Samstag, 9. März 2019

Zeit ist eine Illusion


Zeit ist das, was das Licht von uns fernhält.
Es gibt kein größeres Hindernis auf dem Weg zu Gott als die Zeit.

Meister Eckhart

Sie steht seit August auf meinem Balkon. Meine letzte Erdbeere, die jetzt die erste ist. Unverändert schön, zarte Blüte, saftige Frucht (die im Hintergrund). Da drängen sich Fragen auf: Wie hat sie das Überleben geschafft? Warum ist die Blüte nicht verwelkt, die Frucht nicht vertrocknet? Wird sie im Mai (wieder) blühen, (noch einmal) Frucht tragen? Wird aus der Blüte gar noch eine Frucht werden, mit einem Jahr Verspätung?

All diese Fragen handeln von Vergangenheit und Zukunft. Legen wir sie einfach mal als unwesentlich ab und sehen uns an, was da ist: Erdbeerblüte, Erdbeerfrucht. Weiß und Rot. Ein wenig Grün.

Was ist "Zeit"?

Wir behaupten, wir könnten sie "haben", "verlieren" und "gewinnen". Sie kann uns angeblich "davonlaufen", deshalb rennen wir ihr "hinterher", und vor allem "fehlt" sie uns an allen Ecken und Enden. Manchmal scheint sie auch "stehenzubleiben", das sind die außergewöhnlichen Momente. Extrem schön - oder ziemlich grauenhaft. Meist ereilt uns das Stehenbleiben als Schock. In einer Liebesbegegnung, einem Konzert, einem Blick vom Berggipfel, den wir soeben erstiegen haben - oder im Moment eines Unfalls, beim Anblick einer Grausamkeit. Solche Schocks sind zwar unnötig, aber wegen unserer alltäglichen Unbewusstheit dennoch wichtig. Denn was in ihnen tatsächlich "stehenbleibt", ist unser Geist. Er hört auf, einer imaginären Zeit hinterherzurennen und macht nicht mehr den Versuch, sie zu gewinnen und zu füllen. Er befindet sich ganz und gar in der einzigen "Zeit", die es gibt: dem Augenblick.

Eckhart Tolle spricht von "Uhr-Zeit", die gebraucht wird für alle praktischen Belange des Lebens. Und von der wertlosen "psychologischen Zeit", die unser Geist erschafft, indem er Ängste und Hoffnungen in eine imaginäre Zukunft projiziert oder in der nicht mehr existierenden Vergangenheit herumwühlt. Wann immer wir gerade nicht mit der notwendigen Uhr-Zeit und den in ihr stattfindenden Verpflichtungen befasst sind, können wir in den Augenblick zurückkehren, ohne psychologische Zeit einzusetzen.

Zen, Vipassana, tibetische Praxis und christliche Kontemplation schalten die psychologische Zeit aus und führen uns direkt in die Gegenwart. Wie Meister Eckhart sagt: Nur dort können wir das erkennen, was wir Gott oder das Absolute oder die Wahrheit nennen.

Es geht aber noch einfacher. Ohne Tempel, ohne stundenlanges Sitzen, Üben, Rezitieren. Wir sehen uns einfach an, was jetzt da ist. Zum Beispiel eine Erdbeerblüte, eine Erdbeere. Weiß und Rot. Ein wenig Grün. Im März. Eine ganz und gar unzeitgemäße Sache.

Und schon befinden wir uns in der Zeitlosigkeit. Denn der Augenblick ist immer jenseits der Zeit, er vergeht nicht, man kann ihn nicht erreichen. Er ist.

Jetzt.

Und jetzt.


8 Kommentare:

  1. Heute ist ein trüber, veregnteter Sonntag, und ich habe nichts vor...herrlich! Im Buddhismus gibt es die schönen Worte "erhabene Ereignislosigkeit". Viele in meiner Umgebung würden das als fad (österreichisch) bezeichnen.Ich nicht!
    Liebe Grüße Gitti Haas

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    1. Hier genauso. Heute einfach viel in die Luft geguckt, vor mich hin geträumt, den Weg der Regentropfen auf der Scheibe verfolgt ...

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  2. Der Barockdichter Andreas Gryphius schreibt über die Zeit:
    Mein sind die Jahre nicht,
    die mir die Zeit genommen;
    mein sind die Jahre nicht,
    die etwa mögen kommen;
    der Augenblick ist mein,
    und nehm ich den in acht,
    so ist der mein,
    der Zeit und Ewigkeit gemacht.
    Ich lese das so: Vergangenheit und Zukunft sind von der Zeit bestimmt. Deshalb ist die Konzentration auf den Augenblick wichtig, der zeitlos ist. Jenseits von Zeit und Raum bin ich mit der Tiefendimension verbunden.

    Simon

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    1. Sehr schön. Das kannte ich nicht.

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    2. Ich habe es in der Schule auswendig gelernt, aber nicht verstanden. Es ist mir erst jetzt wieder eingefallen. Ich überlege mir, ob ich Gryphius als Vorläufer der Achtsamkeit bei Wikipedia nennen sollte, denn besser und einfacher kann man es kaum ausdrücken.
      Simon

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    3. Ja, mach das. Ich bin gespannt, wie die strengen "Experten" bei Wikipedia reagieren. Ich habe da so meine Erfahrungen ...

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  3. Wie steht es um die Zeit, wenn man in ein Gap gefallen ist? Ich habe meine Mutter kurz vor ihrem Tod beobachtet, sie stand mit einem Bein noch herüben, mit dem anderen drüben. Mir ist dazu späterhin das Koan eingefallen: Was ist das Zwischenland, das freien Ausblick gewährt auf Geburt - auf Tod (Bild einer Kinderschaukel dazu)
    Liebe Grüße le Petit philosophel

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    1. Keine Ahnung, ich war da noch nicht. Und möchte mir damit auch noch etwas Zeit lassen ...

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