Freitag, 1. April 2022

Was dich hält



Die ukrainische Theater-Autorin Natal'ya Vorozhbit schreibt im Guardian über ihre Flucht aus Kiew. Sie floh mit Mutter, Tochter und Katze und griff in Eile das, was sie für das Nötigste hielt: ihren Pass und zwei Ringe. In ihrem Beitrag denkt sie darüber nach, was alles sie zurücklassen musste und wie ihre Pflanzen überleben werden (sie hatte sie vorher noch gegossen). Der Beitrag ist hier (klick) zu lesen.

Als meine Mutter aus Frankfurt an der Oder floh, nahm sie eine Handvoll Fotos mit. Aufnahmen ihrer Brüder, der Mutter, der Eigentums-Wohnung in dem Haus, das inzwischen unter Bomben begraben war. Sie trug die Fotos der Länge nach durchs Land, packte sie in Bayern wieder aus und betrachtete sie bis zu ihrem Tod immer wieder. An den langen stillen Abenden in den wechselnden Wohnungen in dem Land, in dem die Leute einen Dialekt sprachen, den sie nicht verstand, und Dinge aßen, die sie nicht mochte.

Als ich auf meiner Indienreise mit heftigen Schmerzen von meinen Reisegefährten in aller Eile ins Government Hospital St. George in Bombay eingeliefert wurde, hatte ich nichts bei mir außer meinem winzigen Bauchgürtel mit Pass und Geld und meinen Schal, den ich in Varanasi auf dem Seidenmarkt gekauft hatte. Mein Rucksack war im Schließfach am Bahnhof. Ich lag auf der blanken Matratze auf dem eisernen Bettgestell in einem Saal mit Dutzenden Frauen, die Vögel flogen ein und aus, unter den Betten suchten magere Katzen nach Essbarem, und ich lag tröstlich eingewickelt in meinen Schal.

 

 

Was du mitnimmst, wenn es schnell gehen muss, ist keine Frage der rationalen Entscheidung. Du greifst nach irgendetwas, und die Chancen sind groß, dass es etwas ist, das dich halten wird in der langen Zeit, die folgt. Wenn wir zurückgeworfen sind auf das Elementarste - auf uns selbst, unseren Körper mit dem, was ihn gerade bedeckt -, wird dennoch irgendetwas da sein, das uns in einer Realität verankert, auf die wir uns nicht vorbereiten konnten, weil wir ohne Vorwarnung in sie hineingeworfen wurden. Du blickst dich um und erkennst nichts wieder. Nichts ist so, wie es vorher war. Du bist in der absoluten Fremde gelandet. 

Aber hier ist dein Ring. Hier ist das Foto von deinem Bruder. Hier ist dein Schal. Etwas Vertrautes weht dich an und rettet deinen Geist vor dem Wahnsinn. 

Ich schaue mir die Bilder von den ukrainischen Kindern an, die an der Grenze zu Polen ihre Kuscheltiere umklammern, und bin irgendwie froh. Inmitten des völlig Unverständlichen wissen sie: Hier ist mein Bär. Hier ist mein Hase.

Ein winziges Stück Plüsch. So fragil, und doch ...


1 Kommentar:

  1. Das denke ich auch immer beim Anblick der Plüschtiere in den Händchen der Kinder. Ja Fotos, ein Ringe, ein Schal oder ein Shirt mit einem Geruch....

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