Donnerstag, 27. Juli 2023

Warum Meditation?

 

Als ich vor vierzig Jahren anfing zu meditieren, erzählte ich das erst mal niemandem. Leute, die Yoga, Meditation oder Tai Chi ("Was ist das denn?") praktizierten, galten damals als Freaks. Ich war bekannt als literarische Autorin, hatte bereits drei Bücher veröffentlicht und konnte mir vorstellen, was meine von Berufs wegen kritischen bis zynischen Kollegen und Kolleginnen von mir halten würden. Ein Jahr lang lebte ich als Literatur-Stipendiatin in Rom in der Villa Massimo. Zweimal während dieser Zeit verschwand ich mit einem gemurmelten "Bin in der Schweiz" für eine Woche zu einem Zen-Sesshin. Allmählich sickerte was durch. Der Kommentar eines Kollegen war bezeichnend für die Einstellung jener Zeit: "Ach so, du gehörst auch zu den Egoisten, die nicht interessiert sind an der Veränderung der Gesellschaft."

Vor ein paar Wochen sprach ich mit einer Person, die von Meditation ebenso wenig hielt wie mein damaliger Kollege. Ihr Argument war ein anderes: "Das ist doch nur eine Mode-Erscheinung, die sich in Kürze von selbst erledigen wird."

Aha. Dann wollen wir uns mal mit der Frage beschäftigen: Warum überhaupt Meditation? Wofür dient sie, was bewirkt sie, haben diese Egoisten, die auf ihren kleinen Kissen an die Wand starren, stichhaltige Argumente für ihre seltsame stille Beschäftigung?

Fangen wir groß an: Mit der Bedeutung der Meditation für die Gesellschaft. Professor Dr. Thomas Metzinger - ein Zen-Praktizierender und Intellektueller, der ganz bestimmt nicht bekannt ist für schöne Worte und heiteren Optimismus - spricht in diesem Video darüber, dass wir als Gesellschaft eine ethische Einstellung unseren eigenen geistigen Prozessen gegenüber finden und systematisch wertvolle geistige Zustände kultivieren müssen. Er spricht von der derzeitigen "Achtsamkeits-Zerstörungs-Industrie" und fragt, wie es mit der Würde der nicht-menschlichen Tiere bei uns bestellt ist. (Schlecht, sehr schlecht!)

"Spirituelle Leute wollen nicht glauben, sondern wissen" ist eine seiner bekannten Aussagen, die ihm von Seiten der Kirchen einigen Ärger eingebracht haben. Denn es geht ihm ausschließlich um eine säkulare Spiritualität, praktiziert als ein Erkenntnisprojekt, in dem wir lernen, radikal ehrlich mit uns selbst zu sein. Achtsamkeitspraxis ist für ihn "eine elementare Kulturtechnik wie Lesen oder Schreiben". 

Nehmt Euch 48 Minuten Zeit, um diesen grundlegenden Vortrag zu hören.

 


 

Klug, fundiert, wichtig - und ziemlich nüchtern, nicht wahr? Nach diesem Vortrag stürzen sich vermutlich die Menschen nicht scharenweise in die Meditationshäuser, um endlich mit dieser wunderbaren Praxis anzufangen. Deshalb eine kleine, nicht unwesentliche Ergänzung aus meiner vierzigjährigen Sicht als Praktizierende und Lehrende.

Viele Menschen wenden sich der Meditation zu, weil sie ihren Stress abbauen, ruhiger und gesünder werden wollen. Das alles kann Meditation leisten, aber es ist im Grunde nur eine "Nebenwirkung" der Praxis. Metzinger zitiert gern Krishnamurti, dessen messerscharfer Intellekt dem seinen entgegenkommt. Ich durfte Krishnamurti zwei Sommer lang in Saanen in der Schweiz erleben. Ja, er war ein kompromissloser Denker - aber gleichzeitig ein Erleuchteter. Ich verwende bewusst diesen Begriff: Krishnamurti leuchtete. Er strahlte eine unbedingte Liebe aus, die nicht thematisiert wurde und keiner Worte bedurfte, aber jeden Einzelnen in dem riesigen Zelt nicht nur berührte, sondern nachhaltig verwandelte. Dasselbe habe ich bei Thich Nhat Hanh erlebt und später bei Adyashanti. Das Erwachen (ein Begriff, den ich bevorzuge) zu unserem Wahren Wesen ist immer mit Glückseligkeit und dem Gefühl tiefer Liebe für alles Seiende verbunden. Man muss das wenigstens einmal erlebt haben, um zu verstehen, in welch einem trostlosen Geisteszustand wir in unserem Alltag verharren.

