Dienstag, 26. Januar 2021

Diese Zeit des wabi sabi


Ich habe hier schon öfter über wabi sabi geschrieben, diese zutiefst japanische Ästhetik des Einfachen, Unperfekten und Unvollkommenen. Wabi sabi ist die verborgene Schönheit, die sich nicht aufdrängt und sich nur dem aufmerksamen Auge enthüllt. Die japanische Tee-Zeremonie, chado, ist ein Ausdruck dieser Kultur. Der Teeraum enthält nur das Allernötigste (das aber in höchster Qualität), die Teeschalen sind rau, uneben geformt und von zurückhaltender Farbe. Nichts glänzt und prunkt.

Wabi sabi wird zumeist als Stil verstanden, ausgedrückt in Design, Architektur und Gartengestaltung. Aber wabi sabi ist im Grunde eine Lebenshaltung. Menschen, die wabi sabi leben, schätzen gerade die Abwesenheit alles Überflüssigen und Lauten. Wo vorher Enge herrschte, entsteht Raum, zuerst im Äußeren, aber dadurch - denn das Äußere wirkt immer auf den Geist zurück - in ihnen selbst. Produkte, die im Sinn von wabi sabi hergestellt werden, sind übrigens nicht billig. Wer einmal eine japanische Teeschale, von einem Töpfer im Holzofen gebrannt, erstehen wollte, weiß, was ich meine. Eine solche Teeschale ist eine Anschaffung fürs Leben und wird weitervererbt durch Generationen.

Und nun ist etwas Außerordentliches geschehen. 



 
Alles Üppige, Laute und Bunte, das uns in Atem gehalten hatte, wurde geschlossen und zum Verstummen gebracht. Es ist still geworden in unserem Alltag, der aus einfachen Freuden besteht: dem Zubereiten einer köstlichen Mahlzeit, dem Besuch des einen Freundes, den wir noch empfangen dürfen, dem Gang durch den kahlen Winterwald. Die Farben um uns herum sind gedämpft, nichts leuchtet, nichts glänzt. Das Leben fühlt sich unvollkommen und unperfekt an; an manchen Tagen ist es rau, holpert und knirscht.

Das Leben hat uns kollektiv in eine Welt des wabi sabi geworfen, und wir haben jetzt die einzigartige Gelegenheit, Eigenschaften zu üben, die wir vielleicht lange nicht mehr eingesetzt haben. Wer die Schönheit von wabi sabi erkennen will, braucht Aufmerksamkeit auf die subtilen Nuancen. Dafür muss er oder sie innehalten, das Tempo aus dem Alltag nehmen, geduldig sein und lange und genau hinsehen und hinhören. Welche Schattierungen hat der Nebel? Sind die Adern des Blattes nicht ein Echo auf die Maserung des Holzes? Welche vorher verborgenen Seiten zeigt der eine Freund, auf den wir uns jetzt konzentrieren, weil kein anderer da ist? 
 



Wabi sabi schafft Raum, im Äußeren und im Geist. Wir müssen nur bereit sein, unsere Vorstellungen von dem, was ein "gutes", "richtiges" und "interessantes" Leben ist, loszulassen. Diese Vorstellungen waren seit jeher ein Ballast, den wir mit uns herumgeschleppt haben. Jetzt zieht die Leichtigkeit ein. Wir vergeuden keine Kraft mehr mit der Suche nach dem Aufregenden, Großartigen, Überwältigenden. Wir erwerben radikal neue Sichtweisen, und wie jeder Lerninhalt ist auch dieser eine Investition ins Leben. Vielleicht entsteht dabei etwas in uns, das wir weitergeben können - wie die kostbare Teeschale aus dem Ofen des Töpfers. 

Diese Zeit könnte eine der wertvollsten sein, die wir je erlebt haben.
 

1 Kommentar:

  1. Wabi sabi.... will ich noch viel viel mehr üben und das Augenmerk darauf lenken. Es lohnt sich...danke

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