Sonntag, 6. Mai 2018

Seil


Die Arbeit eines Seils ist anstrengend. Immer im Stall, immer bereit sein, und dann die Viecher, die an ihm zerren. Ein zerreißendes Leben. Aber im Mai sind Kuh und Esel auf der Weide, da schaut sich so ein Seil gern mal an, was draußen los ist. Manchmal hat es davon geträumt, sich abzuseilen in eine große Ferne, wo es sich in einen Baum schlingen und mit dem Wind schaukeln darf. In dem kuhlosen, esellosen Leben, der großen Freiheit, die doch auch für ein Seil irgendwann kommen muss.

Da hängt es also, schaut und findet das Ganze eher enttäuschend. Eine schmale Gasse, gegenüber eine Mauer, und der einzige Mensch, der vorbeikommt, macht ein Foto von ihm. Das Seil vermisst jetzt ganz leise sein Leben als Seil, in dem es immerhin eine Aufgabe hatte. Es möchte gern wieder an eine warme Kuh gebunden sein, sogar ein Esel in seiner Unruhe wäre in Ordnung. Der Mensch geht weiter mit dem Foto in seinem Kästchen, das Seil sieht ihm nach und findet den Menschen armselig. Er hat keine Aufgabe und keine Ahnung, wie es sich anfühlt, sich in das Halsfell einer Kuh zu legen, und wie friedlich es nachts im Stall ist. Er hat ein Foto, aber keine Ahnung. 

4 Kommentare:

  1. Liebe Frau Irgang!
    Danke für die letzten 2 Kommentare. Das Buch habe ich mir gleich bestellt.Die Geschichte mit dem Seil...still und mit dem gewissen Etwas, das ich immer empfinde beim Lesen Ihrer Texte! Bei der Gelegenheit stelle ich gleich die Frage, ob Sie vielleicht an einem neuen Buch schreiben?
    Liebe Frühlings,fast schon Sommergrüße Gitti Haas

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    1. Pssst ... Nicht Geborenes braucht die Dunkelheit. Eierschale, Erdhöhle ...

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  2. Ein Seil aus einem ungelegten Ei...wenn Ideen also mal schauen, was draußen so los ist ;-)...das klingt gut!

    Seile sind im Gegensatz zu Ketten sehr vielseitig und beständig gebunden. Da kommt ein größerer "Reichtum" wie ein größeres Sehnen auf- alles hat seine Zeit...Liebe Grüße!

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  3. Eine schöne Idee sein eigenes Tun aus der Perspektive eines gebrauchten Seils zu wahrzunehmen. Es ist gar nicht so leicht einen völlig anderen Blickwinkel einzunehmen, es fordert unsere Kreativität und Inspiration. So können wir uns leichter in andere hineinversetzen und fördern das Verständnis für sie. Dieser Perspektivwechsel ist aus meiner Sicht ein guter Trick, alles nicht immer nur aus der eigenen Sicht der Dinge zu betrachten, sondern objektiver zu denken.

    Danke Simon (und sei nicht zu streng mit der Fotografin :-))

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