. Wir müssen aufmerksamer lauschen auf die spärlichen Laute der Wesen, die hin und wieder durch den Nebel dringen und uns versichern, dass dort draußen Leben ist, das sich nur ausruht, um neue Kraft zu sammeln.


Wir lernen zu sehen: Nur dies. Mehr ist nicht nötig. Die Dinge kommen als Einzelne. Sie wollen, wie wir auch, als Einzelne und Besondere wahrgenommen werden. Sie leben, sie wurzeln tief, sie werden den Winter überleben. Auch wir leben, wurzeln tief. Jetzt ist nicht die Zeit, Wurzeln auszureißen, Neues zu pflanzen. Jetzt ist die Zeit, unsere Wurzeln zu spüren, zu wärmen, zu schützen. Die Zeit der Veränderung wird da sein, wenn das Licht wieder morgens über den Hügel steigt, und das Licht wird kommen, wie es jedes Jahr kommt. Jetzt ist die Zeit, die Liebe zu Stille und Dunkelheit zu entdecken. Eine Liebe, die Wurzeln schlagen wird in uns und uns stark machen wird.


Ich möchte Euch mit der amerikanischen Sängerin und Fotografin Alexandra de Steiguer bekannt machen. Seit zwanzig Jahren lebt sie allein von November bis April als Winterwächterin auf Star Island, einer nur im Sommer von Touristen besuchten Insel vor New Hampshire. Der 14minütige Dokumentarfilm über ihr Leben dort feiert die Stille, die Dunkelheit und das Alleinsein.

Die schönen Fotografien von Alexandra findet Ihr hier (klick). Ihre Musik, die ich sehr mag, hier (klick). 

Dienstag, 12. November 2019

Absichtslosigkeit



Ich ging auf meiner Straße so für mich hin. Ich bin nicht Goethe im Wald, meine Straße ist eine ganz gewöhnliche Vorortstraße, die Häuser sind aus den Siebzigern, nun ja, dort suche ich nichts, weil ich nicht erwarte, irgendwas zu finden. Und dann ein kleiner Wind, ein Huschen, ein grünes Getrudel ...

Warum ich das Zen so liebe? Weil es seine Schüler anweist, absichtslos zu sein. Nichts zu suchen, nichts zu erwarten, eine große innere Weite herzustellen, einen vorsprachlichen Raum der reinen Wahrnehmung, einen Raum, in dem nur gespürt, gehört, gesehen wird. Ein Raum, in den alles hineintrudeln darf, was ein kleiner Wind gerade so mit sich trägt. Und es wird gesehen. Bestaunt. Gewürdigt. Gefeiert.

Was Grünes an einem grauen Tag auf dem grauen Asphalt.

Dies also ist mein Bild des Tages mit dem Titel "Warum ich das Zen liebe".


Dienstag, 5. November 2019

Hörst du ihn?


Tag und Nacht

Musik. Ein feiner, heller

Rohrflötenklang. Wenn er verklingt,

verklingen wir.

Rumi

Mittwoch, 30. Oktober 2019

Attimi. Momente.


 Non si ridordano i giorni,
si ricordano gli attimi.

Cesare Pavese

Man erinnert sich nicht an die Tage,
man erinnert sich an die Momente.



Wenn ich mich wieder einmal von meinen Pflichten überwältigt fühle und der alte Wunsch aus Kindertagen zwingend wird, auf und davon zu gehen, in die aufgehende Sonne hinein zu fahren und frei zu sein, ungebunden, ohne jemanden im Hintergrund, der etwas von mir verlangt und erwartet - dann besinne ich mich auf den einzigen Ort, den es gibt, für den ich nicht reisen muss, der mich immer erwartet, weil er immer schon da ist: das Hier.



Ich besinne mich auf die einzige Zeit, die es gibt: das Jetzt, das auch dort, wo die Sonne aufgeht, wo meine Sehnsucht mich hinführen möchte, immer nur das Jetzt wäre. 



Ich besinne mich auf die eine Fähigkeit, die mich in das Hier und Jetzt zurückführt und mir immer und überall zur Verfügung steht: Mein Sehen, mein Hören, mein Fühlen, mein Schmecken. Meine Wahrnehmung dieses Augenblicks und seiner Einzigartigkeit. Und ich bin da, in diesem genau richtigen Moment, um wahrzunehmen, was im nächsten Moment verschwunden sein wird. Bewegung, Zuneigung, Geheimnis, Licht.

Ich bin in die Welt zurückgekehrt.


