Donnerstag, 19. Dezember 2024

Der Frühstücksmann

 


Ich lag auf dem Rücken. Das hatte Gründe. In meinem linken Arm steckte eine Kanüle, und meinen Kopf hatte ich in eine halbwegs sinnvolle Lage auf das Kissen gelegt, weil ich ihn in den nächsten Stunden oder Tagen nicht verschieben wollte. Jede Umlagerung versetzte das Zimmer um mich herum in ein Kreisen und Wirbeln; meine Augen fanden nirgendwo einen Halt, und mein Mageninhalt wollte nicht bei mir bleiben. Ich befand mich in diesem Bett auf hoher See, unsichtbare Wellen schlugen über mir zusammen; da draußen musste irgendwo ein Orkan toben, den nur ich bemerkte. Wenn man seekrank ist, muss man sich flach legen und die Augen schließen. Die Position, in der ich mich befestigt hatte, war leicht nach rechts geneigt. Abgewandt vom Nachbarbett, das leer war, hin zur Tür, die ich nicht sehen konnte, weil sie sich hinter dem Schrank befand. Draußen war Hochsommer, drinnen war es heiß. Zwei Monate später würde feststehen, dass dies der heißeste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen gewesen war. 

Meine Welt war auf kleines Format geschrumpft. Weißes Bettzeug, das Schnurren des Ventilators, im Augenwinkel ein Glas Wasser. In dieser Liliputwelt aber war meine Freude rasant gewachsen. Offenbar hatte sie sich vorher zwischen E-Mails, Laptop und Bücherbergen eingesperrt gefühlt. Das war wohl doch nicht so ganz ihre Welt, was mir erst jetzt auffiel. In der weißen Kargheit hatte sie Raum, sich zu entfalten. Die einzige Geste, zu der ich fähig gewesen wäre, war ein Wedeln der rechten Hand. Also nichts, was sie verscheucht hätte, und so ließ sie sich auf meiner Reglosigkeit nieder, freudig, wie das so ihre Art ist. Sie fand die Bläschen im Kanülenschlauch lustig und die plötzlich in mein Leben getretene Zwangsruhe erholsam. Sie vermisste nichts und verlangte nicht nach Abwechslung und Bespaßung.

Um acht Uhr kam der Frühstücksmann. 

Er öffnete die Tür, die ich nicht sah, und blieb lächelnd neben dem Schrank stehen, den Kopf leicht geneigt. Er war lautlos hereingeschwebt. Von draußen brach ein Lärmschwall in meine Stille, er zog die Tür schnell zu. Es gibt das professionelle Lächeln, das hier viele hatten, aber seins meinte mich: Es erreichte die Augen. Guten Morgen, sagte er, klappte den Flügeltisch über mein Bett und stellte das Tablett darauf. Behutsam. Mit ruhigen Bewegungen. Er hob die Glocke über zwei eingepackten Brotscheibchen, einem Stückchen Butter in Aluminium und einem Schälchen Marmelade. 

Überschaubar, sagte er. 

Aber es wird mir serviert, sagte ich.

Er hakte die Lieferung an mich auf seiner Karteikarte ab, studierte sie und sagte nebenbei: Sie bekommen heute eine Mitbewohnerin. Ich habe sie gerade unten gesehen. Eine junge Frau. Keine Dame.

Sie differenzieren, sagte ich.

Er lächelte. Er war, schätzte ich, Mitte, Ende fünfzig. Welches Schicksal oder welcher Entschluss hatte ihn zum Frühstücksmann im achten Stock der Universitätsklinik gemacht? Er sollte inmitten von Büchern leben, in einem Raum, der erfüllt war von klassischer Musik, vielleicht von Düften aus der Küche, die an ferne Länder denken ließen. Bevor er ging, blieb er neben dem Schrank stehen, sodass ich ihn sehen konnte, legte den Kopf auf die Seite und sagte lächelnd: Guten Appetit.

Gegen Mittag kam die Nicht-Dame. Sie riss die Tür auf, warf ihre Sachen auf das Bett und stellte den Ventilator auf die höchste Stufe. So eine Scheiße, knurrte sie. Ich könnte jetzt baden gehen, stattdessen haben die mich hier eingeliefert. Ich wäre auch lieber am See, sagte ich. Sie hörte mich gar nicht, sie hatte mich nicht einmal angesehen. Als ich zwei Tage später entlassen wurde, hatte sie immer noch kein Wort mit mir gewechselt.

