Freitag, 22. November 2013

Eckhart Tolle: "Jetzt!"


Ein wunderbares Buch, das wahrscheinlich schon jeder kennt, der meinen Blog liest - ich stelle es trotzdem vor. Eckhart Tolle gehört keiner "Schule" an, keiner Religion, keiner wie immer gearteteten spirituellen Richtung. Dennoch hat er, wie er sagt, von etlichen Zen-Meistern gelernt: "alle waren Katzen". Wenn das kein verwandter Geist ist!

Besonders gefällt mir sein Ansatz, unseren gesammelten Schmerz als "Schmerzkörper" zu bezeichnen, als "unsichtbares Wesen mit seiner eigenen Persönlichkeit", als "psychischen Schmarotzer". Wer einmal überraschend mit der Wut eines anderen (oder der eigenen ...) konfrontiert wurde, wird bestätigen: "Alles kann ihn aktivieren, besonders dann, wenn er mit einem Schmerzmuster aus deiner Vergangenheit in Resonanz geht. Er kann sich als Verärgerung ausdrücken, als Ungeduld, finstere Stimmung, als Wunsch zu verletzen, als Wut, Depression, als Bedürfnis nach Drama in deiner Beziehung und so weiter. Greife ihn dir in dem Moment, wo er aus seinem Ruhezustand erwacht."

Dasselbe sagt das Zen: Sei auf der Hut. Beobachte genau, was in dir vorgeht, und bemerke jedes Gefühl, jeden Gedanken bereits im Entstehen, um bewusst zu bleiben und Gefühl und Gedanken nicht blind zu folgen. Haben Gefühl und Gedanke erst ein Eigenleben gewonnen, bist du ganz in ihrer Hand und verlierst jede Kontrolle.

Nachdem so viel von Schmerz die Rede war, hier noch ein "schönes" Zitat: "Sage ja zum Leben - und schau, wie das Leben plötzlich beginnt, für dich zu arbeiten anstatt gegen dich."

Eckhart Tolle "Jetzt!", aus dem Amerikanischen von Christina Bolam und Marianne Savita Nentwig, Kamphausen Verlag

Montag, 18. November 2013

Der philosophische Kater über: Interesse


"Was macht sie da? Schreibt sie was? Was schreibt sie denn? Schreibt sie über mich? Oh, der Bleistift ist hübsch. Der rollt so schön übern Schreibtisch.

Menschen glauben immer, wir Katzen seien neugierig. Nein, nein. Wir sind interessiert! Warum sollten wir neugierig sein? Ist nicht alles immer wieder anders, also neu? Ich spiele immer mit demselben Faden, klappere immer wieder mit dem Schlüsselbund, der so einladend an der Tür baumelt, und immer wieder schimpft sie deswegen mit mir. Aber jedes Mal ist ein neues Mal. Die Menschen grübeln dauernd über Vergangenes nach und leben so selten in der Gegenwart. Und wenn sie mal auftauchen aus ihren Grübeleien, sind sie gierig nach Neuem, anstatt einfach das anzuschauen, was schon immer da war. Der Faden. Der Schlüsselbund. Ihre Finger, die über die Tasten hüpfen. Oh, jetzt ist der Bleistift vom Schreibtisch gefallen!

Ich finde das Leben wahnsinnig interessant."

Samstag, 9. November 2013

Das Wort zum Samstag


Dein heilender Einfluss ist nicht von deinem Tun abhängig, sondern von deinem Sein. Wer dir begegnet, wird von deiner Gegenwärtigkeit und von dem Frieden berührt, den du ausstrahlst, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Wenn du völlig gegenwärtig bist, hast du nicht mehr das Bedürfnis, auf das unbewusste Verhalten anderer zu reagieren, du verleihst ihm keine Realität mehr. Daran zerbricht der Kreislauf von Aktion und Reaktion. Tiere, Bäume und Blumen werden deinen Frieden spüren und ihn erwidern. 

Du lehrst durch dein Sein. Du wirst zum "Licht der Welt". Du befreist die Welt von Unbewusstheit.

Wer du bist, ist die wesentliche Lehre. Durch dein Sein verwandelst du die Welt mehr als durch dein Reden und durch dein Tun.

