Mittwoch, 27. Dezember 2017

Raunächte und die durchlässige Zeit


"Was immer wir an diesen Festtagen tun - es kann zu Arbeit werden, oder wir verwandeln es in Spiel. Es liegt an uns. Solange wir nur an den Zweck denken, arbeiten wir. Aber wenn wir uns von der Bedeutung dessen, was wir tun, ergreifen lassen, spielen wir. Arbeit ist auf ein Ziel ausgerichtet, das außerhalb ihrer selbst liegt, aber Spiel hat sein Ziel in sich selbst. Wenn wir spielen oder singen, suchen wir keinen anderen Zweck als das Spielen oder Singen. Oder tanzen wir, um ein Ziel zu erreichen?

Die keltische Spiritualität spricht von "durchlässigen Orten", wo der Schleier zwischen dieser Welt und einer anderen durchscheinend ist. Es gibt auch "durchlässige Jahreszeiten", und jetzt ist eine von ihnen da. Können Sie in diesen Tagen das Große Geheimnis erspüren, die Bedeutung von allem jenseits eines sehr, sehr feinen Schleiers? Lasst uns das feiern: Lasst uns spielen! Nur wenn wir spielen, feiern wir wahrhaftig. Manche Feiern haben vielleicht einen weiteren Zweck, aber nur, wenn ihr Hauptzweck das Feiern um seiner selbst willen ist, bleiben sie bedeutsam. Wer feiert, spielt - aus keinem anderen Grund als dem, zu spielen." 

Bruder David Steindl-Rast


***

Spielen wir mit Fragen in den Raunächten, in denen der Schleier zwischen dieser Welt und der anderen sehr, sehr fein ist.

Welches Geheimnis bringt die Katze mit von ihren einsamen nächtlichen Pfaden?
Welche Botschaft hat die Schneeflocke für mich, die auf dem Fensterbrett schmilzt?
Wohin will mich der Zug tragen, der mit hell erleuchteten Fenstern unten durchs Tal fährt?
Wer ist es, der die Wipfel der Tannen bewegt, obwohl kein Wind geht?
Wie kann ich die Sterne leuchten sehen, wenn da scheinbar nur Wolken sind?

Weil es so viele wichtige Fragen gibt und jetzt die Zeit zum Spielen ist, schweigt mein Blog bis zum Ende der Raunächte. 

Feiert schön. Nicht "etwas". Einfach: feiern.

Samstag, 23. Dezember 2017

Frohe Weihnachten


Der Heilige Abend ist für mich etwas Besonderes. Da er dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, wird der Wechsel von Geschäftigkeit zu Stille nicht so spürbar sein. Und doch ist die Stille, die mit der Dämmerung kommt, am Heiligen Abend eine andere. In meiner Straße gehen Menschen mit verpackten Geschenken zu Besuchen, in den evangelischen Kirchen beginnen die Christvespern, an den Bäumen in den Wohnungen werden die Lichter entzündet. Um acht Uhr abends sind nur noch ein paar Hunde unterwegs, mit ihren Menschen an der Leine. 

Und dann kommt es, leise und sacht, dehnt sich aus, lässt sich nieder. Das, was so wenig Platz findet in unserem Alltag, bekommt jetzt seinen Raum. Die tiefe Stille. Das Heilige.

An Weihnachten wird ja zumeist das Kind besungen, aber ich erinnere hier an die Mutter, ohne die es kein Kind gegeben hätte, auch wenn die Weihnachtsgeschichte nur eine Metapher ist. Das großartige SWR Vokalensemble singt "Maria durch ein Dornwald ging".

Allen meinen Blogleserinnen und Bloglesern ein wunderschönes Weihnachtsfest!

Sonntag, 17. Dezember 2017

Ein paar Buchempfehlungen für Weihnachtsgeschenke


Falls Sie noch Weihnachtsgeschenke suchen sollten: Hier stelle ich ein paar Bücher vor, die ich in diesem Jahr gern gelesen oder wiedergelesen habe und die man nicht auf Bestseller-Listen findet.

Ilija Trojanow "Nach der Flucht", S. Fischer Verlag. Trojanow ist als Kind mit seiner Familie aus Bulgarien geflohen. Sehr persönlich erzählt er von seinen Erfahrungen als Geflüchteter und stellt fest: "Die Flucht wirkt fort, ein Leben lang." Meine Rezension in SWR 2 hier (klick)

Peter Handke "Gestern unterwegs", Verlag Jung und Jung. Die Journale von Peter Handke sind meine Lieblingsbücher, in denen ich immer wieder ein paar Zeilen lese. Handke ist ein Wahrnehmungs-Künstler, und wie er seine Wahrnehmungen Sprache werden lässt und dabei an jedem Wort, ja an jedem Buchstaben feilt, ist für mich als Autorin große Inspiration.

Klaus Merz "Helios Transport", Gedichte, Haimon Verlag. Genaue Beobachtungen, kluge Gedanken, reduzierte Sprache: Die Gedichte von Klaus Merz werden oft als Haiku bezeichnet, denn wir haben in Deutschland keine Tradition des kurzen Gedichts. Warum das so nicht stimmt, hören Sie in meiner Rezension in SWR 2 hier (klick)

Jean-Marc Ceci "Herr Origami", Hoffmann und Campe. Ein alter Origami-Künstler irgendwo in der Toscana, ein junger Uhrmacher, der eine Uhr konstruieren will, die alle möglichen Zeitmessungen abbilden soll: Jean-Marc Ceci hat ein Zen-Buch geschrieben, in dem nach dem Wesen der Zeit und der Erinnerung gefragt wird. Meine Rezension ist produziert, aber noch nicht gesendet. Ich versichere: Ein leises philosophisches Buch, anspruchsvoll und doch leicht zu lesen.


Colum McCann "Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?", Rowohlt Verlag. Colum McCann begleitet einen alten Mann in den letzten Stunden seines Lebens, und wie er das macht, ist große Literatur. Denn McCann lässt seine Figuren aus der Sprache entstehen und schaut ihnen zu, wie sie sich entwickeln. (Und das allein ist literarisches Schreiben - die Geschichte ist nicht so wichtig.) Wir wissen von Anfang an, dass der alte Mann ermordet werden wird, und doch ist dies kein Krimi. Ein Buch für Kenner und Liebhaber von Literatur! Meine Rezension in SWR 2 hier (klick)

Thomas Melle "Die Welt im Rücken", Rowohlt Berlin. Thomas Melle schreibt über seine manisch-depressive Erkrankung, und wie er das macht, ist für mich bewundernswert: Mit Klarheit und Distanz, ohne Schuldzuweisung (auch nicht an sich selbst) und doch so intensiv, dass es beim Lesen manchmal wehtut. Ein hartes, genaues Buch, das ich uneingeschränkt empfehle, denn es zeigt auch, dass Literatur imstande ist, im Chaos so etwas wie Struktur zu finden. Leider ist meine Rezension aus der Mediathek verschwunden. Aber es gibt andere Besprechungen im Web. Ist jetzt vielleicht nicht unbedingt als Weihnachtsgeschenk geeignet ...

... aber dies hier: Mariana Leky "Was man von hier aus sehen kann", Dumont Verlag. Wenn die alte Westerwälderin Selma von einem Okapi träumt, stirbt anschließend jemand im Dorf. Wer das nun sein wird und was bis dahin geschieht und auch später und überhaupt, erzählt Mariana Leky spielerisch und mit großer Sprach-Freude. Ein Buch voller Wärme, und ganz versteckt gibt es auch ein paar buddhistische Weisheiten. Nicht rezensiert, aber gern gelesen.

Und jetzt einen Tee machen, den Plätzchenteller neben das Sofa stellen, die Leselampe anknipsen und lesen.


Donnerstag, 14. Dezember 2017

Frau Irgang bäckt: köstliche Mini-Lebkuchen

Es sind die kleinen schwarzen Häufchen auf den Oblaten

Beste Weihnachts-Nascherei, nach einem Rezept meiner Freundin Dagmar:

100 gr Marzipanrohmasse (unbedingt in Bio-Qualität, geschmacklich lohnt sich das)
200 gr gemahlene Haselnusskerne
100 gr Rohrohrzucker
60 gr Preiselbeerkonfitüre
3 Eiweiß
2 TL Lebkuchengewürz
1 TL gemahlener Zimt
1 Messerspitze Hirschhornsalz
Backoblaten
80 gr Zartbitterkuvertüre und 80 gr dunkle Kuchenglasur

Marzipan klein schneiden, mit allen Zutaten außer der Schokolade mit dem Handrührer glatt rühren. Mit zwei Teelöffeln Häufchen auf Oblaten setzen. Bei ca. 180 Grad etwa 15 Minuten backen. Auskühlen lassen. Im Wasserbad Kuvertüre und Kuchenglasur schmelzen, die Lebkuchen kopfüber hineintauchen. Fest werden lassen.