Am nächsten Morgen um acht kam der Frühstücksmann.

Warum kommen Sie denn so spät? rief die Nicht-Dame. Ich muss los, ich habe eine CT. 

Sie drängte sich an ihm vorbei und warf die Tür hinter sich zu. Er stand noch immer neben dem Schrank, legte den Kopf auf die Seite und lächelte mich an. Er machte sehr klar, dass er dieser Frau nicht die Macht einräumte, sein Begrüßungs-Ritual zu stören. Dann drehte er das Tischchen über mich, stellte behutsam das Tablett darauf und hob die Glocke. Zwei frische Brötchen, zwei Scheiben Emmentaler, Marmelade, Butter. Sie hatten vegetarisch bestellt, sagte er, deshalb habe ich Käse gewählt.

Wir sahen einander an. 

Ich erkenne meinesgleichen, wenn ich ihm begegne. Dem Menschen, der keinen Smalltalk braucht, um zu kommunizieren. Der weiß, dass die wahre Begegnung zwischen zwei Menschen in Gesten und Blicken besteht, und dass man darüber kein Wort verlieren sollte.

Er hakte die Frühstückslieferung auf der Karteikarte ab und sagte nebenbei: Wenn Menschen krank sind, zeigen sie, wer sie wirklich sind. Aber das wissen Sie natürlich.

Die sozialen Masken fallen, sagte ich, und die Wut bricht heraus.
 
Und die Sanftheit, sagte er lächelnd. Aber das wissen Sie natürlich.
 
Erst jetzt fiel mir seine fahle Gesichtsfarbe auf. Sein Pullover hing formlos an ihm herab; sein Body Mass Index war vermutlich so unterirdisch wie meiner. Er blieb neben dem Schrank stehen, neigte den Kopf und lächelte. Dass er nicht "bis morgen" gesagt hatte, fiel mir erst am nächsten Tag auf, an dem eine Küchenhilfe die Tür aufriss und mein Tablett auf den Tisch am Fenster knallte.
 
Seine Sanftheit ist immer noch da.
 
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Freitag, 13. Dezember 2024

Margrit & MARGRIT


Nach dem Krieg lebten meine Mutter, mein Stiefvater und ich in einem Zimmer in einer alten Villa. Im ganzen Haus hatten sich solche nach dem Krieg Gestrandeten und Ausgebombten wie wir zusammengefunden. Zimmer an Zimmer, keine Bäder, Gemeinschafts-Toiletten auf dem Flur. Da schloss man sich einander an, man hatte ja ähnliche Schicksale. Meine Mutter wählte die Frau, die einen Stock über uns mit ihrem kleinen Sohn lebte. Frau Wende illustrierte Kinderbücher, und ich bekam von ihr Schätze, die, wie ich heute weiß, Belegexemplare waren: Bücher von Johanna Spyri, Bilderbücher und "Wir lesen die Uhr", das mich entzückte, weil auf dem Cover drehbare Zeiger aus Plastik waren. Am meisten liebte ich meine Anziehpuppe aus Pappe mit ihren Mäntelchen und Schühchen. Frau Wende entwarf auch Puppen für die Firma Schildkröt, und weil sie mich niedlich fand (ich war mal niedlich), dachte sie sich eine Puppe für mich aus und nannte sie Margrit.

Als die Puppe kam, war ich bitter enttäuscht. Sie hatte lange schwarze Zöpfe, aber ich hatte kein schwarzes Haar, und für Zöpfe war es zu dünn. Ich beklagte mich bei meiner Mutter mit den Worten: Das bin nicht ich. (Als Kind schon Zen praktiziert und erkannt, dass ein Abbild nicht die Sache selbst ist!) Trotzdem war ich aufgeregt und stolz, als MARGRIT im Schaufenster des örtlichen Spielwaren-Ladens saß.

Heute weiß ich, dass Ilse Wende-Lungershausen eine bekannte Illustratorin war, die unter anderem 1933 ein nationalsozialistisches Propagandabuch ihres Ehemannes Bernhard Wende illustriert hatte, aber das vertiefen wir hier nicht. 