Mittwoch, 23. Oktober 2019

Ein Morgen im Supermarkt



"Am Zeitungsstand im Supermarkt stehen die Leser bei ihrer kostenlosen Morgenlektüre. Auch der kleine dunkelhäutige Junge ist da, dem ich seit Kurzem öfter begegne; er blättert in einem Comicheft. Die Frau, die zu ihm gehört, liest eine der bunten Illustrierten. Sie ist etwa Ende sechzig und trägt an diesem Morgen Schnürschuhe mit Profilsohlen, eine dicke braune Hose, darüber ein dickes graues Kleid und einen schwarzbraunen Mantel. Der Junge ist ein Sonnenschein, der durch das Viertel läuft und den Menschen zulächelt, als habe er nicht einmal die Hälfte der deutschen Mentalität geerbt. Ich lungere in der Kosmetikabteilung herum, um mich von dem Kind noch ein wenig bescheinen zu lassen.

Jetzt sieht der Kleine, der auf dem Boden kniet, hinauf zu der Frau. Von seinem Blickwinkel aus sieht er zweifellos kein Gesicht, sondern eine Illustrierte mit Beinen. Das scheint ihm nicht zu genügen, schmeichelnd fragt er: "Oma?" Die Frau überfliegt mit gierigen Augen die Affären der Prominenz; mehr als zehn Minuten kann sie das anständigerweise nicht tun, sonst muss sie die Zeitschrift kaufen. "Oma", sagt der Junge, "ich möchte dir was sagen." Die Frau blättert. "Oma", sagt das Kind, "ich hab dich lieb."

Die Frau gibt einen routiniert klingenden Laut von sich, ein seit Jahrhunderten bewährtes Hmm, das aufdringliche Kinder abwimmelt, ohne dass man sich ihnen widmen müsste. Etwas aber muss durch das Papier gesickert sein, eine Energie, die sich zwischen Scheidungsgerüchten, Seitensprüngen und Todesfällen hindurchschlängelt und bemerkt werden will. Verwirrt hält sie im Lesen inne und schaut sich um auf der Suche nach dem, was da in ihr Leben gekommen ist. Unter ihr wendet das Kind sich befriedigt wieder dem Comic zu. Es hat gesagt, was es zu sagen hatte. Die Frau sieht ratlos die Illustrierte an, als könne sie des Rätsels Lösung in den Seiten finden. Dann schlägt sie enttäuscht die Zeitschrift zu und stellt sie ins Regal.

Die Welt ist voll von nicht empfangenen Liebeserklärungen."

Aus: Margrit Irgang "Leuchtende Stille, Herder Verlag

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Mono no aware: die Schönheit des Vergänglichen


Japan im April: Unter den Kirschbäumen in allen Parks, an allen Flussufern sitzen Japaner auf ausgebreiteten Decken, umgeben von Schüsselchen mit Speisen, und feiern die Kirschblüten. Es regnet? Kein Problem, man spannt den durchsichtigen Plastikschirm auf, der die Blüten dem Blick nicht entzieht. Die Kirschblüte ist so kurz; sie ist vergänglich, und alles Vergängliche ist kostbar. Es will wahrgenommen, angestaunt, gefeiert und im Herzen bewahrt werden, wenn  man von ihm Abschied nehmen muss.

Mono no aware ist ein Begriff aus der Literatur der Heian-Zeit und wurde im 18. Jahrhundert vom Gelehrten Motoori Norinaga als Teil seiner Lehre bekannt. Der Begriff ist vielschichtig und für westliche Menschen nicht leicht zu verstehen. Kurz gesagt bedeutet er das Bewusstsein der Vergänglichkeit alles Lebendigen und die Fähigkeit, seine Schönheit zu feiern, bevor sie stirbt.

Wir haben im westlichen Empfinden und deshalb in unserer Kultur nichts Vergleichbares. Unsere Melancholie ist eindimensional: sie ist dunkel, das Gemüt beschwerend, ist Traurigkeit und Trauern ohne das Leuchten, das in mono no aware aufscheint. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit ist in beiden Zuständen enthalten, aber in mono no aware schwingt immer die Freude mit, das so bald schon Sterbende auf dem Höhepunkt seiner Lebendigkeit sehen und wertschätzen zu dürfen.