Es sind nur wenige Menschen, denen es vergönnt ist, unablässig im erwachten Zustand zu verweilen. Man findet sie eher in Indien als bei uns; die westliche Lebensweise bietet keine gute Basis für das Aufrechterhalten dieses Zustands. Aber jeder und jedem von uns ist es möglich, immer wieder erneut einen Durchbruch zu erleben in die Glückseligkeit, Stille und Weite unseres Wahren Wesens. Ich weiß das aus eigener Erfahrung und habe es viele Male bei Teilnehmern in meinen Retreats erlebt. Mit jeder erneuten Berührung verändern wir uns auf eine so grundlegende Weise, wie wir uns das vorher nie vorstellen konnten; eine Veränderung, die anhält, auch wenn der Zustand der Glückseligkeit allmählich wieder dem Alltagsbewusstsein weicht.

Wenn ich dies einmal erlebt habe, stellt sich mir die Frage nicht mehr, ob meine Praxis wertvoll ist für die Gesellschaft. In der Verbundenheit gibt es keine "Gesellschaft" mehr. Da sind nur Wesen menschlicher und nicht-menschlicher Art, auf die mein Wahres Wesen seine Glückseligkeit, Stille, Weite und Liebe ausstrahlt. Und jede Handlung, zu der ich dann vielleicht inspiriert werde, wird heilsam sein.

Das ist der eigentliche Sinn jeder Meditationspraxis.


Sonntag, 9. Juli 2023

Gleichmut - oder Gleichgültigkeit?



Eine der wunderbaren Folgen des Meditierens ist die Fähigkeit, Dinge intensiver wahrzunehmen und dabei Nuancen zu entdecken, die uns früher entgangen sind. Die Sinne werden feiner und lassen Düfte, Klänge und Farben ein, die wir nicht kannten. Aber wir entdecken auch die subtilen Unterschiede in unseren Geisteszuständen, die zu falschen Urteilen und unheilsamem Verhalten geführt haben, und das fühlt sich dann erst mal nicht so wunderbar an. 

Im Buddhismus gibt es das Konzept der "nahen Feinde". Das sind Geisteszustände, die auf den ersten Blick täuschend gleich aussehen, sich jedoch bei genauem Hinsehen geradezu als Gegensätze erweisen. Eins dieser Gegensatzpaare ist Gleichmut/Gleichgültigkeit.

Nehmen wir an, wir sitzen auf unserem Balkon in der Sonne, unten grillt der Nachbar mal wieder Würste (wir sind Vegetarier ...) und der Hund von nebenan bellt pausenlos. Aber die Sonne ist schön warm, der Himmel ist blau, und weil wir uns zwischen unseren Blümchen gerade wohlfühlen, nehmen wir den Nachbarn, den Wurstgeruch und den Hund mit Gleichmut hin.

Gleichmut ist eine fabelhafte Praxis, die sich irgendwann mit Sicherheit als wichtig erweisen wird. Wir fangen klein an mit der Übung und antworten erst mal gleichmütig auf eine Situation, die wir als nicht rundum optimal empfinden (Nachbarn, Hunde). Etwas fehlt, etwas stört, aber gleichzeitig ist da so viel, das wir als wertvoll empfinden, dass wir das uns Störende mit Gleichmut annehmen. Diese Übung wird uns zugute kommen, wenn es mal richtig dicke kommt: Wenn die großen Themen uns besuchen, die Krankheit, der Verlust, das Sterben von diesem und jenem. Dann zeigt sich, wie gut wir gelernt haben, das Unvermeidliche mit Gleichmut anzunehmen.