Gut verstecken, sonst sind sie nächste Woche aufgegessen.


Montag, 4. Dezember 2017

Das magische Leben


"Wenn du Freiheit wählst, wird das Leben magisch. Das Leben, das du dann führst, ist eins, in dem das Selbst in verborgener Übereinkunft mit deiner Menschlichkeit ist. Das Selbst beginnt, mit deinem Leben zu harmonisieren, und dein Leben könnte sich auf eine Weise entwickeln, die du nie hättest vorhersehen können. Das Magische daran ist, dass sich das umso besser anfühlt, je mehr du loslässt. Je tiefer du in die Unsicherheit gehst, umso mehr bemerkst du, wie sicher und beschützend sie ist. Das, was du gerade verlassen hast, war unsicher. Die Menschen fühlen sich so elend, weil sie Sicherheit suchen in Dingen, die begrenzt sind, sich unablässig bewegen und auf unvorhersehbare Weise verändern."

Adyashanti

(In diese Richtung bewege ich mich jetzt mal. Damit Leben ins Leben kommt. Und die Magie wieder spürbar wird. Wo draußen doch alles in eisiger Kälte erstarrt ist, und solch eine Kälte - man muss da sehr aufmerksam sein! - gern leise und unbemerkt nach innen kriecht. Und da gehört sie nun wirklich nicht hin.)

Habt es alle schön warm!

Montag, 20. November 2017

Jetzt wieder bei Rowohlt: Mein allererstes Buch


Als der Rowohlt Verlag freundlich bei mir anfragte, ob man mein 1981 erschienenes Buch "Einfach mal ja sagen" in die neuen Reihe "repertoire", die erfolgreiche vergriffene Rowohlt-Bücher neu auflegt, mit aufnehmen dürfe, war meine erste Reaktion: Auf keinen Fall! Mein erstes Buch, vor siebenunddreißig Jahren geschrieben. Das ist doch nicht mehr relevant, zeitgemäß, interessant. Für mich nicht und deshalb für die Leser nicht.

Dann las ich das Buch noch mal. Und war verblüfft: Es war interessant, es war - trotz aller Zeitbezogenheit - zeitlos. Es war witzig, ich musste oft lachen. Ich mochte es.

Aus dem Klappentext: "'Man sucht mit zwanzig, mit dreißig weiß man, was man will', sagt Mama.' Hier erzählt eine Frau, der es umgekehrt ergeht und die es sich trotz Mama, trotz gerunzelter Brauen in sämtlichen Freundesgesichtern leistet, mit dreißig die achtbare, maßvoll kreative Karriere hochzuklappen und noch einmal suchen zu gehen; vor allem, zur eigenen Rundum-Unlust ja zu sagen - auszusteigen oder daneben zu steigen. Erst einmal reist sie ab: nach Griechenland, wo die Vernünftigen aus der Heimat ihr komisch-vernünftige Besuche abstatten. Aber letztlich spielt sich die Reise nicht auf der Landkarte ab."

Es ist eine GESCHICHTE. Kein Sachbuch, keine Autobiografie - reine Literatur. Einmal stand eine Leserin in München vor meiner Tür und wollte sich mit mir bei einem Tässchen Kaffee darüber unterhalten, dass sie Vassilios auch kennt, mit meiner Darstellung seiner Person aber nicht einverstanden sei. Fast verzweifelt war ich, wenn Bekannte ausriefen: "Aber deine Mutter ist doch ganz anders!" Oder, misstrauisch: "Wer ist denn Felix? Den hast du doch erfunden, oder?" So ist es. Alles und alle handelnden Personen mit Lust erfunden. (Ein bekannter Kollege erzählte mal, er habe einem seiner Ich-Erzähler einen Hund angedichtet. Bis heute würden die Zuhörer bei Lesungen ihn fragen: "Wie geht es denn Ihrem Hund?")

Meine Leser der Zen-Bücher müssen jetzt also ihren Lese-Modus umschalten. Aber die Grundaussage des Buches ist nicht erfunden, und weil die mir bis heute wichtig ist, habe ich der Veröffentlichung zugestimmt: "Wer seine Träume lebt, lässt sich nicht mehr einsperren. Träume brauchen Luft, um sich zu entfalten."

Die nun also 8. Auflage von "Einfach mal ja sagen" gibt es gedruckt (als print on demand, das erspart Rowohlt Lagerkosten) oder als e-book direkt bei Rowohlt: https://www.rowohlt.de/taschenbuch/margrit-irgang-einfach-mal-ja-sagen.html


Dienstag, 14. November 2017

Frau Irgang kocht: Kartoffelküchlein mit Avocado-Topping


Meine ersten sesshin machte ich bei einem japanischen Mönch, der erst vor Kurzem aus seinem Kloster in Japan nach Deutschland gekommen war. Er veranstaltete einmal im Monat ein zazenkai, das ist ein ganzer Tag mit Sitzen und Gehen im Schweigen, unterbrochen von einem kurzen Mittagessen. Jeder von uns brachte etwas Feines fürs Büfett mit. Wir luden also unsere Teller voll, setzten uns auf unsere Kissen, der sensei schlug die Hölzer zusammen, peng!, und sprach den Tischspruch. Den ich in voller Länge nicht mehr weiß, aber ein Satz verfolgt mich bis heute: "Wir essen nicht, um zu genießen, wir essen, um Erleuchtung zu erlangen." Der sensei lebte noch im Kloster-Modus und schlang sein Essen hinunter, klappte die Hölzer zusammen, peng!, und wir erhoben uns hungrig mit halbvollen Tellern. Wahlweise satt mit Magendrücken.

In meinen Seminaren darf das Essen ausdrücklich genossen werden. Gerochen, beguckt, geschmeckt. Ich selbst bin begeisterte Köchin und Esserin. Und es gibt für mich keine Trennung zwischen dem Aushöhlen einer Avocado, dem Zwiebelhacken und Kartoffelstampfen und dem Sitzen auf dem Kissen. Im zendo nennen wir es Meditation. In der Küche nennen wir es Kochen.

Eins meiner Lieblingsrezepte, schnell und ganz einfach. Und ganz einfach köstlich:

Für eine hungrige Person (also ich) oder als Imbiss für zwei:

Ca. 1 Pfund mehlig kochende Kartoffeln in der Schale kochen. Abkühlen lassen, pellen und in einer Schüssel zerdrücken.

1 reife Avocado entsteinen, zerdrücken und mit Zitronensaft beträufeln.

1 große Zwiebel fein hacken, in etwas Kokos- oder Rapsöl weich dünsten. 1 Esslöffel schwarze Senfsamen in die Pfanne geben, kurz mitbraten. Einen gehäuften Esslöffel der Masse über die Avocado geben. Den Rest mit ein wenig gemahlenem Kurkuma kurz in der Pfanne braten und über die Kartoffeln geben. Gut vermischen, kräftig salzen und pfeffern. Kleine Küchlein formen und in sehr wenig Öl in der Pfanne mehr erwärmen als braten (die Küchlein zerfallen bei zuviel Öl). Die Avocadomischung kräftig salzen und pfeffern. Jedes Küchlein mit einem Klacks des Toppings servieren.

Die Avocado-Mischung esse ich auch manchmal abends auf getoastetem Brot. 

 

Die Grundidee für dieses Rezept - ich habe die Gurkenpickles weggelassen - stammt aus dem ersten Buch meiner Lieblingsköchin. Ich kann ihre Kochbücher nur wärmstens empfehlen. Alles vegetarisch, vieles vegan, vieles mit kleiner Änderung glutenfrei zuzubereiten. Alles schmeckt großartig.

Anna Jones "a modern way to eat", Mosaik Verlag
  


Donnerstag, 9. November 2017

Novembermusik: Ola Gjeilo "Tundra"


Novembermusik.

Weil mir gerade so ist.

Und weil sie mich fliegen lässt, obwohl der Sommer vorbei ist.

Habt ein schönes Wochenende.


Montag, 6. November 2017

Wenn einer geht


Wenn einer geht - muss doch etwas bleiben? Von ihm, von ihr? Was bleibt? Und wo?

Ein lieber Freund ist gegangen. Und doch ist er da, hier, bei mir, in dem, was wir Erinnerung nennen. Er kommt mir entgegen in einem der schmalen Gänge im Biomarkt. Er beugt sich im Rietbergmuseum in Zürich neben mir über die Postkarten und wählt ein paar aus; andere als ich. Er spricht über das Singen von hohen Tönen und schickt mir per E-Mail den entscheidenden Satz für alle Sänger: "Also, verwurzeln wir uns!" Er erzählt mir in einem Rundfunkstudio von seiner Verehrung Albert Schweitzers. Er nimmt mich beim Wort, befragt meinen Satz, prüft die Genauigkeit meines Denkens. Um ihn ist klare Denkluft; Ungenauigkeit und Verschwommenheit hat da keinen Platz. Religion wird kritisch betrachtet. Aber er sagt den Satz: "Was mich überzeugt, ist das Konzept der Achtsamkeit."

