Montag, 19. August 2019

Was sehe ich, wenn ich sehe?


Sieben Uhr morgens am S-Bahnhof meines Vororts. Der Bahnsteig voller müder Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Ein Hund mit roter Schleife um den Hals hebt das Bein an der Ecke zum Toilettenhäuschen. Ein Spatz lässt sich vom Baum fallen und schnappt sich eine Beute, die er erspäht hat. Wahrscheinlich hat das außer mir niemand bemerkt, denn alle anderen starren auf ihre Handys.

In der Süddeutschen Zeitung vom 16. August schreibt der Filmemacher Edgar Reitz, inzwischen 86 Jahre alt: "Die medialen Bilder haben die Herrschaft übernommen. Man muss sich nicht mehr vom Ort bewegen, muss nicht für das Dabeisein bezahlen. So kam es, dass die Bilder das direkte Sehen ersetzt haben." Er stellt auch fest, dass der Zuschauer "nicht objektiv wahrnimmt", was er als Regisseur auf der Leinwand erzählt, dass "jeder nur sieht, was er mit eigenen Erfahrungen bestätigen kann." Reitz fragt: "Ist es für uns überhaupt wichtig, dass wir uns in einer Welt wiederfinden, die mit unserer eigenen, unverwechselbaren Biografie untrennbar verbunden ist?"

Ich meine, "wichtig" ist hier das falsche Wort - es ist ein Vorgang, der automatisch abläuft. Thich Nhat Hanh sagt: "Unsere Wahrnehmung basiert gewöhnlich auf dem Boden unserer vorausgegangenen Erfahrungen. (...) Wir färben die Information in den Farben, die wir bereits in uns haben. Und darum haben wir meistens keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit." Der buddhistischen Wahrnehmungstheorie zufolge erfassen unsere Sinne ein Objekt im Bruchteil eines Augenblicks. Danach erfahren wir ein noch unstrukturiertes Geräusch, einen Geruch, ein Bild. Diese werden überlagert von Erinnerungen und Gewohnheiten, die Urteile auslösen wie "hübsch" oder "hässlich", und diese Urteile lösen Gefühle aus von Anziehung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit.

 

Dieses Bild der Blätter im Spinnennetz machte ich an einem Tag im Juli, als die Rosen noch in voller Blüte standen. Für eine Freundin war es ein trauriges Bild: Es würde vom Ende des Sommers erzählen, der doch auf seinem Höhepunkt sei. Ein Bekannter, der selbst fotografiert, lobte die interessante farbliche Komposition und den Gegensatz von Verwelktem und Frischem. Jeder hatte ein anderes Bild gesehen, jeder es auf Grund seiner Persönlichkeit anders interpretiert. Das Bild selbst ist nicht traurig; es ist einfach ein Bild von Blättern im Spinnennetz.

Dieses blitzschnelle Interpretieren von sinnlichen Eindrücken geschieht ständig im täglichen Leben. Und deshalb sind "die medialen Bilder" nicht die Auslöser für die Unfähigkeit, die Welt wirklich wahrzunehmen. Wir erzählen uns im Grunde unablässig eine Geschichte, die auf unseren vergangenen Erfahrungen basiert. Und wir wählen unbewusst aus, was wir sehen/hören/fühlen wollen. An jenem Morgen auf dem Bahnhof habe ich zwar den Hund und den Spatz gesehen - aber was alles ist mir entgangen?

Wenn wir - auf einem Gang durch den Wald, das Sitzen an einem Bach, Meditation - still werden, können wir diesen Vorgang in unserem Geist beobachten. Wir lernen unsere Bewertungen kennen und können uns entscheiden, ob wir ihnen erlauben, zu Gefühlen zu werden, die uns vielleicht nicht guttun.

Auch Edgar Reitz mit seinen Filmen und ich mit meinen Fotografien vermehren die Bilder im medialen Raum. Ich habe die Hoffnung, dass der Satz der berühmten Fotografin Dorothea Lange aus den 1940er Jahren immer noch gültig ist: "The camera is an instrument that teaches people how to see without a camera." Ich hoffe auf einen Moment der Stille im Geist der Betrachterin, die auf meinem Foto einen winzigen Ausschnitt der Welt sieht, den sie noch nie gesehen hat: Farben, die sie nicht in sich hat, die zu keiner Bewertung führen und deshalb für einen Moment die Welt neu und frisch erscheinen lassen, blank geputzt. So, wie man sie eigentlich immer wahrnehmen könnte.


1 Kommentar:

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