Mittwoch, 16. Oktober 2019
Mono no aware: die Schönheit des Vergänglichen
Japan im April: Unter den Kirschbäumen in allen Parks, an allen Flussufern sitzen Japaner auf ausgebreiteten Decken, umgeben von Schüsselchen mit Speisen, und feiern die Kirschblüten. Es regnet? Kein Problem, man spannt den durchsichtigen Plastikschirm auf, der die Blüten dem Blick nicht entzieht. Die Kirschblüte ist so kurz; sie ist vergänglich, und alles Vergängliche ist kostbar. Es will wahrgenommen, angestaunt, gefeiert und im Herzen bewahrt werden, wenn man von ihm Abschied nehmen muss.
Mono no aware ist ein Begriff aus der Literatur der Heian-Zeit und wurde im 18. Jahrhundert vom Gelehrten Motoori Norinaga als Teil seiner Lehre bekannt. Der Begriff ist vielschichtig und für westliche Menschen nicht leicht zu verstehen. Kurz gesagt bedeutet er das Bewusstsein der Vergänglichkeit alles Lebendigen und die Fähigkeit, seine Schönheit zu feiern, bevor sie stirbt.
Wir haben im westlichen Empfinden und deshalb in unserer Kultur nichts Vergleichbares. Unsere Melancholie ist eindimensional: sie ist dunkel, das Gemüt beschwerend, ist Traurigkeit und Trauern ohne das Leuchten, das in mono no aware aufscheint. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit ist in beiden Zuständen enthalten, aber in mono no aware schwingt immer die Freude mit, das so bald schon Sterbende auf dem Höhepunkt seiner Lebendigkeit sehen und wertschätzen zu dürfen.
Für Japaner ist Schönheit und die Freude an ihr untrennbar an die Vergänglichkeit gebunden. Gerade weil etwas nicht unsterblich ist, wird es für den Japaner kostbar. Noch trägt der Baum sein volles Laub, noch überzieht der Winter nicht das Land mit Kälte. Noch ist die Mutter nicht gestorben, noch habe ich, obwohl schon alt, die Kraft, einen Berg zu besteigen.
mono no aware ruft uns zu: Sei aufmerksam, verpasse das Leben nicht - die Bäume in voller Blüte, die verspielte Kindheit deiner bald schon erwachsenen Kinder, die kostbaren letzten Gespräche mit dem alten Vater. Und vergiss nicht: die Flüchtigkeit alles Seienden ist kein Grund für dunkle Schwere des Gemüts. mono no aware trägt bei aller Wehmut eine leise Freude in sich, in mono no aware leuchtet ein kleines Licht.
Und leuchtet weiter, wenn all das, was du gefeiert hast, vergangen ist.
4 Kommentare:
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Wunderbar. Danke!
AntwortenLöschenGrüße nach Darmstadt!
LöschenLiebe Margit, ich versuche mich gerade darin einen Song zu schreiben. Angeregt von dem blühenden Kirschbaum in meinem Garten bin ich bei der Recherche auf deine Zeilen gestossen. Sie sind wunderbar. Darf ich sie für meinen Song mit verwenden?
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Jetzt wüsste ich aber doch gern, welche/r Musiker/in mir da schreibt! Liebe Grüße
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