Ohne zu leben ist er lebendig und wird erst sterben, wenn ich sterbe. Er ist lebendig in den vielen Menschen, denen er begegnet ist, privat und beruflich, auf je eigene Weise, in einer jeweils anderen Rolle. Und wird erst sterben, wenn sie sterben. Er ist lebendig für meine Freundin, die seine Frau ist. Ist, nicht war.

Gute, Reise, lieber U. Ich verabschiede Dich mit einem Gedicht von Thich Nhât Hanh, den Du geschätzt hast.

Heute morgen wirst du gehn

In den kommenden Tagen wird
der silbrige Himmel erfüllt sein
vom Brausen der Phönixflügel
in unergründlichen Höhen

Wellen von weißem Silber
verbergen die Pfeiler des Stegs
Sonne ruft die Vogeljungen
aus ihrem Schlaf des Gestern
in die Zeit des Jetzt

damit sie dir Lebewohl sagen können
wenn du heimkehrst
an den Ort der langen Flüsse
und weiten Meere

Thich Nhât Hanh

(Übersetzung: Margrit Irgang) 


Dienstag, 31. Oktober 2017

Winterreise

 

Winterreise


Drängender pfeifen die Züge
die Drachen steigen
der Baum macht sich frei

Morgens lesen die Vögel
in den Blättern es ist Zeit
zu gehn

Margrit Irgang







Aus diesem schönen Buch, das 12 Gedichte enthält, für jeden Monat eins; leider ist es nur noch antiquarisch erhältlich: Margrit Irgang "Leuchtende Stille". Verlag Herder. ISBN 978-3-451307324

Montag, 16. Oktober 2017

Die Kunst, Entscheidungen nicht zu treffen


Eine meiner größten Schwächen ist es, eine Entscheidung zu treffen. Dies oder Jenes? Hier oder Dort? Was ist richtig? Was ist nachhaltig? Was wird auch noch in einem Monat richtig sein, in einem Jahr? All diese Möglichkeiten! Die so viel Unsicherheiten mit sich bringen.

Es gab ein paar wichtige Entscheidungen zu treffen. Ich saß da und dachte nach. So viele Alternativen. Keine überzeugte mich. Aus dem Nachdenken wurde ein Grübeln. Was erzähle ich in meinen Seminaren immer? "Du bist nicht deine Gedanken, du bist der weite Raum, in dem sie aufsteigen." Ich war kein Raum mehr, ich war eine Besenkammer. Die Gedanken hatten mich im Klammergriff.

Aha.

Ich stand auf, öffnete meinen Vorratsschrank und holte Mehl, Sonnenblumenkerne und Backpulver heraus. Quark und Eier aus dem Kühlschrank. Die Rührschüssel. Das Handrührgerät. Brötchenbacken ist eine fabelhafte Möglichkeit, die innere Besenkammer zu verlassen. Irgendwann duftete es in der Wohnung; ich hatte inzwischen die verwelkten Blätter auf dem Balkon aufgefegt und die Bettwäsche gewechselt.

Die Brötchen schmeckten super. Vorher hatte ich aber zum Telefon gegriffen und drei Telefonate erledigt. Alles klar. Alles entschieden.

Ich war einfach aus dem Weg gegangen. Einen Schritt beiseite, damit die Energie, die alles und auch uns durchströmt, von meiner Grübelei nicht blockiert wird. Diese Energie des Absoluten, der schon viele Bezeichnungen gegeben wurden (deshalb benenne ich sie nicht), bringt uns in Einklang mit der Wahrheit des Augenblicks. Wir fließen wieder mit, wir sind kein Felsblock mehr, an dem der Fluss abprallt. Wir wissen auf einmal, was zu tun ist. Ganz selbstverständlich. Und wir tun es.

Ich nenne es die Kunst, Entscheidungen nicht treffen.


Freitag, 25. August 2017

documenta 14 in Kassel


Máret Ánne Sara "Pile o' Sápmi"

Ich hatte das große Glück, zusammen mit zwei anderen Frauen die documenta in Begleitung einer lieben Freundin, die Kunsthistorikerin ist, zu besuchen. Sie hat eine kleine, feine Vorauswahl aus der Überfülle getroffen, und ich bin von allem, was sie ausgewählt hat, vollkommen begeistert. Ich will niemanden überfordern, deshalb hier nur drei der für mich stärksten Eindrücke:

Máret Ánne Sara "Pile o' Sápmi". 2007 ordnete die norwegische Regierung die Keulung von Rentierherden an, die dem Volk der Sámi gehörten. Mit diesem Gesetz nahm die Regierung den Sámi die Lebensgrundlage. Der junge Rentierzüchter Jovsset Ánte Sara verklagte den norwegischen Staat und bekam Recht: die Tötung war eine Verletzung der Eigentumsrechte gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention. Jovssets Schwester Máret aber ist Künstlerin; sie schuf aus den Schädeln der zwangsweise getöteten Rentiere einen Vorhang: ein unglaublich ästhetisches und gleichzeitig berührendes Mahnmal, das die Brutalität staatlicher Willkür zeigt. (Die norwegische Regierung hat übrigens gegen das Urteil Berufung eingelegt.)

Máret Ánne Sara "Porzellankette aus der Knochenasche von Rentieren


Britta Marakatt-Labba. Ebenfalls eine Sámi-Künstlerin, die die Geschichte der Sámi, in der Spiritualität und Alltag einander durchdringen, mit textilen Mitteln erzählt: Auf einem Leinenstreifen von 39 cm x 23,50 m finden wir Wildschweine und Rentiere, Bäume, Wolken, Wälder und Menschen - gestickt, gedruckt und appliziert, aus Wolle, Leinen und Seidengaze. Eine ganz feine subtile Arbeit, die man von Nahem ansehen muss. Mein Foto zeigt nur einen winzigen Ausschnitt.

Britta Marakatt-Labba

Romuald Karmakar "Byzantion" (Agni Parthene). Der Filmemacher Romuald Karmakar hat den Hymnus an die Gottesmutter in der griechischen und slawischen Version singen lassen. Wenn mich meine Begleiterinnen nicht aufgefordert hätten, weiterzugehen, wäre ich die letzten Stunden dort liegen geblieben. Ein Tempel inmitten des documenta-Wirbels.



Freitag, 11. August 2017

Steh in deinen eigenen Schuhen! Über den Umgang mit Missbrauch in Spiritualität und Therapie.


Vor einigen Tagen hat mich wieder so eine erschütternde Meldung aus einer spirituellen Schule erreicht: Acht langjährige Schülerinnen und Schüler des bekannten tibetischen Meisters Sogyal Rinpoche - Autor des großartigen Buches "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben" - haben ihrem Lehrer einen ausführlichen Brief geschrieben, in dem sie ihm den Spiegel über seine Verhaltensweisen vorhalten. Es wird berichtet von Schlägen, Tritten und Bloßstellungen, von sexuellen Beziehungen zu Schülerinnen und einem von der Sangha bezahlten "unersättlichen" Lebensstil. Der Brief ist sachlich, frei von persönlichen Emotionen. Wer ihn lesen will, findet ihn und die völlig unzureichende Antwort von Sogyal auf der Online-Seite der Zeitschrift "Buddhismus aktuell" in deutscher Übersetzung hier (klick).

Mir geht es nicht um diesen speziellen Fall, sondern um das Prinzip. Ich frage mich: Warum haben es diese Schülerinnen und Schüler, die zum Teil seit 20 und 30 Jahren in der Rigpa-Schule sind, nicht früher geschafft, Konsequenzen aus dem zu ziehen, was sie da anscheinend täglich beobachten?

Meister, Lehrer aller Art, Priester und Therapeuten sind Autoritäten. Wir wenden uns an sie, weil sie mehr wissen als wir und uns etwas lehren können. Solche Menschen haben Charisma, sie ziehen uns an, und vielleicht verehren wir sie für ihre Weisheit, Klarheit und Energie. Das ist alles verständlich und völlig in Ordnung, solange der Lehrer/Meister/Priester/Therapeut seine Macht nicht zu seinem eigenen Vorteil missbraucht. 

