Donnerstag, 22. Juni 2023

Esther Kinsky. Sehen.

 

 

Vor vielen Jahren entdeckte die Schriftstellerin Esther Kinsky bei einer Reise durch die südungarische Tiefebene ein verlassenes Kino. Zum Kino - genau gesagt: zu der besonderen Form des Sehens, zu der das Kino einlädt - hatte sie seit jeher eine Beziehung. Esther Kinsky kaufte das alte Kino, voller Hoffnung, einen "Raum des gemeinsamen Sehens" zu erschaffen. Die Geschichte des Kino-Kaufs zieht sich durch diese beiden Bücher, jedes ist auf seine Weise berückend schön.

Esther Kinsky fotografiert auch. Vor ein paar Wochen besuchte ich die Ausstellung ihrer Bilder (die übrigens im Buch "Weiter sehen" abgedruckt sind) in Freiburg. Es passte, dass kein Besucher da war, auch keiner, der mir was erklären wollte. Ich sah Bilder der Stille in Nicht-Farben: Bröckelnde Mauern, verlassene Höfe, struppige Hunde, herausgerissene Kinosessel. In ihrem Buch "Banatsko" sagt die Protagonistin einmal auf die Frage, warum sie solche Fotos mache: "Ich betrachte die Sprache der Dinge."

"Weiter sehen" fragt danach, WIE wir sehen. Beim Wie geht es um den Platz, den man selbst sehend einnimmt. Um den Blickwinkel und die Distanz zu den Dingen, Bildern, zum Geschehen, zu Nähe und Ferne, zur Weite: "Die Weite ist mehr als Ferne, sie ist das, was man an Möglichem zulässt." Das alte Kino ist gestorben, und Esther Kinsky denkt darüber nach, was das für eine Gesellschaft bedeutet: Ein Ort des gemeinsamen Sehens wird aufgegeben zu Gunsten des privaten Sehens in Internet und Mediathek. Ein philosophisches Buch, durchwoben von geradezu phantastisch anmutenden Geschichten von Menschen und Begegnungen. Mit Fotografien. Suhrkamp Verlag.

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 Ein bescheidener Handy-Schnappschuss aus der Ausstellung. Das Glas spiegelt leider.

 

In "Banatsko" findet Esther Kinsky ein Dorf im Niemandsland von Ungarn, lässt sich nieder (und entdeckt ein verfallenes Kino ...). "Der Horizont lädt ein zum steten Absuchen der Ferne in Erwartung einer unbekannten Veränderung." Es ist still, der Wind weht übers flache Land, die Menschen sind schweigsam, der Akkordeonspieler, der Schneider und Attila: "Wenn wir auf der Veranda saßen, lernten wir kleine Lektionen der Vertrautheit, jenseits der Sprache. Was wir sagten, war Zubehör, das Mobiliar einer Intimität." Banatsko durchquere ich lesend wie einen Traum: Ich sehe Menschen, die anders sind als alle, die ich kenne, ich verliere mich in der Weite der ungarischen Tiefebene, die Farben sind gedämpft, nichts ist hier grell, glänzend oder neu. "Banatsko" ist eine Ode an die Melancholie, geschrieben in einer Sprache, die süchtig macht. "Banatsko", Verlag Matthes & Seitz 

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2 Kommentare:

  1. Liebe Margrit, nun fast 75 jährig mit hinterlassenen Spuren, frage ich mich: "Und nu'? Schau doch mal wieder bei Margrit Irgang rein." Auf der Suche bach Orientierung für den Tag, denn das ist sicher mein Motto geblieben: "NUR FÜR HEUTE!" stelle ich fast täglich kleine Bildgeschichten bei WhatsApp in meinen Status. Nun finde ich Inspiration für mein tägliches Motto hier bei dir. Ich freue mich, dass du auch noch auf dem Pilgerweg der Achtsamkeit im Leben unterwegs bist. Schade, dass du so weit weg bist. Ich Hamburg, sonst würd' ich gern mal bei dir meditieren. Habe alle deine Bücher gelesen und teile deine Verehrung für Thich Nhat Hanh. Liebe Grüße von deiner Carmen
    carmen-nurfuerheute@online.de

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