Freitag, 25. Mai 2018

Über das Flüchten und Ankommen

Kalligrafie von Thich Nhat Hanh

In der Schule von Thich Nhat Hanh gibt es zahlreiche Gathas, was gern mit "Merksätze" übersetzt wird. Während ein Mantra von der Wiederholung lebt, bei der man, wenn man nicht aufpasst, schnell einschläft, soll ein Merksatz dem Aufmerken dienen, wach machen. Eins meiner Lieblings-Gathas ist "Ich bin angekommen, ich bin zu Hause". Wer jetzt meint, hier werde die beschwerliche Rückreise von Stau zu Stau aus den Pfingstferien beschrieben, nach der man aufatmend die eigene Wohnung betritt und sich schwört, sich nie wieder den Stress einer Ferienreise anzutun, liegt sehr daneben. Es geht nicht um einen Ort. Es geht um Zeit, vielmehr: Um die einzige Zeit, die es gibt, und deshalb um die Zeitlosigkeit.

Das Gatha weist uns darauf hin, dass es nur diesen Augenblick gibt, weil Vergangenheit und Zukunft nichts als Konstrukte unseres Geistes sind. Wo sonst sollen wir ankommen, wenn nicht in diesem Augenblick? Genauer gesagt: Wir sind bereits dort. Wir sind immer schon im Hier und Jetzt, nur entgeht uns das leider meistens. Jetzt aber, vom Merksatz wach gerüttelt, sehen wir es: Ja, jetzt fühlt sich mein Leben richtig an, hier gehöre ich hin, hier bin ich zu Hause. Hier, im Augenblick, entfalten sich die Dinge der Welt nach ihren eigenen Gesetzen, und weil ich frei bin vom Nachgrübeln über die Vergangenheit und Erhoffen einer imaginären Zukunft, bin ich wach, die Gesetze zu erkennen und nach ihnen zu handeln. Hier, im Augenblick, findet Begegnung statt, in diesem Blick, diesem Satz.

Ich wohne am Anfang einer ziemlich langen Straße, an deren Ende eine Unterkunft für Flüchtlinge steht. Auf dem Weg zum Bus, zur Bahn, zur Stadt müssen sie an meinem Haus vorbei. Wir haben hier Syrer, Afghanen und Afrikaner aus diversen Ländern. Sie kommen an mir, die ich gerade aus dem Wagen steige oder den Vorplatz fege, vorbei - allein, zu zweit, zu fünft oder auf dem Rad - und alle, wirklich alle grüßen. Sie rufen mir ihr Hallo! zu mit einem herzzerreißenden Eifer, in dem Land, in dem sie angekommen sind, alles richtig zu machen. Ich bin noch nie so viel gegrüßt worden in meinem Vorort, es ist fast zu viel, aber ich grüße zurück, weil ich möchte, dass sie nicht nur hier angekommen sind, sondern sich zu Hause fühlen können. Und wenn es nur für diesen Augenblick ist, dem Augenblick der Begegnung.

1 Kommentar:

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