Zu erkennen, dass ein Missbrauch vorliegt, ist aber gerade in spirituellen, religiösen und therapeutischen Kreisen gar nicht so einfach. Dort gibt es nämlich erwünschte Verhaltensweisen (die wir, um beliebt zu sein, schnell begreifen und annehmen) und einen eigenen Sprach-Kodex. Im Fall des Dharma wird gern gesprochen von "zornvollem Mitgefühl", was jede Demütigung des Lehrers zu rechtfertigen scheint, und wenn der verunsicherte Schüler seine Zweifel zum Ausdruck bringt, ist das "unrechte Rede". In der Therapie wird gern vom "Widerstand" gesprochen. Wie unterscheiden wir also, ob der Lehrer/Therapeut uns zu unserem Besten mit unserer Gewohnheitsenergie konfrontiert - oder ob er seine Macht missbraucht, weil er selbst narzisstisch, egoistisch oder zutiefst gestört ist?

Adyashanti zitiert oft einen Ausspruch seiner Lehrerin, die zu sagen pflegte: "Stand in your own shoes". Steh in deinen eigenen Schuhen! Die Schuhe von anderen sind uns fast immer zu klein, zu groß, zu weit, zu eng. Wir kämen nicht auf die Idee, in solchen Schuhen weite Wege zurückzulegen. Schuhe müssen passen. Und niemand, auch nicht die beste Schuhverkäuferin, kann uns sagen, ob der Schuh wirklich passt. Das wissen nur wir selbst.

Aus meiner eigenen leidvollen Erfahrung mit spirituellen Lehrern und Therapeuten möchte ich Euch ans Herz legen: Bitte gebt Eure klare Wahrnehmung und Eure eigene Verantwortung niemals auf! Wenn wir zulassen, dass unser Geist von Worten, Regeln oder einem bestimmten Sprachgebrauch eingenebelt wird, verlieren wir den Kontakt zu unserem eigenen tief inneren Wissen. Dieses Wissen teilt sich mit durch unseren Körper. Bitte haltet immer wieder inne und spürt in Euch hinein. Krampft sich der Magen zusammen, rast das Herz, wird die Kehle eng, verspannen sich meine Muskeln? Das sind Warnsignale. 


Drei einfache Fragen sollten wir uns immer wieder stellen:

Ist
1. DIES
2. JETZT
3. FÜR MICH
stimmig?

"Passt" hier alles zusammen, für mich, in diesem Moment, in diesem Stadium meiner Entwicklung? Nichts zu klein und eng, nichts zu groß? Und wenn es nicht stimmig ist, nicht passt, in ruhiger und durchaus respektvoller Weise aufstehen und gehen. Dann muss man niemanden beschuldigen, muss keine Auseinandersetzung führen und ist sich auch bewusst, dass die eigene Stimmigkeit nicht die Stimmigkeit der anderen sein muss. 

Aber vielleicht doch. Wo immer ein Kind oder ein Jugendlicher missbraucht wurde, hat es mindestens einen Menschen gegeben, der etwas spürte/ahnte/sah und nicht in seinen eigenen Schuhen stand. Das möchte ich nicht unerwähnt lassen: Die Verantwortung für uns selbst ist nicht zu trennen von der Verantwortung für das große Ganze. In den eigenen Schuhen können wir sicher stehen; deshalb haben wir die Pflicht, aufzustehen und unsere Stimme zu erheben - gegen Missbrauch in jeder Form.

Mittwoch, 9. August 2017

"Walk with me". Film über Thich Nhât Hanh



Die Realisierung dieses Films habe ich mit einer (sehr kleinen) Spende unterstützt; im März hatte er Premiere auf dem Filmfestival in Austin, Texas:

Walk with me

Der Film über die monastische Gemeinschaft von Plum Village und die Lehre von Thich Nhât Hanh

Die Filmemacher Marc Francis und Max Pugh haben drei Jahre lang die Nonnen und Mönche des Intersein-Ordens begleitet, in Südfrankreich und in den USA. Sie wollten eine visuelle Sprache finden für die Praxis der Gemeinschaft - Frieden, Achtsamkeit, das Leben im gegenwärtigen Augenblick.

Wer die Praxis von Plum Village in ihrer "originalen" Form kennenlernen möchte, sollte ihn anschauen. In Freiburg läuft er gerade; ich hoffe, am Wochenende die Zeit zu finden, ihn anzuschauen.

Sonntag, 6. August 2017

Hochsommertage bei Buddha im Bayerischen Wald


Um 5.30 Uhr ruft die Glocke zur Morgen-Meditation. Vielleicht werde ich heute im Zendo mit den anderen sitzen. Vielleicht barfuss durch die taugetränkten Wiesen gehen. Später pflücke ich Wildkräuter im Bio-Garten und lerne von Helga, was man alles essen kann: Melde, Borretsch, Kapuzinerkresse, Nachtkerzenblüten, Hahnentritt, Löwenzahn.

Gehmeditation im Wald, und der Wald summt. Ein Hase flitzt über die Wiese. Die Stille ist tief und heiß. Der Alltag ist weit entfernt. Der Geist kommt zur Ruhe. Meine Tage sind erfüllt von Glocken und Gongs, Kräutern und Blumen, sorgfältig zubereitetem Essen und Putzeimer und Besen für die mir zugeteilte Hausarbeit. Es gibt keine Trennung zwischen dem Sitzen im Zendo, dem Pflücken von Wachsbohnen und dem Putzen der Toiletten. Wenn der Geist nicht unterscheidet in Mögen und Nichtmögen, ist auf einmal alles leicht und weit, weil alles eins ist: sich unablässig entfaltend im Einen, im Ganzen.


Anfang der 1990er Jahre lernte ich Helga und Karl Riedl, die das Intersein-Zentrum in Hohenau leiten, in Plum Village kennen; seitdem sind sie liebe Freunde von mir. Wieder einmal ist mir bewusst geworden, dass dieses Haus mehr ist als ein Meditations-Haus: Es ist, ganz im Sinn von Thich Nhât Hanh, eine Lebens-Schule, die Achtsamkeit in all ihren Aspekten lehrt. Hier ist nichts dem Zufall überlassen, alles ist bewusst ausgewählt und gestaltet: die Nahrungsmittel sind biologisch, die Ernährung überwiegend vegan. Im Haus natürliche Hölzer, Leinenvorhänge, Thays Kalligrafien und ein Hauch japanischer Ästhetik.

Wer ein Retreat besuchen möchte oder einfach nur eine Zeitlang mit der Sangha mitleben möchte, ist im Intersein-Zentrum immer willkommen. Und: Man darf seine Kinder mitbringen!


Hier ist die Homepage: www.intersein-zentrum.de  Und herzerwärmend die ausführliche Vorstellung des Zentrums durch David und Vanessa auf www.sanghabuild.org

Montag, 24. Juli 2017

"Und da weißt du auf einmal: das war es."


Erinnerung

von Rainer Maria Rilke

Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.

Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder,
an Bilder, an die Gewänder
wiederverlorener Fraun.

Und da weißt du auf einmal: das war es.
Du erhebst dich, und vor dir steht
eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.


Das ist einer der schönsten Texte über das Leben im Augenblick, den ich kenne, obwohl oder weil er gar nicht davon spricht. Rilke spricht vielmehr vom Versäumen des Augenblicks. Dieses Gedicht zu lesen tut mir etwas weh. Wie viele Augenblicke habe ich mit der Erwartung von etwas Großem vergeudet? Und die Größe dessen, was ist, nicht gesehen?

Ich ziehe mich ein wenig zurück zur Sommer-Meditation. In der kleinen Pause, die hier im Blog entsteht, spricht das Gedicht von Rilke. Nicht vergessen: Dies ist es! 

Dies ist es schon.

Mittwoch, 19. Juli 2017

Das Tomaten-Monster


Im April habe ich im Gartencenter ein Cocktail-Tomaten-Pflänzchen gekauft. 20 cm hoch für 2,50 EUR. Ich dachte, das sieht hübsch aus auf meinem Balkon: Zwischen blauer Hortensie, weißer Rose und Lavendel eine Handvoll leuchtend roter Tomätchen.

Das Pflänzchen misst inzwischen 1,70 m, und weil die Bambusstange, die es stützt, nicht größer ist, hat es sich entschlossen, in die Breite zu wachsen. Die unteren Zweige haben einen Durchmesser von ca. 3 cm, die Sache hält. Der dicke rechte Zweig kriecht am Boden entlang (die Balkonseite ist nicht mehr begehbar), der linke erkundet interessiert die Schlafzimmertür. Er hat schon bemerkt, dass er sich auf der Klinke gemütlich ablegen kann; aus den Blüten werden bald Früchte sprießen, da will er sich rechtzeitig eine feste Unterlage schaffen.

Sobald ich den Balkon betrete, beginnen sie zu rufen. Sie rufen sehr rot und nachdrücklich. Hier! schreien einige, nimm uns! Nein, uns! rufen andere, nimm uns! Einige springen mir in die Hand, wenn ich sie nur angucke. Die Nachbarn, mitfühlende Abnehmer, sind in Urlaub.