Für Japaner ist Schönheit und die Freude an ihr untrennbar an die Vergänglichkeit gebunden. Gerade weil etwas nicht unsterblich ist, wird es für den Japaner kostbar. Noch trägt der Baum sein volles Laub, noch überzieht der Winter nicht das Land mit Kälte. Noch ist die Mutter nicht gestorben, noch habe ich, obwohl schon alt, die Kraft, einen Berg zu besteigen.

mono no aware ruft uns zu: Sei aufmerksam, verpasse das Leben nicht - die Bäume in voller Blüte, die verspielte Kindheit deiner bald schon erwachsenen Kinder, die kostbaren letzten Gespräche mit dem alten Vater. Und vergiss nicht: die Flüchtigkeit alles Seienden ist kein Grund für dunkle Schwere des Gemüts. mono no aware trägt bei aller Wehmut eine leise Freude in sich, in mono no aware leuchtet ein kleines Licht.

Und leuchtet weiter, wenn all das, was du gefeiert hast, vergangen ist.


Freitag, 4. Oktober 2019

Hinter Gittern



Hinter Gittern. Dornspitzen oben, kein Abflug möglich.
Ohnehin schon erstarrt, zu anderer Materie verfestigt,
ein Abbild von Lebendigkeit.
Der Himmel als Spiegelbild, unerreichbar.

Ein Zufallsfund in einem Dorf, irgendwo.
Mein Auge nahm Farben und Formen wahr,
Schattenspiele. Ein sonniger Tag.

Später, die Teetasse auf dem Schreibtisch,
das Bild auf siebzehn Zoll vergrößert,
entdeckte ich die Frage, die ich übersehen hatte:

Hockt hier mein Geist, gefangen in
Irrtum, Meinung, Urteil,
in allem, was er zu wissen glaubt,
verstanden zu haben meint?


Freitag, 13. September 2019

Nachmittage im Spätsommer


Sie erscheinen lautlos zwischen den Zweigen. Im Bug ein Picknickkorb, ein Hund. Der Schatten ist kühler jetzt, die Farben sind gedämpfter. Die Seitenarme des Rheins sind leer und still. Die lärmenden Sommermenschen sind gegangen, jetzt kommen die leisen Herbstmenschen. In wortlosem Gleichmaß tauchen die beiden die Ruder ins Wasser. Der Hund, der ein Herbsthund ist, kontempliert die Landschaft. Sie gleiten grußlos vorüber. Zurück bleibt ein Bild in den Farben alter flämischer Meister.
 

Schnell noch einmal die Schwalben begrüßen. Sie haben viel zu bereden. Müssen prüfen, ob alle Flügel noch funktionieren, so kurz vor der Abreise in den Süden. Aber jetzt bleiben wir noch ein wenig, sagen sie. "Ja, bitte", rufe ich, "bleibt noch ein wenig!"


Noch einmal den schönen Weg durch die Weinberge gehen. Die Reben hängen schwer an den Stöcken; in der Ferne verschwimmen die Vogesen im Spätsommerdunst. Rast auf dem höchsten Punkt, an dem Tisch, der im Sommer um diese Zeit unter der Sonne nach warmem altem Holz geduftet hat. Jetzt liegt Schatten auf ihm. Im Rucksack der Herbst: Weinbergpfirsiche, Trauben, Zwetschgen. 

Spätsommer: gestundete Zeit zwischen Noch und Schon.


Donnerstag, 5. September 2019

Introvertiert und hochsensibel in einer lauten Welt


Ich habe mich hier ja schon öfter als hochsensibel "geoutet", und wie die meisten Hochsensiblen bin ich auch introvertiert. Diese beiden Persönlichkeitsmerkmale fließen ineinander, ähneln einander sehr, und eigentlich muss man sie nicht unbedingt auseinanderhalten. Dennoch eine kurze Klärung der Begriffe. Carl Gustav Jung unterschied zwischen zwei gegensätzlichen Einstellungstypen: Der Extravertierte richtet seine Energie und Lebenskraft nach außen und wirft sich ins Leben; der Introvertierte richtet sie nach innen, auf Gedanken und Gefühle. Es gibt aber nicht "den" typischen Introvertierten oder Extravertierten, denn nach Jung besitzt jede und jeder von uns außerdem vier Funktionstypen: Denken, Fühlen, Empfinden und Intuition. Jeder Funktionstyp kann in unterschiedlichem Maß extravertiert oder introvertiert ausgebildet sein, und so ergeben sich viele individuelle Ausprägungen in jedem Menschen.

Hochsensible dagegen haben ein Nervensystem, das Reize schneller und intensiver überträgt. Sie sind enorm beeinträchtigt von Lärm und Gerüchen, können Menschenmengen schwer ertragen, brauchen viel Alleinsein, Ruhe und Stille, um ihr schnell überreiztes Nervensystem zu beruhigen. Hochsensible haben mehr Autoimmunkrankheiten, Allergien und Nervenleiden als der Durchschnitt, und wenn sie sich beruflich oder privat überfordern, geraten sie schneller als andere in einen Burnout. Und die Grausamkeiten der Welt gehen geht ihnen buchstäblich "unter die Haut".

