Montag, 28. November 2016

Die gute Wahl


Es war einmal (vor gar nicht langer Zeit) ein Rabbi, der mit seinen Schülern arbeitete, indem er alle Gefühle, mit denen sie sich schwer taten, in sich selbst erweckte. Der Schüler sagte also, er habe große Angst. Der Rabbi antwortete sanft: „Auch ich habe Angst.“ Und dann erschuf er dank seiner Präsenz einen Raum, in dem der Schüler und er gemeinsam die Angst aushalten konnten – wortlos und miteinander atmend. Der nächste Schüler sagte vielleicht, „Ich bin neidisch“, und der Rabbi antwortete sanft: „Auch ich bin neidisch.“ Die Methode des Rabbi funktionierte wunderbar, und seine Schüler galten als freie, mitfühlende, erwachte Menschen. Eines Tages erschien ein Schüler in dem kleinen Raum vor dem Rabbi und sagte herausfordernd: „Rabbi, du behauptest immer, alle Gefühle in dir zu haben, aber was ist mit dem Hass von Hitler?“ Der Rabbi schwieg lange, dann schickte er den Schüler aus dem Raum und bat ihn, die Tür zu schließen. Am Abend kam er wieder heraus, tränenüberströmt, und trat vor seine versammelten Schüler. „Nun bin ich siebzig Jahre alt“, sagte er. „Wie konnte ich all die Jahre den Hass von Hitler in mir übersehen?“

Hass, Gier, Angst und Sehnsucht nach allem, was uns vermeintlich glücklich machen wird, sind nicht "dort draußen" - in Diktaturen, Terrororganisationen, rechtsgerichteten politischen Kreisen. Sie sind in uns allen angelegt. Nach der US-Wahl strömten in meinen Posteingang die Mails von buddhistischen Lehrern und die der Schüler von Thich Nhat Hanh, und alle fragten auf irgendeine Weise: Was sollen wir jetzt tun? Wenn wir uns in Aktivitäten verwickeln, verschenken wir das Einzige, was wir tatsächlich tun können: Die Gefühle wahrzunehmen und sie in der sanften Präsenz unserer Achtsamkeit auszuhalten. Sie, wie Thich Nhat Hanh es formuliert, zu „umarmen“ – so lange, bis sie sich aufgelöst haben. Und sie werden sich auflösen! Das ist das Geheimnis der Praxis des Zen: Absolut wach sein für alles, was im Inneren geschieht, es genau wahrnehmen in all seinen Facetten, nicht unterdrücken, nicht mit Erklärungen zudecken, nicht davonlaufen, nicht ausagieren, sondern aushalten und ..... Aaah! Ich bin frei von dieser Last!

Wenn wir dies zu unserer Praxis machen, immer wieder aufs Neue, wenn es uns selbstverständlich geworden ist, dann werden wir eine gute Wahl treffen, wenn wir dazu aufgerufen sind – politisch, beruflich, persönlich. Eine Wahl, die nicht vom Ego bestimmt ist und nicht von unserer Unbewusstheit - sondern von etwas ganz, ganz Anderem. 

Was das ist, müsst Ihr selbst entdecken.

3 Kommentare:

  1. Deinen Text habe ich nun schon mehrfach gelesen. Das ist eine sehr schwer zu erlernende Praxis, denke ich. Ich finde den Ansatz sehr interessant. Danke...

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    1. Das ist der Kern jeder Meditationspraxis. Wenn Du eine Woche lang zehn Stunden (im Zen) schweigend auf dem Kissen sitzt, begegnest Du all Deinen Dämonen. Und weil Du nicht weglaufen kannst, musst Du sie annehmen und umarmen. Und dann ... siehe oben!

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  2. Danke.
    (Leserin aus Berlin)

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