Die Puppen wurden mit einem Booklet beworben, und als ich neulich in einer Kiste stöberte, die ich jahrelang nicht geöffnet hatte, tauchte es auf. Die Prosa, die meiner Puppe und mir angedichtet wurde, will ich euch nicht vorenthalten, weil sie ein Ausdruck ist für die Erziehung, der wir Nachkriegskinder unterworfen waren. Ja, das hier war ernst gemeint.

"Mein liebes Kind, was wünschst du dir
zum Weihnachtsfeste denn von mir?"
fragt Großmama die Silvia,
und gleich ist auch die Antwort da:
"Ein Schildkröt-Püppchen wär für mich
die höchste Freude sicherlich,
weil schon das kleinste Püppchen man
nett kleiden und auch baden kann."
Großmama lächelt still und geht. -
Zum Christfest war dann ein Paket
mit einer großen Puppe da,
wie Silvia noch keine sah,
ein Bilderbuch dazu, drin stand
nur dieser Satz von Omas Hand:
"Die größte, schönste MARGRIT ist
dein Lohn, weil du bescheiden bist!

Drum, liebes Kind,
merk dir geschwind:
Zeig stets dich voll Bescheidenheit,
sie ist des Kindes Ehrenkleid!"

Mit Ergriffenheit sehe ich, dass ich mit vier Jahren die größte und schönste Margrit war. Das war das erste und dann auch das letzte Mal in meinem Leben.

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Freitag, 6. Dezember 2024

Jan-Philipp Sendker "Akikos stilles Glück"

 

Manchmal fällt mir in der Bücherei ein Buch auf, weil es so ein schönes Cover hat. Sendker? Nie gehört. Aber: Japan! Also mitgenommen. Angefangen zu lesen. Und nicht mehr aufgehört.

Akiko, eine dreißigjährige Buchhalterin in Tokio, ist mit ihrem stillen Leben zufrieden. Wie alle gut bezahlten Büroangestellten arbeitet sie bis acht Uhr abends, isst in einem Kaiten-Sushi eine Kleinigkeit und fällt müde ins Bett, Tag für Tag. Eines Abends begegnet sie ihrem alten Schulfreund Kento, der ein hochbegabter Pianist war, aber inzwischen seit Jahren seine Wohnung nur noch nachts verlassen kann. Ein Hikikomori, der - schätzungsweise gibt es eine Million von ihnen - die moderne Gesellschaft mit ihrem Lärm und ihrer Hektik nicht erträgt. Ein Hochsensibler. Die beiden nähern sich behutsam einander an. Zwei, die Stille lieben und am liebsten allein sind und sich doch danach sehnen, von einem anderen erkannt und gesehen zu werden als die, die sie sind.

Kento stellt Akiko zwei Fragen: Wer bist du wirklich? Und: Magst du dich? Auf langen Spaziergängen durch das nächtliche Tokio versucht sie, Antworten darauf zu finden. Und dann entdeckt sie beim Sichten der Schriftstücke ihrer verstorbenen Mutter etwas, das ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellt. Sie ist nicht die, die sie zu sein glaubte. Wie aber kann sie sich finden?

Jan-Philipp Sendker war jahrelang Asien-Korrespondent des "Stern". Wenn ich nicht wüsste, dass er Deutscher ist, hätte ich vermutet: Dies hat ein Japaner geschrieben, oder besser noch: eine Japanerin, denn wenige männliche Autoren können sich in eine weibliche Hauptfigur hineinversetzen - und das Buch ist in der Ich-Form geschrieben. Sendker hat ein feines Gespür für die Zwischentöne und Gesten, die in der japanischen Gesellschaft so ungemein wichtig sind. Es gibt Szenen in diesem Buch, die uns klar machen, was japanische Höflichkeit wirklich ist: Aufmerksamkeit und Wertschätzung für den anderen und seine Grenzen, die zu wahren in einem so dicht besiedelten Land absolut notwendig ist. Was aber eben auch die Einsamkeit in den Großstädten verstärkt.