Eckhart Tolle

Samstag, 2. November 2013

Die Noch-nicht-Rose


Noch einmal hat mein Rosenstrauch eine Knospe ausgetrieben. Eine pralle, fest gefüllte, aufbruchsbereite Kapsel. Drinnen die komplett ausgebildete Möglichkeit einer Rosenblüte. Es brauchte gar nicht viel, um die Blüte zum Blühen zu bringen: Ein wenig Licht, ein wenig Wärme, Schneelosigkeit, Nachtfrostabwesenheit.

Wird sie es schaffen, die Knospe, zur letzten Rose des Jahres zu werden?

Ich habe noch ein paar Knospen in mir, zum Platzen gefüllt mit komplett ausgeformten Möglichkeiten. Es brauchte gar nicht viel, um die Knospen zum Blühen zu bringen ...

Dienstag, 29. Oktober 2013

Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan: "Songs of the Wanderers"


Am rechten Bühnenrand steht ein Mönch und meditiert. Er wird dort eineinhalb Stunden bewegungslos stehenbleiben, während langsam goldener Reis auf ihn hernieder rieselt. Reis auch auf dem Bühnenboden. Männer und Frauen waten durch die Körner, gestützt auf riesige knotige Äste, an deren Enden Glöckchen hängen. Der Reis wird zum Fluss, der Fluss wird zur Zeit, ständig sich verändernd und doch immer gleich. Einmal geht ein tropischer Regenschauer aus Reis hernieder, es prasselt, die Tropfen springen, die Menschen tanzen im Regen. Um die Füße des Mönchs sammelt sich langsam der Reis wie in einer Sanduhr. Die Zeit rieselt weiter, doch der Mönch ist jenseits von ihr. Er verweilt am Ort des Nicht-Denkens und Nicht-Reagierens.

Entfesselte Bravorufe, stehende Ovationen. Auf der Bühne verbeugt sich der taiwanesische Choreograf Lin Hwai-Min, ein kleiner, ganz großer Künstler.


Er war auf den Spuren des Buddha nach Bodhgaya gereist und saß, wie einst Prinz Siddhartha, bevor er der Buddha wurde, unter einem Bodhi-Baum. "I opened my eyes and sunlight, emanating from somewhere near the top of the stupa and filtering through the branches, fell directly onto my forehead. My heart filled with joy and I felt a quietude that I had never experienced." Zurück in Taipeh, meditierte er täglich mit den Mitgliedern seiner Tanzkompanie und schuf das Stück "Songs of the Wanderers", "ein Stück darüber, wie man Askese praktiziert, über die Sanftheit des Flusses und die Suche nach Frieden".

Ich durfte Lin Hwai-Min und seine wunderbare Kompanie erleben, im Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau bei Dresden. Eines meiner großen Theater-Erlebnisse.

Die DVD der Produktion gibt es zum Beispiel bei amazon.

Montag, 7. Oktober 2013

Was ist Stille?


Als ich Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom war, kam das Ensemble Modern zu einem Konzert in die Villa. Unter anderem war ein Stück von John Cage mit dem Titel 4'33" angekündigt. Der Pianist setzte sich an den Flügel und legte die Hände auf die Oberschenkel, vom Scheitel bis zur Schuhspitze Konzentration. Im Saal wurde es allmählich still, das Rascheln der Programmhefte versiegte, ein letzter Huster war zu hören. Wir warteten. Der Pianist saß am Flügel.

Wir warteten.

Der Pianist saß am Flügel.

Erste Unruhe entstand. Ein paar Füße scharrten. Die Programmhefte knisterten wieder. Jemand flüsterte. Der Pianist saß am Flügel, voll und ganz konzentriert. Er saß vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang. Dann stand er auf, verbeugte sich vor dem verblüfften Publikum und ging ab.

John Cage, der sich intensiv mit Zen befasst hat, begab sich einst in ein schalltotes Studio, um herauszufinden, was Stille ist. Dort machte er die Erfahrung, dass es Stille im Sinn der Abwesenheit von Geräuschen nicht gibt: In dem schalltoten Raum war John Cage mit den Klängen konfrontiert, die sein eigener Körper unaufhörlich produzierte. Er hörte seinen Magen kollern, sein Blut in den Ohren rauschen. John Cage kam zu dem Schluss: "Stille sind all jene Klänge, die wir nicht beabsichtigen."

