Freitag, 9. Juni 2023

Grete Weil

 

 

Bei einem Empfang unseres gemeinsamen Verlags Benziger in Zürich lernten wir uns Anfang der 1980er Jahre kennen. Unsere Lektorin Renate Nagel machte uns miteinander bekannt ("Sie leben doch beide in München"). Grete Weil fiel auf: Eine elegante alte Dame, die sich an dem im Literaturbetrieb üblichen Small Talk nicht beteiligte. Sie saß in ihrem Sessel und beobachtete hellwach und mit scharfem Blick das Treiben um sie herum. Ich dachte: Diese Frau ist kompromisslos, sie lässt sich nichts vormachen. Wenn sie so schreibt, wie sie schaut, werde ich ihre Bücher mögen. Sie schrieb so.

In den folgenden Jahren trafen wir uns öfter, in ihrem bezaubernden Haus mit dem großen Garten in Grünwald oder auf Spaziergängen mit ihrem tibetischen Tempelhund ("Sie heißt Shagi wie die Abishag in der Bibel, die den alten Salomon gewärmt hat"). Wir sprachen über das Schreiben, das Leben, die Menschen, Reisen, die Nazi-Zeit. Der Erfolg war spät zu ihr gekommen. Sie war bereits Anfang siebzig, als sie mit "Meine Schwester Antigone", jenem Buch, das uns zusammengeführt hatte, über Nacht bekannt wurde. Da hatte sie bereits etliche andere Bücher veröffentlicht, aber die Zeit war noch nicht reif für das, was Grete Weil zu erzählen hatte.

Mit ihrem Mann Edgar Weil, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, war sie nach der Machtergreifung der Nazis nach Holland emigriert, wo sie u.a. als Fotografin arbeitete. Nach der Kapitulation der Niederlande wollte das Paar nach Kuba emigrieren, beide hatten bereits die Pässe in der Hand. Da wurde Edgar Weil auf der Straße verhaftet und später im KZ Mauthausen ermordet. Grete arbeitete beim Jüdischen Rat, tauchte später unter und überlebte. Alle ihre Bücher erzählen in Varianten immer neue Facetten der Lebensgeschichte einer Jüdin in den 1930er und 1940er Jahren.

In Tramhalte Beethovenstraat ist es Andreas, der als Berichterstatter einer Münchner Zeitung in der Amsterdamer Beethovenstraat (Grete Weil hat dort selbst gelebt) 1941 Zeuge der nächtlichen Deportationen wurde. Seine Frau Susanne überlebte als verfolgte Jüdin nur, indem sie sich in Schuld verstrickte. Die Ehe ist schwierig, die Vergangenheit wiegt zu sehr. Grete Weil erzählt hier, wie in all ihren Büchern, gleichzeitig vom schwierigen Weiterleben in Deutschland: Wie kann man Unbetroffenen und Skeptikern existenzielle Erfahrungen mit-teilen, sodass sie wirklich erfahrbar werden? Literarisch gesehen finde ich dieses Buch ihr bestes. Verlag Das kulturelle Gedächtnis

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Ans Ende der Welt. Dies ist das erste literarische Zeugnis der Deportation holländischer Juden durch die Nazis. Voller Szenen, die Grete Weil als Emigrantin in Amsterdam selbst mitangesehen hatte: die Abholung der Familien, der Aufenthalt im Theater Schouwburg, das als Sammellager dient, die Arbeit des Jüdischen Rates, der die Verhafteten beruhigt und versorgt, die Arbeit einer Widerstandsgruppe. Und die Verhöre durch die Nazis, die die Gefangenen dazu bringen, Verrat an ihren Nächsten zu begehen. Aber wie in fast all ihren Büchern deutet Grete Weil auch hier die Möglichkeit der Liebe an, als Gegenentwurf zu der allgegenwärtigen äußeren Düsternis. Verlag Das kulturelle Gedächtnis.

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Ich kann mich nicht erinnern, dass Grete je von ihrem allerersten Roman gesprochen hat, den sie im Exil verfasste, aber vor Kurzem fand sich in ihrem Nachlass, der in der Münchner Monacensia aufbewahrt wird, ein Skript, das jetzt unter dem Titel Der Weg zur Grenze bei C. H. Beck erschienen ist. Der Roman spielt im Jahr 1936. Der Mann der jungen Jüdin Monika ist im KZ Dachau getötet worden. Auch sie wird von der Gestapo gesucht und flieht zu Fuß und auf Skiern über die Grenze nach Österreich. Durch einen Zufall wird sie von einem jungen Lyriker begleitet, dem sie unterwegs und in der geheimen Berghütte ihr Leben erzählt. Monika ist das Alter Ego von Grete Weil, und wir erfahren viel von ihrer Kindheit als Tochter aus wohlhabendem Haus und dem sorglosen Leben in München und Berlin vor dem Krieg. Und auch hier wieder - diesmal ganz konkret - das Lebensthema: Wie kann ich einem zwar wohlmeinenden, aber arglosen Menschen klarmachen, was wirklich im Nazi-Deutschland geschieht. Und wie kann ich das Ausmaß des Schmerzes im Leben der Verfolgten in Worte fassen. Das Buch ist ein wichtiges Zeitzeugnis, hellsichtig und scharf beobachtet. C. H. Beck Verlag

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Leider sind der Roman "Meine Schwester Antigone" sowie etliche andere Bücher nur noch antiquarisch erhältlich. Angeblich soll das Werk von Grete Weil nach und nach neu aufgelegt werden. Ich bitte doch sehr darum. Es gibt einen guten Wikipedia-Eintrag zu Grete Weil: hier (klick)

Grete Weil starb mit 92 Jahren im Mai 1999 in München.


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