Einmal fährt Akiko nachts mit dem Taxi durch Tokio, einfach so, und der Taxifahrer - einer von der alten Schule, weiße Handschuhe, wahrscheinlich, sage ich mal, Häkeldeckchen auf den Kopfstützen (ich liebe japanische Taxis!) - schaltet irgendwann den Taxameter aus. Die junge Frau und der alte Mann hören leisen Jazz aus der Anlage, und dann nimmt der Mann sie um Mitternacht mit in ein winziges Lokal, in dem die Taxifahrer des Viertels eine Pause einlegen. Und kein einziger Missklang ist zu hören, kein Mann versucht, die junge Frau anzumachen, alle sehen sie an und wissen: Hier ist eine Frau auf der Suche nach etwas, was sie in dieser Nacht nicht finden wird, und man kann ihr auch nicht helfen dabei, aber man kann ihr ein paar gegrillte Hühnerflügel und Edamame-Bohnen anbieten, mit denen sie diese Nacht überstehen wird.

Ein wunderbares Buch. Nachdenklich, melancholisch, tröstlich, voller Wärme und federleicht geschrieben. Wenn ihr jemanden kennt, der Japan liebt, die Stille und die Behutsamkeit zwischen Menschen - schenkt es ihr oder ihm zu Weihnachten. Oder euch selbst.

Jan-Philipp Sendker "Akikos stilles Glück", Blessing Verlag, 24 EUR.

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Samstag, 30. November 2024

Die Granatapfel-Meditation


 

Du brauchst eine tiefe Schüssel und ein gutes Messer. Ein gutes Messer ist scharf, aber sensibel. Es folgt dir bedingungslos und geht nicht seiner eigenen Wege. Mit diesem Messer setzt du in die Schale des Granatapfels rundherum vier Schnitte, aber nur so tief, dass gerade die Schale angeritzt wird. Du hast ein sensibles Messer, das kann so was. Dann ziehst du vorsichtig den Granatapfel über der Schüssel in der Mitte auseinander.

Hör dir das an: Es klingt, als würde etwas Gewaltiges, Hölzernes bersten. Ein Hochwald vielleicht, durch den ein Orkan fährt, oder ein Dachstuhl. Und wenn die Schnitte genau richtig gesetzt waren, nicht zu tief und nicht zu oberflächlich, öffnet sich das Wabengewebe mit allen intakten Perlen. Zwischen den Wabenwänden sitzt jede Perle auf ihrem eigenen kleinen Sessel, in einer Versammlung von zweihundert selbstbewussten Einzelgängern, und wenn du eine Perle löst, bleibt auf ihrem Sitz ein kleiner roter Punkt zurück wie eine Wunde.

Die Banane ist eine zugängliche Frucht. Sie lässt sich ohne Umstände ausziehen, liegt anschmiegsam in der Hand und wölbt sich schamlos jedem Mund entgegen, aber der Granatapfel will nicht gegessen werden. Es ist mir schleierhaft, wie Adam und Eva im Paradies die Schale dieser Frucht knacken konnten, ohne die Perlen zu beschädigen. Vielleicht lag der Sündenfall ja darin, dass Adam mit brachialer Gewalt in die Wunderkammer eingebrochen ist. So wie in den Filmen auf youtube, in denen Köche den Granatapfel mal eben mittendurch hacken und zeigen, dass sie ihr Gewerbe in Blindheit und Taubheit ausüben.

Vielleicht wäre es den Granatapfel-Perlen lieber, in eremitischer Einsamkeit still vor sich hin zu faulen, aber wer einmal diese Köstlichkeit gegessen hat, wird das dem Apfel nie wieder erlauben. Du musst sie einzeln essen, Perle für Perle, und jede wird dir Widerstand leisten. Ihre Haut schützt ziemlich zuverlässig den kostbaren Inhalt, der aus jeweils einem einzigen Tropfen besteht. Aber was ist das für ein Tropfen! Er füllt deinen Mund mit Süden und Wärme, mit einer Sommernacht unter Sternen, und vielleicht siehst du Glühwürmchen taumeln und hörst Zikaden sägen mitten im nebligen deutschen Dezember.

Und da wir nicht mehr im Paradies leben, ist es keine Sünde, einen Granatapfel zu essen. 

Ich wünsche dir, was ein englischer Freund mir einmal wünschte, als er noch nicht gut Deutsch sprach: Ich wünsche dir einen sinnlichen ersten Adventssonntag.