In der Summe ergibt das also eine Persönlichkeit, die von, sage ich jetzt mal, "normalen" Menschen abwechselnd als Prinzessin auf der Erbse, Eigenbrötlerin, Menschenfeind oder Hypochonder angesehen wird. Und da ich aus vielen Briefen und Gesprächen weiß, wievielen meiner Leserinnen und Lesern (doch, auch Männern!) es genauso geht, schaue ich hier mal drei populäre Missverständnisse näher an. Vielleicht möchte ja der eine oder andere nicht-hochsensible Extravertierte uns daraufhin gern ein wenig näher kennenlernen? Es lohnt sich ...



Missverständnis Nr. 1: Du musst mehr aus dir rausgehen. Ich bin die, die man auf Geburtstagsfesten in der Küche findet. Dort schneide ich das Brot auf, rühre die Suppe um und hoffe, erst dann das Wohnzimmer betreten zu müssen, wenn alle kauen und der Lärmpegel sich gelegt hat. Dann stelle ich mich mit meinem Teller zu den zwei, drei Gästen, die ich kenne (mehr sind es garantiert nicht), und frage vermutlich, ob sie das neue Buch von Autor XY gelesen und diesen fabelhaften Arthouse-Film gesehen haben, der leider nicht mehr läuft. Introvertierte Hochsensible können keinen Smalltalk, er kostet sie mehr Energie, als sie haben. Mit meinem Gesprächsangebot über etwas, das nicht an der Oberfläche bleibt, bin ich schon enorm "aus mir rausgegangen". Wenn dann keine Resonanz kommt, gehe ich mit meinem Teller still wieder rein: In die Küche. Und in mich selbst.

Missverständnis Nr. 2: Du bist doch einsam. Einsamkeit macht neurotisch. Definition von Einsamkeit einer Introvertierten: Inmitten einer laut miteinander redenden Menschenmenge zu stehen und keinen zu kennen. Definition von Alleinsein: Es ist still, ich darf schweigen, meine Gedanken dürfen schweifen, die Sinne sich öffnen. Ich kenne Hochsensible und Introvertierte, die eine Woche lang schweigen können und dabei restlos glücklich sind. (Solche kommen gern in meine Schweige-Seminare.) Bei den wohldosierten Begegnungen mit der äußeren Welt nehmen sie gleich so viele Details auf, dass sie sich nach kurzer Zeit zurückziehen müssen, um das sinnlich Erlebte zu verarbeiten. Das alles geht dann in die Schatzkammer ihrer inneren Welt ein, die sie, wenn sie allein sind, mit so viel Anregung für ihr Denken, so vielen Gefühlen versorgt, dass für Einsamkeit im Alleinsein gar kein Platz ist.


 
Missverständnis Nr. 3: Dir sind die Menschen anscheinend egal.  Wenn Hochsensible und Introvertierte jemandem zuhören, sind sie ganz Ohr, ganz Auge. Dann entgeht ihnen nicht das kleine Zucken am Augenlid, das kurze Zögern vor einer Bemerkung (ist er sich nicht sicher über sein Urteil, lügt er gerade, will er etwas verbergen?). Sich mit uns zu unterhalten, hat Folgen: Wir hören auch das Ungesagte. Wir wissen mehr über unseren Gesprächspartner, als dieser sich träumen lässt (und enthüllen wollte). Ich bin eigentlich ständig damit befasst, über die Menschen nachzudenken, die mir nahe sind. Ich begleite sie in Gedanken, frage mich, ob ich sie richtig verstanden habe, ob mein Rat - falls ein solcher erfragt wurde - auch hilfreich war. Wenn ich in der Nacht aufwache, ist mein erster Gedanke der an jemanden, den ich kenne. Ich hoffe, dass es ihm oder ihr gutgeht. Dass er oder sie glücklich ist. Niemand ist so leidenschaftlich an Menschen interessiert wie ein Hochsensibler oder Introvertierter.

Da stehen wir mit riesigen Blumensträußen in unseren Herzen, bereit, sie zu verschenken. Aber das werden wir - ich weiß, wie vielen es genauso geht - niemals zu erkennen geben. Eine Zurückweisung würde uns verstören. Wir sind sehr harmoniebedürftig - und sehr höflich. Wir wollen nicht falsch verstanden werden. Niemand soll sich von uns durchschaut fühlen, bedrängt, gar entblößt. Wir wissen so viel über andere - aber das werden die anderen nur erfahren, wenn sie uns ausdrücklich dazu auffordern. Was sie nicht tun werden. Sie sind ja der Meinung, dass uns Menschen egal sind.