Gleichgültigkeit dagegen sagt: Das geht mich nichts an. Du gehst mich nichts an. Es ist mir egal. Du bist mir egal. Gleichgültigkeit ist der verschlossene Geist, ist die Weigerung, unsere All-Verbundenheit anzuerkennen. Die Haltung der Gleichgültigkeit kommt aus dem Ego, das nur an seinen eigenen kleinen Vorteilen interessiert ist. 

Die Gleichmütige bleibt verbunden mit allem, was ist, und eben wegen dieser Verbundenheit auch in schwierigen Situationen braucht sie ihren Gleichmut, um nicht von den Umständen hinweggefegt zu werden. Der Gleichgültige jedoch hat sich von vornherein herausgenommen aus der Verbundenheit alles Seienden und verharrt hinter seiner Mauer in seinem eigenen kleinen Garten. Er weiß nur noch nicht, dass auch sein Leben mitsamt seinem Herzen, Geist und Körper der Veränderung unterworfen ist, und dass seine kleine selbstgebaute Mauer von Anfang an völlig nutzlos war. Irgendwann steht er dann da, mitten in einem der großen Themen, das ihn absolut nicht gleichgültig lässt, nein, er ist erschüttert, fühlt sich geradezu vernichtet. Und jetzt weiß er nicht, wie er mit der Situation umgehen soll, denn Gleichmut lernt man nicht auf die Schnelle.

Wir sitzen also auf unserem Balkon, oben die Sonne, unten so allerlei, und jetzt geht ein heftiger Gewitterschauer nieder. Es hagelt sogar. Wenn wir jetzt immer noch stoisch sitzen bleiben, sind wir nicht mehr gleichmütig, sondern offenbar gleichgültig gegenüber unserer Gesundheit und unserem Wohlergehen. Wie gesagt: Ziemlich nahe Feinde, die beiden. Man muss echt aufpassen.

Mit diesen Worten - geschrieben auf meinem Balkon - verabschiedet sich mein Blog in eine kleine Sommerpause. Habt es schön luftig und kühl in den nächsten Wochen. Wir sehen uns wieder.



Sonntag, 2. Juli 2023

Der unsichtbare Pfad


"Der persische Sufi-Mystiker Al Ghazzali sagte: 'Das Betreten des geistigen Pfades gleicht dem Abschießen eines Pfeils auf ein unsicheres Ziel, sodass man nicht weiß, was der Pfeil treffen wird.' Wie geht das überhaupt, den geistigen Pfad betreten? Wird man Schüler einer Lehrerin, eines Gurus oder eines Lamas? Gelobt man Gehorsam, legt man Gelübde ab, nimmt man eine spirituelle Praxis auf? All das ist möglich und bis heute hilfreich. Ich schlage eine andere Interpretation vor, die eine formale Praxis zwar keineswegs überflüssig macht, sie aber enorm vertiefen kann.

Wir gehen dann auf dem geistigen oder spirituellen Pfad, wenn wir uns bewusst sind, dass jede Handlung, jeder Schritt und jeder Gedanke sowohl auf der sichtbaren als auch auf geistiger Ebene stattfinden. Und wirken. Immer. Ob wir das bemerken oder nicht. Deshalb können wir sämtliche Umstände unseres Lebens zur Schulung unseres Geistes nutzen, genau dort, wo wir uns gerade befinden: inmitten unseres ganz gewöhnlichen Lebens. 'Mein' Geist ist aber kein kleiner Garten mit einem Zaun drumherum, in dem ich tun kann, was ich will. Auf subtile Weise ist mein Geist mit allem verbunden, was ist. Und so ist die Schulung meines Geistes ein Dienst für die Welt. Eine Gabe, die ich anderen schenken kann, auch wenn sie von dem Geschenk nichts wissen."

(Auszug aus meinem Buch "Geh, wo kein Pfad ist, und hinterlasse eine Spur", Herder Verlag)

 

Donnerstag, 22. Juni 2023

Esther Kinsky. Sehen.