Um seinen Zuhörern das Erlebnis der Stille zugänglich zu machen, komponierte er das Stück 4'33'', in dem der Pianist keinen einzigen Ton spielt. Die Zuhörer aber hören nicht nichts, sondern ziemlich viel. Sie hören ihr Herz schlagen, das Blut kreisen, den Darm kullern. Was also hören die Zuhörer, wenn sie diesem Stück lauschen? Geräusche? Klänge? Sich selbst? Nein, sagt John Cage: Sie hören die Stille, denn "Stille ist der Zustand der Absichtslosigkeit".

Stille ist nicht die Abwesenheit von Geräusch, sondern die Abwesenheit einer persönlichen Absicht. Stille ist deshalb nicht dasselbe wie Pause, denn in der Pause warte ich auf eine Fortsetzung des soeben Gehörten. Stille ist für John Cage ein geistiger Zustand: der Zustand des Nicht-Wissens, des Nicht-Verlangens, des Verweilens im Augenblick. In dem Moment, in dem unser Geist nicht mit Planen, Hoffen, Wünschen und Ängstigen befasst ist, ist Stille anwesend - unabhängig von jedem äußeren Geräusch.

(Mein Seminar zum Thema Stille im Waldhof Freiburg Ende Oktober ist ausgebucht; wir haben eine Warteliste. Ich weise deshalb jetzt schon auf mein Seminar im Kloster Heiligkreuztal vom 15. - 17. November hin. Hier gibt es mehr Informationen.

Montag, 30. September 2013

Sei dir selbst eine Lampe!


"Als Buddha Shakyamuni starb, baten seine Mönche ihn um ein letztes Wort, um einen Hinweis, wo sie nach seinem Tod die Lehre finden könnten. Buddha Shakyamuni soll geantwortet haben: 'Seid euch selbst eine Lampe.'

Ein Künstler des Lebens also zündet sein Lämpchen an, schultert sein (inzwischen sehr leichtes) Bündel und wandert durch seine Tage, unbekümmert um das Wetter oder die Meinung anderer Menschen über ihn. Sein Licht mag bescheiden sein, vielleicht ist es nur der Schein einer funzeligen Taschenlampe. Na und, sagt der Künstler des Lebens, man muss dankbar sein für alles, was man hat. Immerhin reicht der Schein noch aus zu sehen, wohin ich meine Füße setze. So ein Boden kann nämlich tückisch sein, voller Wurzelwerk, unter Laub verborgen; voller unvermuteter Risse im scheinbar festen Asphalt. Und jenseits des Lämpchenscheins kann es sehr dunkel sein, jeder von uns weiß das: sehr, sehr dunkel. Deshalb haben wir volles Verständnis dafür, dass Goethe auf seinem Sterbebett 'mehr Licht' verlangte. Wir sind vielleicht nicht fähig, den 'Faust' zu schreiben, aber wir praktizieren Zen und wissen: Wir können lange darauf warten, dass die Welt oder ein anderer Mensch uns leuchtet. Das einzig verlässliche Licht ist in uns selbst.

Deshalb ist ein Künstler des Lebens ein freier Mensch."

Aus: Margrit Irgang "Wunderbare Unvollkommenheit", Herder Verlag, ISBN 978-3-451-06281-0, € 9,95

Samstag, 21. September 2013

Sue Hubbell, die Bienen und die Traurigkeit

 

Sue Hubbell ist dreiundvierzig, als ihre Ehe zerbricht. Erst kurz zuvor ist das Akademikerpaar aufs Land gezogen; jetzt bleibt sie zurück auf ihrer Farm in Missouri, allein mit einem Hund, einem Kater und dreihundert Bienenstöcken.  "Ich habe gelernt, dass ein Baum Platz zum Wachsen braucht, dass im Januar unten am Bach Kojoten singen, dass ich nur dann einen Nagel in eine Eiche schlagen darf, wenn sie belaubt ist, dass Bienen mehr vom Honigmachen verstehen als ich, dass Liebe zu Traurigkeit werden kann und dass es mehr Fragen als Antworten gibt."

Drei Jahre braucht sie, um die Trennung zu überwinden. Es gelingt ihr erst, als sie bereit ist, mit wachen Sinnen wahrzunehmen, was sie umgibt: Der einbeinige Sumpffrosch in der Scheune, dem sie eigenhändig Fliegen fängt; die braungoldene Spinne, die sich in der Ecke über dem Ofen häutet. Ihren Lebensunterhalt verdient Sue Hubbell mit dem Verkauf von Honig. Im Herbst deckt sie die Scheune neu, fällt Bäume, und im Winter liegt sie zu den Klängen von Albinonis C-Dur-Konzert unter dem schrottreifen Chevy-Pickup und schmiert die Kolben.

Sue Hubbell hat ein wunderbares, stilles und völlig unspektakuläres Buch geschrieben darüber, wie man die Traurigkeit heilt, indem man sich in den großen Kreislauf der Natur einfügt. Leider ist das Buch vergriffen, aber man bekommt es im Internet noch bei diversen Antiquariaten. Erschienen ist "Ein Jahr in den Ozark Mountains" im Verlag SchirmerGraf, den es auch nicht mehr gibt.

Montag, 16. September 2013

Meine "Ermutigung zum Eigensinn" jetzt in der 2. Auflage


Was ist der Sinn meines Lebens? Wie kann ich ihn finden? Das Althochdeutsche sinnen beruht auf der indogermanischen Wurzel von "gehen, reisen, fahren", was wiederum bedeutet "eine Richtung nehmen, eine Fährte suchen" (Duden Herkunftswörterbuch). Wie wunderbar klar doch die deutsche Sprache ist! Sie sagt unmissverständlich: Den Sinn des Lebens kann dir niemand geben, du musst ihn selbst erwandern, selbst "erfahren".

Deshalb sind die Wanderer auf dem eigenen Weg "Eigensinnige": Sie geben sich mit Antworten, die für andere gut funktionieren, nicht zufrieden, und sehen oft Probleme, wo andere Menschen sich wohlfühlen, Eigensinnige sind weder in der Wirtschaft noch in der Politik und schon gar nicht in Religionen gern gesehen. Wanderer auf dem eigenen Weg setzen sich nicht geistig in Überzeugungen zur Ruhe. Sie wissen: Beim Gehen verändert sich jede Landschaft. Sie wandern mit offenen Sinnen und wollen selbst sehen, hören und riechen.

Für all diese geduldigen, mutigen und oft einsamen Wanderer durchs Leben habe ich diesen kleinen Reiseführer geschrieben: über symbolische Abgründe und Gipfelbesteigungen, die Öde der Alltagswüste, das gelegentliche Sichverirren im Labyrinth - und die Frage, wie man da wieder herausfindet.

Margrit Irgang "Geh, wo kein Pfad ist, und hinterlasse eine Spur. Ermutigung zum Eigensinn", ISBN 978-3-451-06111-0, Herder Verlag, 8,95 €

Mittwoch, 11. September 2013

Die Geschichte von der Teeschale


Der Abt eines japanischen Zen-Klosters fand seine Frau eines Tages weinend in der Teeküche vor. "Warum weinst du?" fragte er sie. "Ich weine, weil alle Dinge so vergänglich sind", schluchzte sie.

Der Abt runzelte die Stirn. "Du musst härter werden", sagte er belehrend. "An die Vergänglichkeit müssen wir uns alle gewöhnen."

"Ich bin froh, dass du es so siehst", sagte die Frau und zog aus ihrem Kimonoärmel ein paar Scherben. "Deine Lieblings-Teeschale ist nämlich soeben in die Vergänglichkeit eingegangen."

Aus: Margrit Irgang "Dieser Augenblick. Achtsam leben im Geist des Zen",  Herder Verlag, ISBN 978-3-451-06385-5

(Meine Teeschale ist eine Winter-Teeschale des wunderbaren Keramikers Aisaku Suzuki aus Breisach. Hier geht es zu seinem Atelier.)