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Mittwoch, 20. November 2024

Erst SEIN, dann TUN



 

Ich verfolge als stille Mitleserin ein paar Blogs anderer Autor/innen, und in allen ist, wenig überraschend, im Moment die gesellschaftliche Ratlosigkeit und Resignation das beherrschende Thema. Und alle stellen die Frage: Was sollen, können wir denn jetzt tun? Die offensichtliche Antwort darauf ist, dass wir als Einzelne gar nichts dazu beitragen können, den Krieg in der Ukraine und den im Gazastreifen zu beenden, den USA einen anderen Präsidenten zu bescheren oder uns eine Regierung, die tatsächlich neue kreative Ideen für unsere Probleme hat und auch weiß, wie man sie umsetzen kann (und das Geld dafür irgendwo auftreibt).

In Zeiten der Verunsicherung neigen wir dazu, in Aktionismus zu verfallen. Der Begriff Aktionismus kommt im alltäglichen Sprachgebrauch fast zwingend mit dem Adjektiv "blind" daher. Der Philosoph Wolfram Eilenberger, den ich sehr schätze, nimmt diese sprachliche Fügung feinsinnig auseinander und sagt: "Aktivismus ist ein Bewusstseinszustand, der sich bewusst blind macht für das, was er noch nicht bedacht hat." 

Darum geht es nämlich, wenn wir in hektisches Tun verfallen: Wir versuchen, der Verunsicherung durch die Umstände mit Eindeutigkeit zu begegnen, und diese von uns selbst behauptete Eindeutigkeit wird zur Grundlage unseres Handelns. Nachzudenken, abzuwägen, Argumente hin- und herzubewegen und der eigenen Intuition zu lauschen, würde uns die äußere Unsicherheit erst bewusst machen und uns zusätzlich in innere Verunsicherung stürzen. Die Blindheit des Aktionismus ist dazu da, unsere Angst unter Kontrolle zu bringen.

Thich Nhat Hanh pflegte uns immer wieder klarzumachen: Dein Sein ist wichtiger als dein Tun. Wenn ich das in einem Vortrag sage, wird mir hinterher regelmäßig vorgehalten, dass es doch nicht im Sinne eines sozial engagierten Buddhismus sein kann, sich gemütlich in die Hängematte zu legen, während die Welt im Chaos versinkt. Ich finde es bemerkenswert, dass der Begriff Sein, wenn er im Zusammenhang mit dem des Tuns benutzt wird, offenbar negativ konnotiert ist und die Assoziation von Faulheit und Ignoranz hervorruft.

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Satz von Thay keine philosophische oder politische, sondern eine spirituelle Aussage ist. Und die Grundlage für unsere spirituelle Praxis in all ihren Facetten ist das Wissen um, die Erfahrung von oder zumindest das Vertrauen in die Verbundenheit alles Seienden. Unser Seinszustand bestimmt, wie wir denken, fühlen und leben, und all dies wiederum strahlt ungehindert aus in das große Ganze. Wir müssen uns also zuerst um unseren eigenen Zustand kümmern, und das tun wir mit dem, was wir Praxis nennen. 

Wir halten also inne, atmen und schauen uns bewusst an, was in uns und um uns herum vorgeht. Einfach wahrnehmen, klar und ohne Angst vor dem, was wir entdecken könnten. Weiteratmen. Neu hinschauen. So lernen wir uns selbst, unsere Motivationen und vor allem unsere Ressourcen kennen. Wir sehen auch die äußeren Umstände neu, ihre zahlreichen Facetten und unsere Beziehung zu ihnen. Thay nannte das Ergebnis unserer Praxis "Einsicht": Wir sehen die Dinge in der Tiefe und schauen sie nicht mehr im Licht unserer Vorurteile von außen an. Und daraus ergibt sich unser Handeln, aber jetzt ist es nicht einem blinden Aktionismus entsprungen, sondern wurzelt in unserem Sein. 

Ein solches Tun ruft kein Chaos hervor, sondern ist hilfreich für alle Beteiligten.