Kleiner Auszug aus dem Koch- und Speiseplan der letzten Wochen: Tomatensalat,Tomate mit Mozzarella und Basilikum, Pasta mit Tomatensauce, Bruschetta mit Tomaten, Tomaten-Käse-Toast, Tomaten-Cassoulet.

Man könnte sagen, ich habe da einen Kauf getätigt, der sich gelohnt hat. Ein echtes Schnäppchen.

Könnte man sagen.

(Wer auch von Tomaten heimgesucht wird, lese die Kommentare - klick auf "Kommentare" unten. Da werden Rezepte geteilt.)
 

Mittwoch, 12. Juli 2017

Adyashanti "Jesus, der Zenmeister"


Ich schätze den amerikanischen Zen-Lehrer Adyashanti sehr; von meinen Retreats mit ihm kam ich jedes Mal inspiriert und erfüllt von innerer Weite zurück. Deshalb habe ich dem Herder Verlag sein Buch "Resurrecting Jesus" zur Übersetzung vorgeschlagen. Das Lektorat hat auch sofort zugesagt, und jetzt ist "Jesus, der Zenmeister" in meiner Übertragung aus dem Amerikanischen erschienen. Ich finde, sowohl Christen als auch Buddhisten sollten dieses Buch lesen, denn es übersteigt jede religiöse Form.

Weil er in seiner Zen-Praxis etwas vermisste, wandte sich Adyashanti den christlichen Mystikern zu. Sie wiesen ihn auf Jesus hin, und in den Evangelien fand er, was er vermisst hatte: die Liebe. Und sein eigenes tief gehendes Erwachen befähigte ihn, in Jesus den erwachten Geist zu erkennen.

"In der westlichen Kultur haben die meisten von uns sich angewöhnt, Jesus als die Verkörperung der höchsten Form von Ethik und Moral zu sehen - er ist der gute Hirte, wir sind die Herde, und er zeigt uns den Weg. Das ist der Jesus der Kirche; die Kirchen sind sehr angetan von Jesus als ethischem und moralischem Priester. Das macht Sinn, denn die ethische und moralische Dimension ist Teil dessen, was jede Religion am Leben hält, was sie entwickelt und in die Kultur hinein vermittelt. Aber wenn das alles ist, was wir in der Jesus-Geschichte sehen, werden wir blind für die darunterliegende Transzendenz, für das Strahlen der Präsenz von Jesus. Ohne dieses transzendente Strahlen wird Jesus nur eine weitere Figur in der langen Geschichte moralischer und ethischer Propheten."

Adyashanti lädt uns stattdessen ein, die Jesus-Geschichte mythologisch zu lesen und jeden ihrer Aspekte auf uns selbst zu beziehen: "Wir beginnen zu fragen: 'Was meinen die Metaphern für mich?' Wenn wir Jesus nicht nur als historische Figur ansehen, die geboren wurde und gelebt hat, auf der Erde wandelte, lehrte, seine Botschaft verkündete und schließlich am Kreuz starb, sondern Jesus auch als eine zeitlose lebendige Gegenwart betrachten, als eine Metapher für die Ewigkeit in uns selbst, können wir beginnen, den inneren Raum zu betreten, in dem wir die Söhne und Töchter von Gott werden."

Adyashanti befasst sich mit der Bedeutung der jungfräulichen Geburt, den Versuchungen, den Dämonen, den Gleichnissen und erzählt, was es nach seiner eigenen Erfahrung mit der Verklärung auf sich hat. Und alles, auch die Kreuzigung, hat mit uns selbst zu tun.

Meine Lese-Empfehlung für alle, die nach einer Spiritualität jenseits der Riten und Dogmen von Religionen suchen: Adyashanti "Jesus, der Zenmeister", aus dem Amerikanischen von Margrit Irgang, Herder Verlag, ISBN 9-783-451-376894.

(Ich muss das jetzt als Werbung kennzeichnen - neues Gesetz.)

Ich habe den Klappentext, der (wie der Titel des Buches) nicht von mir ist, erst jetzt gelesen und möchte ihn korrigieren: Adya ist sehr früh zum Zen gekommen, und in der christlichen Sonntagsschule, die er gleich wieder verließ, hat er sich gelangweilt. 

Sonntag, 9. Juli 2017

Ein Sommertag

 

 Mit dem Frühzug auf den Berg. Die meisten Menschen schlafen noch. Ein paar Segler machen ihre Boote klar. Leise plätschern die Wellen ans Ufer, eine Möwe schreit. Der Geruch nach frisch geschnittenem Gras. Den Weg von Aha nach Schluchsee habe ich fast für mich allein. Ein großes Pfauenauge begleitet mich eine Weile. Ein Windchen weht. Später Kartoffelsuppe. Noch später Eiskaffee.

SOMMER!

Freitag, 7. Juli 2017

Sommernachts-Musik: Eriks Esenvalds



"Only in Sleep" des lettischen Komponisten Eriks Esenvalds, gesungen vom Trinity College Choir, Cambridge.

Am besten hört man es zwischen 22 und 24 Uhr, wenn die Welt ganz still geworden ist. Und der eigene Geist nicht mehr schwätzt. 

Dann ereignet sich die Magie der Musik von Esenvalds: Sie öffnet einen Raum, in dem wir schwerelos werden. Kleine Astronauten im All. 

Und unter uns die Erde ist blau.

Dienstag, 27. Juni 2017

Schnipp Schnapp II



Immer noch 32°.
Also noch was schnippeln.

Und kalten Marajuca-Orangen-APFELsaft trinken.

Schnipp Schnapp I findet man hier.


Mittwoch, 21. Juni 2017

Sara Maitland "Das Buch der Stille"


"Ich sitze auf der Eingangsstufe meines kleinen Hauses mit einer Tasse Kaffee und schaue ins Tal hinunter auf die außergewöhnliche Aussicht auf Nichts. Das ist einfach wunderbar. Virginia Woolf hat uns in ihrem berühmten Essay die Einsicht vermittelt, dass jede Autorin ein Zimmer für sich allein braucht. Was meiner Meinung nach aber längst nicht genügt. Ich brauche ein ganzes Moor für mich allein. Oder, wie eine pikierte, doch offensichtlich einfühlsame Freundin kommentierte, als sie zu Besuch kam, um sich meine neueste Marotte anzuschauen: "Das gibt es nur bei dir, Sara - zwanzig Meilen Aussicht auf praktisch rein gar nichts!" Tatsächlich ist da aber gar nicht "nichts" - da sind die Wolkengebilde und die verschiedenen Bewegungen von Schilf und Gräsern, da gibt es Heide und Farn im Wind und wechselnde Farben, nicht nur im Jahresverlauf, sondern auch im Verlauf eines Tages, während sich Sonne und Wolken verändern und weiterwandern ..."

Sara Maitland, britische Roman- und Sachbuchautorin, hat ihr Haus in der Stille gefunden. Und kann nun endlich ein Buch schreiben über ihre jahrzehntelange Reise in die Stille und durch die Stille. Sie erzählt von Wanderungen im schottischen Hochmoor, Aufenthalten auf Inseln und der absoluten Stille in der Wüste. Sie erzählt, wie und wo Eremiten, Weltumsegler und Polarforscher die Stille gefunden haben und spricht über die Freuden und Gefahren von Stille. Was für ein fundiertes, gut recherchiertes Buch. Aber Stille ist ja eins meiner Lieblings-Themen, und ich vermisse hier einen wesentlichen Aspekt von Stille.

Für Sara Maitland ist Stille von äußeren Bedingungen abhängig; deshalb sucht sie entlegene Orte auf, und Stille, Schweigen und Alleinsein sind für sie nicht zu trennen. Sie betet drei Stunden am Tag, liest, denkt nach. Sogar auf ihrer Wüstenreise saß sie, abgesondert von ihrer Gruppe, in einer Felsspalte und las. Wer jemals eine Woche in einem Schweige-Retreat verbracht hat, weiß, dass der größte Lärm nicht außen, sondern innen ist: das unablässige Kommentieren, Beurteilen, Abwägen, Hoffen und Befürchten, das im Geist abläuft. Mit Verblüffung habe ich gesehen, dass dies für Sara Maitland kein Thema ist, im Gegenteil: Sie sucht die Stille auch, um nachdenken zu können und "eine bessere Autorin" zu werden.