Ein paar Tipps zum Hören und Lesen:

Margrit Irgang "Reizüberflutet. Hochsensible und ihr Alltag", SWR 2015, hier der Link zur Sendung:  https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/Hochsensible-und-ihr-Alltag-Reizueberflutet,aexavarticle-swr-46860.html

Elaine Aron "Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen", mvg Verlag

Andrea Brackmann "Jenseits der Norm - hochbegabt und hochsensibel?", Klett Cotta Verlag

Susan Cain "Still. Die Kraft der Introvertierten", Goldmann Verlag

Webseite des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität:  www.hochsensibel.org


Donnerstag, 29. August 2019

Rilke: O Leben



O Leben Leben, wunderliche Zeit
von Widerspruch zu Widerspruche reichend
im Gange oft so schlecht so schwer so schleichend
und dann auf einmal, mit unsäglich weit
entspannten Flügeln, einem Engel gleichend:
O unerklärlichste, o Lebenszeit.

Von allen großgewagten Existenzen
kann eine glühender und kühner sein?
Wir stehn und stemmen uns an unsre Grenzen
und reißen ein Unkenntliches herein,
. . . . . . . . . . .

Rainer Maria Rilke,
Paris, Winter 1913-1914 

 

Freitag, 23. August 2019

Heute vor fünfzehn Jahren


Heute vor fünfzehn Jahren starb mein "kleiner" Bruder, an einem Tag in Georgia, der 42 Grad hatte.

"Er liegt im Bett, das Profil wie aus Alabaster gemeißelt. Um uns herum die große laute Familie, zu der ich nicht gehöre; sie weinen und reden sich in den Trost hinein, den ich nicht brauche. Ich hatte vier Jahre lang einen Bruder, als Geschenk des Lebens, das uns dauernd Geschenke macht, auch wenn wir das nicht bemerken. Ich hatte das Geschenk nicht verdient, aber ich musste es mir auch nicht verdienen, ich bekam es einfach so. Grundlos, unangekündigt und unerwartet. Das sind die wahren Geschenke, und wenn man solch ein Geschenk erhält, darf man nicht zögern, es anzunehmen, nicht zögern, es zu genießen, und nicht zögern, es gehen zu lassen, wenn es einen verlässt.

Ich knie neben dem Bett in dieser Blase aus Stille, die mich und ihn umhüllt. Er ist alleine gegangen, ohne Beistand in seinen letzten Minuten, das passt zu ihm. Ich würde es vielleicht genauso machen. Wir beide werden jetzt wieder unsere Wege alleine gehen, das können wir, das haben wir ja gelernt. Er ist schon weit voraus, ich werde noch ein wenig bleiben, hier unten, wenn man das so sagen kann. Ja, alleine zu gehen macht uns nichts aus. Und doch war es schön, für eine kurze Wegstrecke eine Begleitung zu haben.

Ich beuge mich über das Alabasterprofil und sage leise: You are safe. Ich weiß nicht, warum ich ihm sage, dass er nun sicher sei, aber ich kann es ganz deutlich sehen: Mein kleiner Bruder, dessen Kindheit auf andere Weise als meine einsam und traurig war, ist vollkommen sicher und behütet, wo immer er jetzt ist."

Aus: Margrit Irgang, "Die Kostbarkeit des Augenblicks", Kreuz Verlag

Montag, 19. August 2019

Was sehe ich, wenn ich sehe?


Sieben Uhr morgens am S-Bahnhof meines Vororts. Der Bahnsteig voller müder Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Ein Hund mit roter Schleife um den Hals hebt das Bein an der Ecke zum Toilettenhäuschen. Ein Spatz lässt sich vom Baum fallen und schnappt sich eine Beute, die er erspäht hat. Wahrscheinlich hat das außer mir niemand bemerkt, denn alle anderen starren auf ihre Handys.

In der Süddeutschen Zeitung vom 16. August schreibt der Filmemacher Edgar Reitz, inzwischen 86 Jahre alt: "Die medialen Bilder haben die Herrschaft übernommen. Man muss sich nicht mehr vom Ort bewegen, muss nicht für das Dabeisein bezahlen. So kam es, dass die Bilder das direkte Sehen ersetzt haben." Er stellt auch fest, dass der Zuschauer "nicht objektiv wahrnimmt", was er als Regisseur auf der Leinwand erzählt, dass "jeder nur sieht, was er mit eigenen Erfahrungen bestätigen kann." Reitz fragt: "Ist es für uns überhaupt wichtig, dass wir uns in einer Welt wiederfinden, die mit unserer eigenen, unverwechselbaren Biografie untrennbar verbunden ist?"