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Dienstag, 12. November 2024

May our voice be strong

 



Es gibt eine Legende über König Salomon, diesen weisesten der Könige in der Bibel. Wenn er die Nachricht von einer Niederlage oder dem Tod eines Getreuen erhielt und sein Hofstaat in Panik geriet, drehte er an seinem Ring, und sofort wurde er ruhig und gelassen. Eines Tages fragte ihn sein Sekretär, was denn das Geheimnis dieses Ringes sei, er hätte auch gerne so einen, um so gelassen zu werden wie der König. Salomon zog den Ring ab, und der Sekretär las die in die Rückseite eingravierten Worte: "Auch dies wird vorübergehen."

Die Ereignisse des 6. November - vor allem das in meinem Vaterland, aber auch das in meinem Mutterland - können viel in uns bewegen. Es gehen gerade zahlreiche Mails über den Atlantik, in denen von Besorgnis, Angst, Wut und Resignation die Rede ist. Ich verstehe das. Aber wir haben die Wahl, wie wir auf die Veränderungen antworten wollen.  

Die Künstler kennen die Antwort, die wir jetzt alle geben sollten: Lass dich nicht beirren. Du hast eine Aufgabe: Die Menschen zu ermutigen, zu inspirieren, zu stärken. Du bist wichtiger denn je.

Sing gently, always, sing gently as one. May we stand together, may our voice be strong.

Der amerikanische Komponist Eric Whitacre hat das, was ich jetzt für wichtig halte, schon vor Jahren in Musik ausgedrückt. Und meine Lieblings-Gruppe Voces8 hat es wunderbar interpretiert.

Nicht vergessen: Alles geht vorüber.

Und jeder.

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Dienstag, 5. November 2024

Zen und die Lust, Ordnung zu schaffen

 

Vor vierzehn Jahren fragte mich meine SWR-Redakteurin, ob ich mir vorstellen könnte, ein Feature über das Thema "Zen und die Lust, Ordnung zu schaffen" zu machen. Ich konnte und fuhr unter anderem in die Zen-Klausen in der Eifel, um mit den beiden Zen-Lehrerinnen Judith Bossert und Adelheid Meutes-Wilsing über das Thema zu sprechen.

Was ist eigentlich "Ordnung"? Ist sie eine festgelegte Größe, der wir alle zu folgen haben, oder ist sie eine Vorstellung in unserem Geist, der wir glauben, folgen zu müssen? Und was hat Zen mit Ordnung zu tun?

Sowohl Judith als auch Adelheid sind inzwischen gestorben, und es berührt mich, ihre Stimmen in diesem Feature zu hören. Ich sehe uns zusammen in der Küche beim Tee sitzen und denke noch heute manchmal, wenn ich mich auf mein Kissen in meiner bescheidenen Meditations-Ecke setze, an den schönen Zendo, den die beiden in der Eifel erschaffen haben. Die Klausen gibt es noch, schaut sie euch an: hier ist die Website.

Ein paar Jahre nach der Erst-Sendung ist das Feature mehrfach auf youtube aufgetaucht, und wenn ihr Lust habt, hört es euch doch mal an.

Und zwar hier:



Für alle, bei denen das Video nicht angezeigt wird: hier (klick).

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Mittwoch, 30. Oktober 2024

Der Supermarktkassenstress


... und dann hatte ich auch noch die Eier vergessen.

Eigentlich bin ich eine Supermarktpackexpertin. (Ich schreibe hier die Worte im Supermarktkassentempo, nämlich ohne erholsame Bindestriche. Das müsst ihr jetzt aushalten, gute Literatur stellt ihr Thema nachvollziehbar dar.) Also ich, die Expertin, ging einkaufen.

Dienstag Nachmittag, 14 Uhr. Ich dachte mir das so: Die Mittagesser haben ihre Zutaten schon gekauft, die Abendesser sind noch im Büro. Zeitlich entspannt dazwischen: Ich mit meinem Reiserucksack (internationale Kabinengröße), denn einen Wochen-Einkauf vierzig Stufen hoch in die Wohnung zu tragen ist eine sportliche Leistung, die ich mit einem Korb am Arm nicht mehr so ohne Weiteres bringe. 

Das war der Plan. Der Supermarkt aber kannte den nicht. Sie hatten nur eine Kasse geöffnet. Die Kundin vor mir kannte ihn auch nicht. 

Sie versuchte, die auf der abschüssigen Alufläche auf sie zurasenden Waren in ihren Korb zu stapeln, aber vielleicht war sie beim Gang durch die Gänge Versuchungen erlegen oder sie war generell planlos unterwegs gewesen (größter Supermarktfehler!), jedenfalls war der Korb zu klein. Sie hatte unten den Frischfisch und den Käse und packte den Sack Kartoffeln darauf. Dann merkte sie, dass das vielleicht gewichtsmäßig etwas ungeschickt war und packte alles wieder aus. Vor ihr türmten sich Konservendosen, Waschpulver, Schokolade. Dreiundvierzig zweiundachtzig, sagte die Kassiererin. Die Kundin kramte im Geldbeutel und murmelte: Ich hab die zweiundachtzig, warten Sie mal. Dann wandte sie sich zu mir um mit einem herzzerreißenden Lächeln und sagte: Ich bin gleich weg.

Keinen Stress, sagte ich zu ihr und meinte das auch so. Vielleicht hatte sie denselben Gedanken an entspannte Supermarktleerheit gehabt wie ich und war ebenso reingefallen. Sie hatte gezahlt und packte neu ein, schob die Dosen hin und her, irgendwie passte das Ganze immer noch nicht. Hinter mir staute sich die Schlange. Ich stand im engen Gang zwischen den Kassen, vor mir versuchte die Kundin weiterhin, ihre Logistikprobleme zu lösen, und die Kassiererin begann, meine Waren zügig über den Scanner zu ziehen. Weil die Alufläche belegt war, stapelte sie alles neben sich hinter die Scheibe, dorthin, wo ihre Wasserflasche stand. Auf die Bananen und Champignons packte sie die Dose Kokosmilch, die Tomaten, die Milch, die Äpfel, den ganzen Kleinkram und obendrauf auf den Turm meinen Topf Petersilie. 

Hinter der Scheibe ist wirklich wenig Platz, das wurde mir erst jetzt bewusst. Nun begann mir auch die Kassiererin leid zu tun. Es war insgesamt ein emotional aufwühlender Einkauf, und dann sagte die Frau professionell kühl: zweiundzwanzig neunundvierzig. Sehnsüchtig betrachtete ich, was ich gekauft hatte, aber nicht an mich nehmen durfte. Es war eine Situation wie auf dem Flughafen, wenn man jemanden abholt und sich durch die Trennscheibe zwischen Halle und Baggage Claim hindurch zuwinkt: Ach, da ist er ja, so unerreichbar nah!

Ich zahlte mit der Karte, um wenigstens eine Kleinigkeit rasch und effektiv zu erledigen. Während die Kundin vor mir nach einer Möglichkeit suchte, ihr Toilettenpapier unter den Korbgriff zu klemmen, nahm die Kassiererin Anlauf, breitete ihre beiden Arme aus und schaufelte meinen Warenturm in einer einzigen Bewegung auf die Einpackfläche, wo die Sachen an den Einkaufskorb der Dame prallten, die mich jetzt flehend ansah und flüsterte: Ich bin wirklich gleich weg.

Ich raffte alles planlos in den Rucksack, während die Sachen des Kunden hinter mir auf mich zurasten, und verließ mit über meinem Kopf wippender Petersilie (wo war der Camembert? Der Sahnebecher? Hoffentlich lag da nichts Spitzes drauf!) den Laden. 
 
Zu Hause stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, Eier zu kaufen.

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Mittwoch, 23. Oktober 2024

Die besondere Gelegenheit

 

Das ist nur ein kleiner Teil meiner Hut-Kollektion ...


Als ich Mitte zwanzig war, kaufte ich mir das schönste Kleid, das ich je (bis heute) besessen habe. Ein Einzelstück einer Designerin, die in einer Seitenstraße in Würzburg ihr kleines Atelier betrieb. Es war aus dunkelrotem Samt mit einem weit schwingenden Glockenrock und einer Passe, die aus einem alten Gobelin gearbeitet worden war. Es war, für meine damaligen Verhältnisse, sündteuer.

Ich suchte nach Gelegenheiten, es anzuziehen. Die Gelegenheiten wollten sich nicht so recht ergeben. Obwohl es kein Abendkleid war, sondern ein edel zurückhaltendes Design hatte, fiel ich auf, als ich es einmal auf der Straße trug. Auf Parties ging ich nicht, und als ich es beim alljährlichen Würzburger Mozartfest im Residenzgarten tragen wollte, goss es in Strömen und ich zog eine Hose an.