Einmal vergleicht sie die Stille der christlichen Mystiker mit jener der Buddhisten. Der Christ, sagt sie, stelle seine Beziehung zu Gott durch seine Persönlichkeit her, die immer erhalten bleibe; der Buddhist dagegen wolle sich im Nirvana oder der Erleuchtung auflösen. Dieses falsche Verständnis von Buddhismus begegnet mir häufig. Der Mensch mit seiner "Persönlichkeit", also seiner eigenen Ausdrucksform des Göttlichen, löst sich natürlich nicht auf; wer Zen und andere buddhistische Meditationsformen praktiziert, kann erkennen, dass er Nirvana und erleuchtetes Sein ist. Der Urgrund des Seins ist Stille - deshalb ist das tiefste Wesen des Menschen die Stille. Um das erkennen zu können, muss man nicht unbedingt allein sein; gerade eine Gruppe schweigender Menschen in einem Retreat kann ungemein tragend sein und die Stille und somit die Erfahrung vertiefen. Letztendlich ist nicht einmal Schweigen eine Bedingung: Wenn man die Praxis der Alltags-Meditation gelernt hat, steigen auch die Worte aus der Stille auf und sind von Stille durchtränkt.

Mir scheint, es ist genau diese Stille, die Sara Maitland im Tiefsten sucht, aber sie ist ihr noch nicht ganz geheuer. Denn sie hat schon bemerkt, dass das Eintauchen in die Stille sich nicht gut verträgt mit dem Erzählen von Geschichten, die einen "Plot" verlangen, eine Dramaturgie brauchen und die Existenz von Anfang und Ende suggerieren. Sie erkennt: "Ich möchte Stille schreiben", weiß aber noch nicht, wie das gehen soll.

Auf jeden Fall ist dies ein kundiges, eloquent formuliertes Buch über die Stille, geradezu ein Standardwerk zum Thema. Ich finde es schön, dass der kleine und feine Verlag edition steinrich das Buch jetzt auf Deutsch herausgebracht hat. Es ist wie ein Spiegel, in dem wir unsere eigene Erfahrung von Stille überprüfen können. Sara Maitland "Das Buch der Stille", übersetzt von Karin Petersen, edition steinrich. 

(Wegen Rechtsunsicherheit als Werbung gekennzeichnet.)

For my English speaking readers: Sara Maitland "A Book of Silence" has been published by Granta Books.

Donnerstag, 1. Juni 2017

Eivor "On my way to somewhere"


Sie ist so jung. Und der Text ihres Liedes ist so sehr Anfang, Aufbruch. Alles ist noch möglich, auch das Scheitern. Alles ist offen. Die Fragen sind noch nicht durch Antworten zum Schweigen gebracht.

Sie erinnert mich an mich, als ich noch jünger war als sie und nur für die Musik lebte. Nächte hindurch mit Freunden sang und spielte. Auftrat, wo immer sich eine Möglichkeit bot. Mit dem Chor oder der Gruppe. Eine große Zeit; nie wieder wird es so sein. Ich bin froh, sie erlebt zu haben.

Eivor Pálsdóttir von den Färöern. Inselmusik. Nördlich und ganz klar. Gut für heiße Sommernächte.


Montag, 29. Mai 2017

Schnipp schnapp


Kleine kreative Lockerungsübung.
Oder: Die Dichterin hat hitzefrei.

Hier erzählt Taija von der Poesiekiste, die sie in München mit Schnippel-Poesie füllt.


Und hier ist die Urmutter aller poetischen Schnipsel-Collagen. Ein Wunderbuch: Herta Müller "Vater telefoniert mit den Fliegen". Erschienen bei Hanser. Es gibt noch ein zweites: "Die blassen Herren mit den Mokkatassen". Ebenfalls bei Hanser.

Herta Müller hat einen eigenen Schrank für ihre Schnipsel, die in die Tausende gehen. Ich habe nur einen Schuhkarton, und auch der ist nur halb voll. Für eine Nicht-Nobelpreisträgerin finde ich das ausreichend.

Donnerstag, 25. Mai 2017

Die Welt schickt Botschaften

Eine Wolke? Keine Wolke?

"Das Universum versucht ständig, uns zu erreichen und uns etwas zu lehren oder uns etwas zu sagen, aber wir weisen es dauernd zurück. Wir sind nicht interessiert daran, die Symbole oder die Zeichen, die auftauchen oder uns geschehen, wahrzunehmen. Aber jetzt können wir die Symbole genau und direkt erfahren. (...) Die Basis der Meditationspraxis ist das Interesse und die Aufmerksamkeit für jede Aktivität, in die wir eingebunden sind, unser ganzes Leben lang, in jedem einzelnen Moment. Sobald wir aufhören, die Welt abzulehnen, stürzt sich die Welt auf uns. Symbole drängen sich uns geradezu auf. Wahrnehmungen und Erkenntnisse, die alle Arten von Wirklichkeiten betreffen, nehmen Gestalt an. Symbole sind überall, rechts und links und vorne und hinten." Chögyam Trungpa

Diese Aussagen des tibetischen Tulkus Chögyam Trungpa stammen aus Vorträgen, die er in den USA für Künstler gehalten hat. Nun muss man wissen, dass "Dharma Art", wie es in der von ihm gegründeten Shambhala Schule genannt wird, eine Lebenskunst ist, die alles umfasst: "... wie man kommuniziert, wie man spricht, wie man kocht, wie man seine Kleidung und die Nahrungsmittel im Supermarkt auswählt - jedes kleine Detail." Dieselbe Auffassung also wie mein "Zen als Lebenskunst". Um dies zu praktizieren, brauchen wir Aufmerksamkeit für jeden einzelnen Moment, völlige Wachheit für das, was sich gerade zeigt. Sobald wir uns in dem Geschwätz unseres Geistes verlieren, ist die Verbindung mit der Lebendigkeit und Fülle des Augenblicks zerrissen.

Aber vielleicht wollt Ihr ja nicht nur Lebenskünstler sein, sondern in einem Medium künstlerische Aussagen machen. Kein Widerspruch, sagt Trungpa. Aus dieser Wachheit und Klarheit entstehe mühelos auch die klassische Kunst - das Bild, die Fotografie, die Kalligrafie, das Gedicht, das Blumengesteck. "Dann beginnen wir, mit der Wahrnehmung des Objekts einfach zu sein, ohne es zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Das ist eine Art von Stillstand, in der Kommentare und Bemerkungen unwichtig werden; wichtig ist allein das Sehen der Dinge, wie sie sind." 

Sind das nicht zwei Aussagen, die sich widersprechen, die "Dinge, wie sie sind" und das Thema "Symbol"? Für uns Zen-Praktizierende (die wir Wahrnehmungs-Experten sind) ist das kein Widerspruch. Wenn sich im alten Griechenland zwei Freunde für längere Zeit trennen mussten, brachen sie beim Abschied einen Tonring in der Mitte durch. Jeder Freund bekam eine Hälfte dieses symbolon.. Bei der Wiederbegegnung nach vielen Jahren dienten die beiden Hälften, die zusammenpassten, als Erkennungszeichen: Ja, er ist es wirklich, mein Freund. Ein Symbol ist also laut Wikipedia "eine Sache oder ein Zeichen, das für etwas anderes steht".

In der Zen-Tradition gibt es diese bekannte Aussage: Wenn der Schüler mit der Praxis beginnt, sind die Berge einfach nur Berge. Nach langer Zeit der Übung erkennt er plötzlich, dass die Berge gar keine Berge sind. Übt er aber nach dieser Erkenntnis immer weiter, kommt der Tag, an dem die Berge wieder Berge sind.

Die "Dinge" der Welt - der Berg, die Ameise, der Apfel, der Geliebte - sind zugleich sie selbst und ein Symbol. Zuerst betrachten wir als Künstler ihre äußere Form und Beschaffenheit: das zarte Gelb des Apfels, das in kleinen grüngelben Strichen hinüberführt in eine Art rostiges Rot. Die Felsspalte hoch oben am Berg, durch die, wie wir nach einer Weile des geduldigen Schauens erkennen, ein Rinnsal fließt. Und dann - wir wissen nicht, wie und warum das geschieht - öffnet sich auf einmal die Form und schickt uns eine Botschaft in Gestalt einer fühlbaren Energie oder einer plötzlichen Erkenntnis in unserem Geist. Wir sehen: der Berg ist viel mehr als ein Berg, der Apfel viel mehr als seine äußere Form. Das ist der Moment, in dem wir zum Pinsel, zum Bleistift, zur Kamera greifen. Wir haben wirklich gesehen - und die Welt hat sich geöffnet.

Dann kehren wir zurück in unsere Alltagswelt mit unserem Bild, dem Gedicht, der Erkenntnis, und der Apfel ist wieder ein Apfel, der Berg ist wieder ein Berg. Aber wir sind nicht mehr dieselben. Wir haben das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen gesehen, haben eine Botschaft von einer anderen Wirklichkeit empfangen, die sich durch die Dinge der Welt unablässig ausspricht. Vorher hatten wir nur die eine Hälfte des symbolon, die äußere Gestalt der Dinge. Jetzt haben wir die zweite Hälfte gefunden, und sie passt.