Ich meine, "wichtig" ist hier das falsche Wort - es ist ein Vorgang, der automatisch abläuft. Thich Nhat Hanh sagt: "Unsere Wahrnehmung basiert gewöhnlich auf dem Boden unserer vorausgegangenen Erfahrungen. (...) Wir färben die Information in den Farben, die wir bereits in uns haben. Und darum haben wir meistens keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit." Der buddhistischen Wahrnehmungstheorie zufolge erfassen unsere Sinne ein Objekt im Bruchteil eines Augenblicks. Danach erfahren wir ein noch unstrukturiertes Geräusch, einen Geruch, ein Bild. Diese werden überlagert von Erinnerungen und Gewohnheiten, die Urteile auslösen wie "hübsch" oder "hässlich", und diese Urteile lösen Gefühle aus von Anziehung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit.

 

Dieses Bild der Blätter im Spinnennetz machte ich an einem Tag im Juli, als die Rosen noch in voller Blüte standen. Für eine Freundin war es ein trauriges Bild: Es würde vom Ende des Sommers erzählen, der doch auf seinem Höhepunkt sei. Ein Bekannter, der selbst fotografiert, lobte die interessante farbliche Komposition und den Gegensatz von Verwelktem und Frischem. Jeder hatte ein anderes Bild gesehen, jeder es auf Grund seiner Persönlichkeit anders interpretiert. Das Bild selbst ist nicht traurig; es ist einfach ein Bild von Blättern im Spinnennetz.

Dieses blitzschnelle Interpretieren von sinnlichen Eindrücken geschieht ständig im täglichen Leben. Und deshalb sind "die medialen Bilder" nicht die Auslöser für die Unfähigkeit, die Welt wirklich wahrzunehmen. Wir erzählen uns im Grunde unablässig eine Geschichte, die auf unseren vergangenen Erfahrungen basiert. Und wir wählen unbewusst aus, was wir sehen/hören/fühlen wollen. An jenem Morgen auf dem Bahnhof habe ich zwar den Hund und den Spatz gesehen - aber was alles ist mir entgangen?

Wenn wir - auf einem Gang durch den Wald, das Sitzen an einem Bach, Meditation - still werden, können wir diesen Vorgang in unserem Geist beobachten. Wir lernen unsere Bewertungen kennen und können uns entscheiden, ob wir ihnen erlauben, zu Gefühlen zu werden, die uns vielleicht nicht guttun.

Auch Edgar Reitz mit seinen Filmen und ich mit meinen Fotografien vermehren die Bilder im medialen Raum. Ich habe die Hoffnung, dass der Satz der berühmten Fotografin Dorothea Lange aus den 1940er Jahren immer noch gültig ist: "The camera is an instrument that teaches people how to see without a camera." Ich hoffe auf einen Moment der Stille im Geist der Betrachterin, die auf meinem Foto einen winzigen Ausschnitt der Welt sieht, den sie noch nie gesehen hat: Farben, die sie nicht in sich hat, die zu keiner Bewertung führen und deshalb für einen Moment die Welt neu und frisch erscheinen lassen, blank geputzt. So, wie man sie eigentlich immer wahrnehmen könnte.


Samstag, 10. August 2019

Sommer in der Stadt


Wenn die Nachmittage lang und träge sind, alle Türen offen stehen, in der Eisdiele ein uralter Hit von Eros Ramazzotti gespielt wird ...


... wenn man einfach nur stundenlang auf der Mauer sitzen und dem Leben beim Lebendigsein zugucken will und entdeckt, dass das besser ist als Kino ...



... wenn man sich allen ebenfalls durstigen Kreaturen von Herzen verbunden fühlt ...


... und vor lauter Glück kurz davor ist, in den Himmel zu fliegen und den Engeln Guten Tag zu sagen ...

... dann ist Sommer in der Stadt.

Donnerstag, 1. August 2019

Pema Chödrön: "Wir lassen die Dinge winzig"


... einfach mal mit Kamera oder offenen Augen die Schönheit des Winzigen entdecken ...

