Samstag, 26. März 2022

Fülle


So viel Schönheit und Wärme im Moment, und so viele Ängste sind unterwegs. Nicht um die Menschen in der Ukraine, die in eisigen Kellern ausharren, ohne Wasser und Lebensmittel, und nicht wissen, ob sie morgen noch leben werden. Nein, hier fürchtet man sich schon jetzt vor dem kommenden Winter in sparsam geheizten Häusern, vor knappem Öl und Gas, fehlendem Sonnenblumenöl und Weizen. Alles wird teurer, sogar die Tageszeitung hat wegen des Papierpreises erhöht, vom Benzin gar nicht zu reden! Wovon sollen wir leben, wir werden bald kein Geld mehr haben für unseren gewohnten Lebensstil!

Ich habe das Privileg, in großer Armut aufgewachsen zu sein. Wir lebten zu dritt in einem Zimmer ohne Toilette oder Bad. Ich besaß so gut wie keine Spielsachen und hatte keine Spielkameraden, weil ich als Flüchtlingskind isoliert war von zwei Seiten: Meine Mutter verbot mir den Umgang mit den Einheimischen und diese verboten ihren Kindern den Umgang mit mir. Es fehlte also an allen Ecken und Enden, aber ich richtete mich geschmeidig im Ungenügen ein. Mein Lieblings-Spielzeug war eine alte Zahnbürste, mit der ich Wasser auf dem Blechdach verteilte und zusah, wie es in der Sonne zusammenschnurrte. Und wenn Mutter und Stiefvater einander anbrüllten oder (was schlimmer war) tagelag eisig anschwiegen (und mich gleich dazu), begab ich mich in Windeseile in meine Phantasiefamilie, in der richtig tolle Leute lebten, die mich richtig gern hatten und mit mir sangen und Bilder malten, und einen Hund hatte ich da auch.

Ich habe bis heute wenig Geld. Aber das Leben hat mich früh zur Poetin gemacht. Was sollte mir fehlen?


Kalligrafie von Thich Nhat Hanh

 
Heute habe ich es nicht mehr nötig, mir eine Wunschfamilie zu erträumen. Das Schöne, Leuchtende, Erfüllende liegt direkt vor meinen Augen, ich muss es nur wahrnehmen wollen. Es steht hinter jedem Gartenzaun, hängt an jedem gewöhnlichen Straßenbaum, kommt mir an der nächsten Ecke entgegen in Form von Hunden, Kindern und ganz erstaunlichen Menschen. Neulich dieser alte Herr im hellblauen Anzug, eine Melone auf dem Kopf und einen Spazierstock in der Hand. Und das riesige Paket von Ikea, das schwankend vor mir auf dem Fahrrad fuhr, Paket auf Sattel mit zwei Frauenbeinen darunter. Wenn ich nach Hause komme, muss ich mich erst mal erholen von so vielen Eindrücken.

Den Deutschen, die gerade zu jammern anfangen, möchte ich sagen: Leute, es geht euch gut. Ihr habt alles, was ihr braucht. Schaut euch um: Schönheit, Farbe, Licht ist im Überfluss vorhanden. Kostenlos. Fülle hängt nicht von Dingen ab, sie ist ein Geisteszustand. Und kleine Einschränkungen im Lebensstil sind keine Katastrophe. Von allem etwas weniger zu verbrauchen, im Ganzen etwas einfacher zu leben könnte sich als befreiend erweisen. Ein Ding, das man nicht besitzt, muss nicht geputzt und gewartet werden. Eine Zutat, die beim Kochen fehlt, setzt Kreativität frei. 

Werft die Angst in die Luft, der Wind trägt sie davon. 


3 Kommentare:

  1. Danke, das ist wirklich schön und passend.

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  2. Andre Heller, der vor ein paar Tagen 75 Jahre wurde, erging es ähnlich...
    Seine Herkunft war zwar vermögend, aber er passte nicht in diese Familie.Die Fantasywelt rettete ihm das Leben.
    Liebe Grüße aus dem sonnigen Salzkammergut Gitti Haas

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  3. Was für inspirierende Worte der Zuversicht!

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