Wie wäre es, jeden Tag oder jeden zweiten oder dritten eine Stunde dem wirklich tiefen Sehen zu widmen? Mit Bleistift oder Kamera oder einfach mit weit offenen Augen und Ohren. Sehen, ohne das Gesehene zu kommentieren, zu beurteilen oder einzuordnen. Lauschen. Spüren. Und auf die Botschaft warten, die ganz bestimmt kommen wird.

Diesen ganzen warmen Sommer lang. Wie wäre das?

Mittwoch, 17. Mai 2017

Frau Irgang kocht. Und hat ein Schüsselerlebnis.



Selbst in altehrwürdigen Seminarhäusern heißt so etwas heute "Buddha Bowl". Zu dieser Inflation des Wortes Buddha sag ich jetzt mal nix.

Aber ich sage, was heute in meiner Schüssel war:

* Grüner Spargel
* Avocado
* Tomaten
* Rote Bete
* Quinoa (warm)
* Gebratener Halloumi, mit Mohn bestreut


Dazu ein geniales Dressing aus Frühlingszwiebeln, 1 TL Honig, 1 TL Harissa, etwas Zitrone, 1 EL Olivenöl. Mit Minze garnieren.

Das Dressing und die BOWL wurden inspiriert von der Köchin Anna Jones, die ich nicht genug loben kann. Ihre beiden Kochbücher "a modern way to eat" und "a modern way to cook" sind bei mir täglich im Einsatz. Mehr hier auf ihrer Homepage.

Übrigens gibt es beide Kochbücher auch auf Deutsch unter denselben (englischen) Titeln.

Freitag, 12. Mai 2017

Joachim Kaiser +11. 5. 2017

Quelle: Wikipedia

Seltsam, vor ein paar Tagen dachte ich an ihn. Ich hatte lange nichts von ihm gelesen. Es war immer stiller um ihn geworden, aber andererseits bekam ich so vieles aus seinem Umkreis und Wirken nicht mehr mit, seit ich München verlassen hatte.

Er war für viele Künstler - Musiker, Sänger, Schriftsteller und Theatermenschen - der eine große, der größte Kritiker Deutschlands. Universal gebildet, hochintelligent, begabt mit einer Formulierungskunst, die sehr oft die der Autoren, die er kritisch begleitete, übertraf.

Wir begegneten einander, als ich 1985 auf Einladung von Marcel Reich-Ranicki eine Geschichte beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt las und Joachim Kaiser in der Jury saß. Die Gefechte zwischen "Kaiser und Reich" waren legendär. Die beiden waren Antipoden - der eine ein Schwertschwinger, der andere ein Florettfechter. Nun hatte ich das Glück, dass Reich-Ranicki meine Geschichte nicht mochte, was er begründete mit dem für einen Kritiker eigentlich völlig unmöglichen Satz "Ich mag keine Kindergeschichten". Das war das Stichwort für den Auftritt von Joachim Kaiser. Er analysierte meine Sprache und meine Form mit der hochsensiblen Wahrnehmung eines Musikers für Zwischentöne (meine Arbeit damals bestand fast ausschließlich aus Zwischentönen, die Worte waren eher Gerüste für das Dazwischen ...), und als am letzten Tag jeder Juror seinen Vorschlag für den Bachmann-Preis vortrug, nannte er meinen Namen. Als Einziger. Es gab aber noch zwei andere Preise. Für den zweiten Preis nannte er - mich. Und als es dann zum dritten Preis kam, und er anhob: "Man muss es dreimal sagen ...", tobte das Auditorium, und es schlossen sich ihm tatsächlich zwei andere Juroren an.

Ich bekam keinen Preis. Es war mir gleichgültig. Diese ganze unsägliche Veranstaltung, bei der es nicht um die Literatur ging (und wohl bis heute nicht geht), sondern um Selbstdarstellung von Autoren und Kritikern, hätte ich am liebsten am ersten Tag verlassen, wenn es Kaiser nicht gegeben hätte. Weil da einer saß, der die Literatur liebte, wirklich liebte, und deshalb litt, wenn etwas danebengegangen war, und sehr, sehr scharf werden konnte, wenn er hohle Formulierungen hörte oder einen Autor eitel fand (er, der selbst nicht ohne Eitelkeit war). Und weil einer, endlich, meine Arbeit verstanden hatte. Nachdem alles vorbei war, kam er auf mich zu und stand unter Strom, wie immer damals. "Die verstehen alle nichts von Literatur", sagte er. "Gefällt es Ihnen hier? Ich finde es furchtbar." Und: "Ich wusste, dass Sie den Preis nicht bekommen würden, aber ich wollte unbedingt auf Sie aufmerksam machen."

Das war ihm gelungen. Kurze Zeit später bekam ich den Bayerischen Literaturpreis und den Rom-Preis Villa Massimo, aber da begann ich schon - das wusste ich damals noch nicht -, mich von der Welt der Eitelkeiten des Literaturbetriebs abzuwenden.

Joachim Kaiser ist am 11. Mai 2017 gestorben. Er hat mir einen Weg eröffnet. Ich werde diese eine und einzige Begegnung mit ihm nie vergessen.

Montag, 8. Mai 2017

Ein Same des Absoluten


Das Absolute arbeitet mit nichts -
es gibt keine Lehrveranstaltung, kein Material.
Versuche, ein weißes Blatt Papier zu sein.
Sei ein Fleckchen Erde, auf dem nichts wächst,
aber etwas gepflanzt werden könnte,
vielleicht ein Same des Absoluten.

Rumi

The Absolute works with nothing.
The workshop, the materials
are what does not exist.
Try to be a sheet of paper with nothing on it.
Be a spot of ground where nothing is growing,
where something might be planted,
a seed, possibly, from the Absolute.

Rumi

Photo credit David Nyblack

Dienstag, 2. Mai 2017

Sei weit, sei weit!


Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gib dich, gib nach,
er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.

Rainer Maria Rilke
 

Sonntag, 30. April 2017

Wolf Singer, Matthieu Ricard "Jenseits des Selbst"


 Hier meine Rezension zum Nachhören (klick)

Der Neurowissenschaftler Wolf Singer und der buddhistische Mönch Matthieu Ricard haben sich acht Jahre lang immer wieder zu Gesprächen getroffen. Matthieu Ricard, der offizielle Französisch-Übersetzer des Dalai Lama, war früher Molekularbiologe, und deshalb begegnen sich zwei Wissenschaftler auf Augenhöhe.

Sie sprechen über Freiheit und Liebe, Wahrnehmung und Bewusstsein, über Achtsamkeit und die Frage, ob es ein Selbst gibt oder nicht. Was der Buddhismus bekanntermaßen verneint: Es gebe keine Entität namens Selbst, nur einen kontinuierlichen Strom von Erfahrungen. Der Neurowissenschaftler sieht das natürlich anders: Ein starkes Selbst sei notwendig, um in der Welt zu bestehen. Der Mönch kontert: Nicht ein starkes Selbst sei notwendig, sondern ein starker Geist. In der Frage nach dem Selbst kommen sie zu keiner Übereinstimmung, was auch nicht zu erwarten war. Der Urgrund des Seins oder die "primäre Ursache", wie Matthieu Ricard es nennt, entzieht sich der Untersuchung durch die Wissenschaft. Noch zumindest.

Sie kommen oft von weit entfernten Positionen aufeinander zu, sind keineswegs immer einer Meinung (wie erfrischend!), lauschen aber dem anderen mit Aufmerksamkeit und echtem Interesse. Und nachdem sie die Begriffe des anderen geklärt haben, finden sie manchmal überraschende Übereinstimmungen.

Ein anspruchsvolles, bereicherndes Buch. Nicht nur für Wissenschaftler und Meditierende. Große Lese-Empfehlung von mir.


Montag, 17. April 2017

Friedvolle Ostern


Was sind das für Zeiten, in denen die Osterbotschaften der Kirchen nicht frohe Botschaften sind. Sondern von Krieg, Gewalt und Terror sprechen. 

Thich Nhât Hanh sagt uns immer wieder, dass die Welt ein Spiegel ist für unseren Geist: "Ihr könnt erst Frieden erschaffen, wenn ihr selbst friedvoll seid."

So höre ich das wunderbare Lied "Verleih und Frieden gnädiglich" von Felix Mendelssohn, das mein Chor gerade für das nächste Konzert probt: Als Erinnerung daran, den tiefen Frieden zu berühren, der das wahre Wesen meines Seins ist - des göttlichen Seins, von dem wir alle Teil sind. Vielleicht erschafft dann mein friedvoller Geist in der winzigen Ecke der Welt, die ich bewohne, ein wenig Gewaltfreiheit.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern meines Blogs ein friedvolles Osterfest.