"Man muss ein gewisses Verständnis dafür haben, dass unsere Emotionen die Kraft haben, uns im Kreis herum zu hetzen. Dieses Verständnis hilft uns zu entdecken, auf welche Weise wir unseren Schmerz vermehren, wie wir unsere Verwirrung vergrößern, auf welche Weise wir uns selbst Schaden zufügen. Weil wir aber eine grundlegende Gutheit besitzen, grundlegende Weisheit und grundlegende Intelligenz, können wir aufhören, uns selbst und anderen zu schaden. Achtsamkeit lässt uns die Dinge erkennen, sobald sie erscheinen.Verständnis hilft uns, der Kettenreaktion, die winzige Dinge ins Unermessliche vergrößert, nicht nachzugeben. Wir lassen die Dinge winzig. Und sie bleiben winzig. Sie werden nicht zum dritten Weltkrieg oder zu häuslicher Gewalt. Und das wird möglich, wenn wir lernen, für einen Augenblick innezuhalten, nicht immer sofort impulsiv zu reagieren. Einfach innezuhalten, ohne den offenen Raum augenblicklich vollzustopfen, ist eine transformierende Erfahrung. Wenn wir warten, beginnen wir uns mit der grundlegenden Ruhelosigkeit und gleichzeitig mit der grundlegenden Weite zu verbinden.

Das Ergebnis ist, dass wir aufhören, Schaden zu verursachen. Wir lernen uns genau kennen und beginnen uns zu respektieren. Alles darf geschehen, jeder darf in unser Haus eintreten; wir können alle möglichen Gestalten auf unserem Wohnzimmersofa vorfinden und flippen doch nicht aus. Indem wir uns durch ehrliche, sanfte Achtsamkeit selbst kennengelernt haben, sind wir mit uns ins Reine gekommen.

Dieser Prozess bringt uns mit den Früchten der Gewaltlosigkeit in Kontakt: grundlegendem Wohlbefinden von Körper, Sprache und Geist." 


Die Amerikanerin Pema Chödrön, Nonne in der tibetischen Shambhala-Tradition

Aus dem Buch "Wenn alles zusammenbricht", Goldmann Verlag, ISBN 978-3-442-21525-6

 

Samstag, 27. Juli 2019

Begegnungen mit Hilde Domin. Zum 110. Geburtstag


Ich war Ende zwanzig, liebte die Gedichte von Hilde Domin, und weil ich damals noch das grenzenlose Vertrauen hatte, dass Autoren mit ihren Texten identisch sind, schickte ich ein paar meiner Gedichte an Hilde Domin. Eine Autorin, die von ihren eigenen Schmerzen und Zweifeln erzählte, schien mir vertrauenswürdig zu sein. Sie antwortete postwendend und lud mich zu sich nach Heidelberg ein. Ihre "Turmwohnung" am Grainbergweg ist legendär und wurde von ihr selbst und vielen Autoren, die sie dort besuchten, beschrieben. Ich dachte: Ein Nest für die verfolgte Jüdin, die Jahre im ungeliebten Exil in der Dominikanischen Republik verbringen musste. Ein Refugium für eine traumatisierte Seele.

Wir saßen auf unbequemen Gartenstühlen - ein bewusst hergestellter Hauch von Bohème in der von ihr geschaffenen Umgebung -, es gab ausgezeichneten Tee und wunderbare Petits Fours, und wir sprachen über Gedichte und das Schreiben im Allgemeinen. Plötzlich sprang sie auf, riss eine Tür auf und rief ihren Mann: "Walter, du musst unbedingt Margrit Irgang kennenlernen!" Erwin Walter Palm erschien im Bademantel, er war wohl gerade vom Mittagsschlaf erwacht. Es war mir peinlich, so viel Wirbel hervorgerufen zu haben. Später lernte ich, dass dies einfach die Art von Hilde Domin war: Spontan und unvorhersehbar sprang sie auf und folgte einer Eingebung, wie ein Vogel, der blitzschnell verschwindet und wieder auftaucht.

Sie mochte meine Gedichte und sagte schlicht: "Sie haben alles Wissen und Können, das eine Dichterin braucht. Ich kann nichts für Sie tun. Schreiben Sie! Und hören Sie nie wieder auf." Ich war enttäuscht, ich hatte mehr erwartet. Endloses Feilen an einem Wort, notfalls Kritik ("Ein Dichter würde das so nicht sagen"). In meinem Buch "Wunderbare Unvollkommenheit" habe ich fünfundzwanzig Jahre später diese Worte von Hilde Domin als die einer Zen-Meisterin beschrieben. Denn wir haben bereits alles, was wir brauchen, für das Schreiben wie für das Leben, und ein Lehrer kann höchstens unser Vertrauen in uns selbst stärken. Das hat Hilde Domin für die Schriftstellerin in mir getan.

