Montag, 7. Oktober 2013

Was ist Stille?


Als ich Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom war, kam das Ensemble Modern zu einem Konzert in die Villa. Unter anderem war ein Stück von John Cage mit dem Titel 4'33" angekündigt. Der Pianist setzte sich an den Flügel und legte die Hände auf die Oberschenkel, vom Scheitel bis zur Schuhspitze Konzentration. Im Saal wurde es allmählich still, das Rascheln der Programmhefte versiegte, ein letzter Huster war zu hören. Wir warteten. Der Pianist saß am Flügel.

Wir warteten.

Der Pianist saß am Flügel.

Erste Unruhe entstand. Ein paar Füße scharrten. Die Programmhefte knisterten wieder. Jemand flüsterte. Der Pianist saß am Flügel, voll und ganz konzentriert. Er saß vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang. Dann stand er auf, verbeugte sich vor dem verblüfften Publikum und ging ab.

John Cage, der sich intensiv mit Zen befasst hat, begab sich einst in ein schalltotes Studio, um herauszufinden, was Stille ist. Dort machte er die Erfahrung, dass es Stille im Sinn der Abwesenheit von Geräuschen nicht gibt: In dem schalltoten Raum war John Cage mit den Klängen konfrontiert, die sein eigener Körper unaufhörlich produzierte. Er hörte seinen Magen kollern, sein Blut in den Ohren rauschen. John Cage kam zu dem Schluss: "Stille sind all jene Klänge, die wir nicht beabsichtigen."

Um seinen Zuhörern das Erlebnis der Stille zugänglich zu machen, komponierte er das Stück 4'33'', in dem der Pianist keinen einzigen Ton spielt. Die Zuhörer aber hören nicht nichts, sondern ziemlich viel. Sie hören ihr Herz schlagen, das Blut kreisen, den Darm kullern. Was also hören die Zuhörer, wenn sie diesem Stück lauschen? Geräusche? Klänge? Sich selbst? Nein, sagt John Cage: Sie hören die Stille, denn "Stille ist der Zustand der Absichtslosigkeit".

Stille ist nicht die Abwesenheit von Geräusch, sondern die Abwesenheit einer persönlichen Absicht. Stille ist deshalb nicht dasselbe wie Pause, denn in der Pause warte ich auf eine Fortsetzung des soeben Gehörten. Stille ist für John Cage ein geistiger Zustand: der Zustand des Nicht-Wissens, des Nicht-Verlangens, des Verweilens im Augenblick. In dem Moment, in dem unser Geist nicht mit Planen, Hoffen, Wünschen und Ängstigen befasst ist, ist Stille anwesend - unabhängig von jedem äußeren Geräusch.

(Mein Seminar zum Thema Stille im Waldhof Freiburg Ende Oktober ist ausgebucht; wir haben eine Warteliste. Ich weise deshalb jetzt schon auf mein Seminar im Kloster Heiligkreuztal vom 15. - 17. November hin. Hier gibt es mehr Informationen.

1 Kommentar:

  1. Als inaktive Eurythmistin frage ich mich gerade, wie sich dieses Stück 4'33'' wohl eurythmisch darstellen ließe. Die hohe Kunst der (Ton-) Eurythmie ist der Mensch Gefäß der Klänge und stellt diese durch seine Bewegungen, die aus dem Anklingen entstehen unmittelbar und absichtslos dar. Und tatsächlich ist die Pause in der Musik (und auch in der Eurythmie) ein Hinstreben zum nächsten Motiv. Eben kein "Hinsetzen" und auch nicht absichtslos. Stille darstellen ist wirklich eine Kunst.

    Doch im Gegenzug denke ich mir als Mutter von drei Kindern ist es auch eine erhabene Kunst hin und wieder in die Stille zu kommen und mal ohne Absicht zu sein.

    Danke sehr für diese schöne Anregung.

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