Donnerstag, 13. April 2017

Ratlose Tauben, ein beleidigter Kater und ich, die über unterschiedliche Prioritäten nachdenkt

Die restlichen Federn sind vom Winde verweht

Der Kater hat eine Taube gefleddert.

Ich habe das gar nicht mitbekommen. Es gab ein paar dumpfe Schläge auf dem Dach, und da sprang er schon auf den Balkon, der Kater, und legte mir ein großzüges Maulvoll Federn vor die Füße. Dann bemerkte ich die große Stille über mir. Das jährliche Balzgegurre auf dem Dachfirst war verstummt. Kein Nestbau mehr unter der Solaranlage, dort, wo kein Mensch hinkommt, ohne in Gefahr zu sein, sich den Hals zu brechen. Die Federn vor meinen Füßen waren Taubenfedern.

Zwei Stunden später entdeckte ich das Taubenpaar auf dem Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses. Die eine sah an der rechten Seite aus wie gerupft. Beide wirkten irgendwie ratlos. Und waren sehr sehr still. Ihr Taubenuniversum war aus dem Lot geraten. Sie hatten doch nur einen sicheren Platz für ihren Nachwuchs gesucht; den Platz kannten sie seit Jahren, der war doch immer gut gewesen. Feinde, hatten sie gelernt, kommen von oben, in Form von Habicht, Bussard, Uhu. Welche Taube rechnet mit einer Katze auf dem Dach! Vielleicht müssen jetzt im Taubenhirn ganz neue neuronale Schaltungen gelegt werden. Man kennt das ja von Vögeln, die als Gemeinschaft das übernehmen, was einer der Ihren gelernt hat, wie Rupert Sheldrake in seinen Forschungen zu den morphogenetischen Feldern so eindrücklich zeigt. Also wird vielleicht in die Hirne aller künftigen Tauben einprogrammiert: Nistet nicht auf Dächern, da lauert der Feind. Und der Kater hätte einen wertvollen Beitrag geleistet zur Verminderung der Taubenpopulation in Städten.

Ich habe mit dem bösen Kater geschimpft. Da war er sehr beleidigt; er hatte doch nur getan, was Katzen eben so tun, und mir sogar diese schönen Taubenfedern zum Geschenk gemacht. Wenn er beleidigt ist, klappert er mit dem Gebiss und gibt ein Widermaunzen mit einem Knurren als Unterton. Ich schimpfe. Er knurrmaunzt. Er hat immer den letzten Ton, weil ich irgendwann aufgebe.

Ich sah dann das Taubenpaar wegfliegen. Die Gerupfte flog etwas taumelnd, aber sie flog. Und seitdem ist keine Taube mehr zu sehen in meinem Viertel.

Der gute Kater. Der mir so eine herrliche Stille erschaffen hat.

(Übrigens: Mal auf den kleinen Button "Kommentare" unten klicken. Da steht auch Lesenswertes. Man kann auch selbst Gedanken dort hinterlassen. Nur mal so als Anregung ...)

Dienstag, 4. April 2017

Künstler der Stille #5: Agnes Martin und die atmenden Bilder


Kunstmuseum Winterthur im Frühjahr 1992. Ich hatte ein Bild aus einer Ausstellung in meiner örtlichen Zeitung gesehen und war in die Schweiz gefahren, um diese unglaublichen Bilder im Original zu sehen. Es waren kleine Arbeiten auf Papier, Linien, Gitter, ein Hauch von Farbe im Hintergrund. Ich war die einzige Besucherin. Ich blieb drei Stunden und war glücklich. Das kann ich nicht erklären: Dieses tiefe Glücksgefühl, das die Bilder von Agnes Martin immer wieder in mir auslösen. Es ist ein Glück, das aus Leichtigkeit, Licht, Weite und Freiheit besteht. Aus Alleinsein. Aus Einverstandensein mit dem, was ist. In diesen Bildern bin ich zu Hause.

Ich kaufte den schmalen Katalog mit ein paar Schriften von einer, die das Wort nicht mochte und nicht brauchte. Jemand sagte mir, sie habe in den letzten fünfzig Jahren ihres Lebens keine Zeitung mehr gelesen. Das verstand ich sofort. Sie brauchte keine Neuigkeiten. Sie hatte das Sein, den Urgrund, aus dem sie schöpfte. Sie wusste so viel. Alles, was wirklich wichtig ist, wusste sie.

Ihr Kunsthändler und Vertrauter der letzten Jahre Arne Glimcher sagte: "The painting is a key to the art within you." Diese Bilder sind Meditationsobjekte. Sie öffnen uns für den Künstler in uns selbst. Also für das, was wir wirklich sind.

"Our inspirations come as a surprise to us. Following them our lives are fresh and unpredictable. But if in disobedience we imitate the lives of others or follow concepts or precepts our lives will be dull and unsatisfying and predictable. You can only be happy by being on the path of your unfolding potential. The path will be revealed to you by a request to your own mind.

Inspiration is a command. While you have a choice that is not inspiration. If a decision is required that is not inspiration and you should not do anything by decision. It is simply a waste of time. Only actions carried out in obedience to inspiration are effective.

To discover the conscious mind in a world where intellect is held to be valuable requires solitude - quite a lot of solitude. We have been very strenuously conditioned against solitude. To be alone is considered to be a grievous and dangerous condition. 

Best things in life happen when you are alone. All revelations."  Agnes Martin

"Unsere Eingebungen kommen zu uns als Überraschung. Folgen wir ihnen, ist unser Leben frisch und unvorhersehbar. Aber wenn wir nicht gehorchen und das Leben von anderen nachahmen oder Konzepten und Geboten folgen, wird unser Leben langweilig, unbefriedigend und berechenbar sein. Du kannst nur glücklich sein, wenn du auf dem Weg deines sich entfaltenden Potenzials bist. Der Weg wird dir gezeigt, wenn du deinen eigenen Geist darum bittest.

Eingebung ist ein Befehl. Wenn du eine Wahl hast, ist das nicht Eingebung. Wenn eine Entscheidung verlangt wird, ist das nicht Eingebung, und du solltest nichts auf Grund einer Entscheidung tun. Das ist einfach Zeitverschwendung. Nur Handlungen, die der Eingebung gehorchen, sind wirkungsvoll.

Den bewussten Geist in einer Welt zu entdecken, die den Intellekt für wertvoll hält, erfordert Alleinsein - ziemlich viel Alleinsein. Wir sind sehr energisch gegen das Alleinsein erzogen worden. Allein zu sein wird als schmerzhafter und gefährlicher Zustand betrachtet.

Die besten Dinge im Leben geschehen, wenn du allein bist. Alle Offenbarungen." Agnes Martin


Hier ein Video aus ihren letzten Lebensjahren.

Mittwoch, 22. März 2017

Das Netz des Indra


"'Es gibt für jeden Tag zwei Pläne - meinen und den des Geheimnisses', sagen die Ureinwohner von Grönland, die Inuit. Wie alle indigenen Völker wissen sie noch, was auch wir einst wussten: Wir sind so viel größer als das, was wir im Allgemeinen für unser Ich halten. Wir sind verbunden mit der Sonne, dem Regen, dem Wind und dem Schnee. Wir teilen diese Welt mit den Tieren, den Pflanzen und allen anderen Menschen. Wir sind eingebettet in eine Ganzheit, und alles in dieser Ganzheit lebt, atmet, webt an dem großen Netz, das wir Leben nennen, und wirkt auf uns ein.

Wie kommen wir dazu, zu glauben, wir könnten unabhängig von diesem großen Zusammenhang unsere kleinen egoistischen Pläne machen, die sich gefälligst auch zu erfüllen haben? Woher nehmen wir unsere Arroganz, uns zu beklagen, wenn diese Pläne entschieden durchkreuzt werden?

In Hinduismus und Buddhismus gibt es ein schönes Bild für die Verbundenheit alles Seienden. In diesen Traditionen wird erzählt, Gott Indra habe ein Netz geknüpft und jeder Knoten darin sei ein in viele Facetten geschliffenes Juwel. Wenn nun in einem Juwel eine Bewegung stattfindet, spiegeln alle anderen Juwelen diese Bewegung wider, werden von der Bewegung, die sie aufgenommen haben, verändert, und ihr verändertes Sein wird wiederum von allen anderen Juwelen gespiegelt. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze und jedes Mineral - sagt die Tradition - ist ein solches Juwel. Wenn also in einem Menschen eine Bewegung stattfindet, wird sie von den Menschen in seiner Umgebung aufgefangen und weitergespiegelt."





Aus dem Buch : Margrit Irgang "Die Kostbarkeit des Augenblicks. Was der Tod für das Leben lehrt", Kreuz Verlag, ISBN 978-3-451-61303-6