Sie schenkte mir ihren Gedichtband "Die Rückkehr der Schiffe". Ich kann nicht sagen, dass wir in Kontakt blieben, dafür waren wir zu unterschiedlich, wesensmäßig und altersmäßig. Aber als ich im Jahr 1988 in der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom eintraf für meinen einjährigen Aufenthalt als Literatur-Stipendiatin, empfing mich die damalige Leiterin Elisabeth Wolken mit den Worten: "Sie sind uns schon als bezaubernde Person angekündigt worden von Hilde Domin." Sie hatte meine Arbeit, wie ich später erfuhr, im Auge behalten und im Hintergrund immer wieder etwas für mich getan. Inzwischen erschienen unsere Bücher im selben Verlag, dem Piper Verlag. Darüber ergab sich wieder Kontakt.

Mit Hilde Domin starb eine große Dichterin. Ich liebe die Einfachheit ihrer Gedichte, das Fehlen jeglichen Pathos und das stille Leuchten, das immer wieder durch den Schmerz hindurchscheint. Manchmal blättere ich durch die Bände, die ich vollzählig besitze, und fühle mich ihrer Heimatlosigkeit verwandt und ihrer Sehnsucht, zu bauen "... ein Haus / neben einem Apfelbaum / oder einem Ölbaum / an dem der Wind / vorbeigeht / wie ein Jäger, dessen Jagd / uns / nicht gilt."

Heute wäre sie 110 Jahre alt geworden.


Dienstag, 16. Juli 2019

Guten Morgen, Welt


"Südbadischer Morgenmond an Dachantenne", 16. Juli 2019, 4.46 Uhr

Es gibt noch Dinge, auf die man sich verlassen kann:

Alle vier Wochen wird der Mond rund und voll.

Und jeder Tag hat seinen Morgen. 

 

Donnerstag, 11. Juli 2019

Rilke: Schicksal


"Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein, und wir werden uns ihm, wenn es einen späteren Tages 'geschieht' (das heißt, aus uns heraus zu den anderen tritt), im Innersten verwandt und nahe fühlen. Und das ist nötig. Es ist nötig - und dahin wird nach und nach unsere Entwicklung gehen -, dass uns nichts Fremdes widerfahre, sondern nur das, was uns seit lange gehört. Man hat schon so viele Bewegungs-Begriffe umdenken müssen, man wird auch allmählich erkennen lernen, dass das, was wir Schicksal nennen, aus den Menschen heraustritt, nicht von außen her in sie hinein."

Rainer Maria Rilke an Franz Kappus

 

Sonntag, 30. Juni 2019

Anne Clark "Journey By Night"



Du bist fünfundzwanzig, alle Straßen führen in den Süden. Nachtfahrten im VW-Bus, weit offene Fenster, draußen schrillen die Grillen. Auf der Rückbank zupft einer auf der Gitarre, leise, um die Nacht nicht zu stören, ein anderer haucht in die Flöte. War der Schatten, der von Wipfel zu Wipfel flog, eine Eule? Am Himmel die Sichel des Mondes, aber im Osten dämmert schon der Morgen herauf, und mit ihm das Versprechen auf einen weiteren heißen Tag. Auch an diesem Tag wird niemand von ihnen etwas erwarten. Niemand wird einen Befehl erteilen, sie beurteilen oder kritisieren. Nichts erwartet sie außer dem großen langen Sommer, dem Meer und der Siesta auf einem immer anderen und doch immer gleichen Dorfplatz in der  heißen Mittagsstille. Ihre Bedürfnisse sind bescheiden, ein Baguette, eine Melone, ein Stück harter Käse. Wasser. Die Musik, ohne die sie nicht leben können, haben sie dabei. Noch eine Stunde, zwei Stunden. Dann werden sie den Bus in einem Wald abstellen, an einem Teich, auf einem Berg. Kaffee kochen, ihre Schlafsäcke ausbreiten und wissen: So wird es nie wieder sein.

Anne Clark hat aus einer solchen Nachtfahrt Musik gemacht: "Journey by Night".




Fahrt schön in den Sommer hinein. So wird er nie wieder sein.

Donnerstag, 27. Juni 2019

Agnès Varda und JR "Augenblicke"


Agnès Varda, die inzwischen verstorbene große Dame des Films, und der junge Künstler JR reisen durch Frankreich, fotografieren Menschen, die ihnen begegnen, und kleben die Porträts überlebensgroß auf Mauern, einen Bunker, Container. Ein Film über Menschen, Tiere, Fotografie, Film und Kunst, über das Altern und den Tod. Voller Zärtlichkeit und Wärme. Unbedingt anschauen - er läuft noch bis zum 2. Juli in der Arte-Mediathek: