Ich entdeckte ihn im Schlosspark meines kleinen Ortes im Frühjahr, als ihn das Laub seiner Kollegen noch nicht verdeckt hatte. Ich war beeindruckt: Ein Baum mit Lebensgeschichte. Etwas oder jemand hatte sich ihm vor Jahrzehnten - oder waren es Jahrhunderte? - in den Weg gestellt. Man kennt das aus dysfunktionalen Familien: Einem Familienmitglied wird aus Neid und Eifersucht die Entfaltung verwehrt. Ein schwacher Charakter wird dann resignieren und verkümmern. Ein starker lässt sich nicht unterkriegen, dem fällt eine Lösung ein.
Ich stelle mir die vor Kraft strotzenden Riesen vor, die dem Bäumchen nicht das Licht für seine Photosynthese gönnten. Der Wald ist voll von solchen selbstherrlichen Diktatoren (habe ich von Deutschlands Lieblingsförster Peter Wohlleben gelernt). Null Chance also für den Nachwuchs, aber hey, der Kleine ist klug. Dort links von ihm hat der Blitz einen der Egozentriker gefällt, und Bäumchen nutzt seine Chance. Wächst beharrlich in Richtung Lücke, was zwar ein paar Jahrzehnte in Anspruch nimmt, aber als Baum hat er ein anderes Verständnis von Zeit. Leider ist es nach oben hin auch dort ziemlich voll. Geduld ist angesagt, die hat er zur Genüge, und dann kommt seine Chance: Ein Sturm lässt den Nachbarn ächzend zu Boden sinken, und der Weg nach oben ist frei.
Im Sommer besuchte ich meinen Baum erneut und erkannte ihn kaum wieder. Er stand im Kreis seiner Geschwister, Cousins und Cousinen, die ihn vollkommen mit Grün umlaubt hatten. Ein Gerüsche und Gewoge von Blättern umgab seine Einzigartigkeit und löschte sie aus. Auch das kennen wir aus Menschenfamilien: Wehe dem, der herausragt aus der allgemeinen Mittelmäßigkeit - der wird die Macht des Kollektivs kennenlernen.
Im Oktober war ich wieder da. Ich hatte es schon geahnt: Die kleinen Geschwister waren nichts als Blender gewesen. Die ganze grüne Prachtentfaltung hatte nur dazu gedient, ihre Mickrigkeit zu kaschieren. Aber er, mein Baum, schwang sich in seinem eleganten Bogen weit über sie hinaus. Vor Jahren schon hatte er Nachwuchs gezeugt (der Begriff passte nie besser als hier), ein stolz aus der Biegung seines Körpers aufragendes Bäumchen. Vielleicht wollte er zeigen, dass er auch das Gerade hinbekommt, nicht nur das Krumme. Aber ich sehe das anders: Mein Baum hat ein Einhorn zur Welt gebracht.
Wenn ich müde bin vom erneuten Lockdown, den Kontaktbeschränkungen, dem Maskenzwang, besuche ich meinen Baum und das kleine Einhorn. Ich tue das vorschriftsmäßig im Einklang mit den Corona-Regeln, als die eine Person, die einen Haushalt besuchen darf. Bei den beiden atme ich auf. Sie leben in einer weiträumigen Zeit. Was sind schon Monate? Die beiden rechnen in Jahrzehnten.
Und meinen im Moment angeblich so gefährlichen Atem verwandeln sie in heilsame Terpene, die sie mir mit der für die Gattung Baum bekannten Güte zurücksenden.
Geht zu den Bäumen, meine Lieben.
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