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Eine Wolke? Keine Wolke? |
"Das Universum versucht ständig, uns zu erreichen und uns etwas zu lehren oder uns etwas zu sagen, aber wir weisen es dauernd zurück. Wir sind nicht interessiert daran, die Symbole oder die Zeichen, die auftauchen oder uns geschehen, wahrzunehmen. Aber jetzt können wir die Symbole genau und direkt erfahren. (...) Die Basis der Meditationspraxis ist das Interesse und die Aufmerksamkeit für jede Aktivität, in die wir eingebunden sind, unser ganzes Leben lang, in jedem einzelnen Moment. Sobald wir aufhören, die Welt abzulehnen, stürzt sich die Welt auf uns. Symbole drängen sich uns geradezu auf. Wahrnehmungen und Erkenntnisse, die alle Arten von Wirklichkeiten betreffen, nehmen Gestalt an. Symbole sind überall, rechts und links und vorne und hinten." Chögyam Trungpa
Diese Aussagen des tibetischen Tulkus Chögyam Trungpa stammen aus Vorträgen, die er in den USA für Künstler gehalten hat. Nun muss man wissen, dass "Dharma Art", wie es in der von ihm gegründeten Shambhala Schule genannt wird, eine Lebenskunst ist, die alles umfasst:
"... wie man kommuniziert, wie man spricht, wie man kocht, wie man seine Kleidung und die Nahrungsmittel im Supermarkt auswählt - jedes kleine Detail." Dieselbe Auffassung also wie mein "Zen als Lebenskunst". Um dies zu praktizieren, brauchen wir Aufmerksamkeit für jeden einzelnen Moment, völlige Wachheit für das, was sich gerade zeigt. Sobald wir uns in dem Geschwätz unseres Geistes verlieren, ist die Verbindung mit der Lebendigkeit und Fülle des Augenblicks zerrissen.
Aber vielleicht wollt Ihr ja nicht nur Lebenskünstler sein, sondern in einem Medium künstlerische Aussagen machen. Kein Widerspruch, sagt Trungpa. Aus dieser Wachheit und Klarheit entstehe mühelos auch die klassische Kunst - das Bild, die Fotografie, die Kalligrafie, das Gedicht, das Blumengesteck.
"Dann beginnen wir, mit der Wahrnehmung des Objekts einfach zu sein, ohne es zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Das ist eine Art von Stillstand, in der Kommentare und Bemerkungen unwichtig werden; wichtig ist allein das Sehen der Dinge, wie sie sind."
Sind das nicht zwei Aussagen, die sich widersprechen, die "Dinge, wie sie sind" und das Thema "Symbol"?
Für uns Zen-Praktizierende (die wir Wahrnehmungs-Experten sind) ist das kein Widerspruch. Wenn sich im alten Griechenland zwei Freunde für längere Zeit trennen mussten, brachen sie beim Abschied einen Tonring in der Mitte durch
. Jeder Freund bekam eine Hälfte dieses
symbolon.. Bei der Wiederbegegnung nach vielen Jahren dienten die beiden Hälften, die zusammenpassten, als Erkennungszeichen: Ja, er ist es wirklich, mein Freund. Ein Symbol ist also laut Wikipedia "eine Sache oder ein Zeichen, das für etwas anderes steht".
In der Zen-Tradition gibt es diese bekannte Aussage: Wenn der Schüler mit der Praxis beginnt, sind die Berge einfach nur Berge. Nach langer Zeit der Übung erkennt er plötzlich, dass die Berge gar keine Berge sind. Übt er aber nach dieser Erkenntnis immer weiter, kommt der Tag, an dem die Berge wieder Berge sind.
Die "Dinge" der Welt - der Berg, die Ameise, der Apfel, der Geliebte - sind zugleich sie selbst und ein Symbol. Zuerst betrachten wir als Künstler ihre äußere Form und Beschaffenheit: das zarte Gelb des Apfels, das in kleinen grüngelben Strichen hinüberführt in eine Art rostiges Rot. Die Felsspalte hoch oben am Berg, durch die, wie wir nach einer Weile des geduldigen Schauens erkennen, ein Rinnsal fließt. Und dann - wir wissen nicht, wie und warum das geschieht - öffnet sich auf einmal die Form und schickt uns eine Botschaft in Gestalt einer fühlbaren Energie oder einer plötzlichen Erkenntnis in unserem Geist. Wir sehen: der Berg ist viel mehr als ein Berg, der Apfel viel mehr als seine äußere Form. Das ist der Moment, in dem wir zum Pinsel, zum Bleistift, zur Kamera greifen. Wir haben wirklich
gesehen - und die Welt hat sich geöffnet.
Dann kehren wir zurück in unsere Alltagswelt mit unserem Bild, dem Gedicht, der Erkenntnis, und der Apfel ist wieder ein Apfel, der Berg ist wieder ein Berg. Aber wir sind nicht mehr dieselben. Wir haben das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen gesehen, haben eine Botschaft von einer anderen Wirklichkeit empfangen, die sich durch die Dinge der Welt unablässig ausspricht. Vorher hatten wir nur die eine Hälfte des
symbolon, die äußere Gestalt der Dinge. Jetzt haben wir die zweite Hälfte gefunden, und sie passt.
Wie wäre es, jeden Tag oder jeden zweiten oder dritten eine Stunde dem wirklich tiefen Sehen zu widmen? Mit Bleistift oder Kamera oder einfach mit weit offenen Augen und Ohren. Sehen, ohne das Gesehene zu kommentieren, zu beurteilen oder einzuordnen. Lauschen. Spüren. Und auf die Botschaft warten, die ganz bestimmt kommen wird.
Diesen ganzen warmen Sommer lang. Wie wäre das?