Jahre später ergab sich die ultimative Gelegenheit, als ich in München zum Empfang des Ministerpräsidenten in die Staatskanzlei eingeladen wurde, da ich gerade den Münchner Literaturpreis gewonnen hatte. Nun war dieser Ministerpräsident damals Franz-Josef Strauß, und ich merkte, dass ich keine Lust hatte, dem Mann die Hand zu schütteln. Aber das Kleid! Endlich konnte ich das Kleid zu einem angemessenen Anlass ausführen. Ich schälte es aus seiner Plastikhülle, und dunkelrote Samtbrösel fielen zu Boden. Die Motten hatten gründliche Arbeit geleistet.

Damit war die Entscheidung gefallen: Ich würde Herrn Strauß nicht die Hand schütteln.

Mein wunderschönes Kleid habe ich insgesamt vielleicht fünf Mal getragen. Der Abschied von ihm war schmerzhaft und hat mich etwas gelehrt: Schone deine schönen Dinge nicht für die eine besondere Gelegenheit. Die besondere Gelegenheit für das schicke Kleid, die tollen Schuhe, die irren Hüte, den Wahnsinns-Mantel ist schon da!

Du bist auch heute Morgen wieder erwacht, in einen ganz neuen, nie dagewesenen Tag hinein. Du hast ein Dach über dem Kopf und feine Sachen im Kühlschrank. Dir fallen keine Bomben auf den Kopf, du hast die Freiheit, dich überall hin zu bewegen, du darfst sagen, was du sagen willst. Du bist lebendig, du bist frei, und das feierst du jetzt, indem du dein ganz besonderes Stück anziehst und es endlich ausführst: zum Einkauf im Supermarkt, zur Zahnärztin, zum Geldabheben in der Bankfiliale. 

Die besondere Gelegenheit ist jetzt. Es ist dieser Moment. Wenn du ihn feierst, ist er immer besonders. Probiere es einfach mal aus.

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Mittwoch, 9. Oktober 2024

Frei sein!

 

 

"In Hagerstown in den USA liegt die Strafanstalt Maryland. Anfang dieses Jahrhunderts gab der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh dort mit einigen Nonnen, Mönchen und Freunden für die Gefangenen einen Tag der Achtsamkeit zum Thema Freiheit. Das war ganz schön mutig: Einhundert Männern, die zum Teil seit Jahrzehnten hinter Gittern saßen, zu erzählen, dass Freiheit eine geistige Haltung sei, die jeder Mensch einnehmen könne, egal, wo er sich gerade befinde. Sie aßen miteinander zu Mittag, übten Gehmeditation im Hof, und die Insassen bemühten sich zu begreifen, was das bedeutet: 'Wenn ihr geht, geht als freie Menschen. Wenn ihr atmet, atmet als freie Menschen.'

Ich habe mein Herkunftswörterbuch nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes 'frei' befragt. Erstaunlicherweise hat es dieselbe indogermanische Wurzel wie das Wort 'Friede' und der 'Freund'. Diese drei Worte hatten ursprünglich die Bedeutung 'schützen, schonen, gernhaben, lieben'. Die Germanen errichteten auf dem Begriff eine Rechtsordnung und im historischen Ablauf wandelte sich der Begriff zu der heute allgemeinen Anwendung des Adjektivs im Sinne von 'ungebunden, unbelastet'.

Wir benutzen das Wort also heute ausschließlich als ein Freisein von etwas: Wir sind endlich losgeworden, was uns so unfrei gemacht hat – den Job, den wir nicht mochten, die toxische Beziehung, die uns geschadet hat. Sich von Fesseln zu befreien, die unsere Entwicklung behindern, ist tatsächlich ein wichtiger Schritt auf dem Lebensweg. 

Aber frei zu sein von etwas, ist nur der erste Schritt. Die Frage ist: Wozu nutze ich meine Freiheit?"

Dies ist ein Auszug aus meinem Beitrag für die Ursache\Wirkung Nr. 124. Weiterlesen? Gerne hier (klick).

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