 

 

Vor vielen Jahren entdeckte die Schriftstellerin Esther Kinsky bei einer Reise durch die südungarische Tiefebene ein verlassenes Kino. Zum Kino - genau gesagt: zu der besonderen Form des Sehens, zu der das Kino einlädt - hatte sie seit jeher eine Beziehung. Esther Kinsky kaufte das alte Kino, voller Hoffnung, einen "Raum des gemeinsamen Sehens" zu erschaffen. Die Geschichte des Kino-Kaufs zieht sich durch diese beiden Bücher, jedes ist auf seine Weise berückend schön.

Esther Kinsky fotografiert auch. Vor ein paar Wochen besuchte ich die Ausstellung ihrer Bilder (die übrigens im Buch "Weiter sehen" abgedruckt sind) in Freiburg. Es passte, dass kein Besucher da war, auch keiner, der mir was erklären wollte. Ich sah Bilder der Stille in Nicht-Farben: Bröckelnde Mauern, verlassene Höfe, struppige Hunde, herausgerissene Kinosessel. In ihrem Buch "Banatsko" sagt die Protagonistin einmal auf die Frage, warum sie solche Fotos mache: "Ich betrachte die Sprache der Dinge."

"Weiter sehen" fragt danach, WIE wir sehen. Beim Wie geht es um den Platz, den man selbst sehend einnimmt. Um den Blickwinkel und die Distanz zu den Dingen, Bildern, zum Geschehen, zu Nähe und Ferne, zur Weite: "Die Weite ist mehr als Ferne, sie ist das, was man an Möglichem zulässt." Das alte Kino ist gestorben, und Esther Kinsky denkt darüber nach, was das für eine Gesellschaft bedeutet: Ein Ort des gemeinsamen Sehens wird aufgegeben zu Gunsten des privaten Sehens in Internet und Mediathek. Ein philosophisches Buch, durchwoben von geradezu phantastisch anmutenden Geschichten von Menschen und Begegnungen. Mit Fotografien. Suhrkamp Verlag.

(Werbung) Wenn Ihr online bestellen wollt, empfehle ich Euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert, und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. Hier (klick) "Weiter sehen" bestellen.

 


 Ein bescheidener Handy-Schnappschuss aus der Ausstellung. Das Glas spiegelt leider.

 

In "Banatsko" findet Esther Kinsky ein Dorf im Niemandsland von Ungarn, lässt sich nieder (und entdeckt ein verfallenes Kino ...). "Der Horizont lädt ein zum steten Absuchen der Ferne in Erwartung einer unbekannten Veränderung." Es ist still, der Wind weht übers flache Land, die Menschen sind schweigsam, der Akkordeonspieler, der Schneider und Attila: "Wenn wir auf der Veranda saßen, lernten wir kleine Lektionen der Vertrautheit, jenseits der Sprache. Was wir sagten, war Zubehör, das Mobiliar einer Intimität." Banatsko durchquere ich lesend wie einen Traum: Ich sehe Menschen, die anders sind als alle, die ich kenne, ich verliere mich in der Weite der ungarischen Tiefebene, die Farben sind gedämpft, nichts ist hier grell, glänzend oder neu. "Banatsko" ist eine Ode an die Melancholie, geschrieben in einer Sprache, die süchtig macht. "Banatsko", Verlag Matthes & Seitz 

 "Banatsko" bei Buch7 bestellen hier (klick)

 

Sonntag, 18. Juni 2023

Morgengruß

 

Wenn du um halb sechs Uhr aufstehst - alles still, der Vorort schläft, die Fensterläden ringsumher sind geschlossen (warum schließt man im Sommer die Nachtkühle aus? Rätselhaft) -, wenn du also gähnend und schlafwarm aus dem Fenster schaust, eigentlich nur das Wetter prüfen willst ...

... und über dir, genau über deinem Haus, steht ein Morgengruß am Himmel, geschickt von Werweißdasschon, aber eindeutig extra für dich (Meditationsanweisung: Wach sein, wach sein, sonst entgeht einem das Entscheidende!), und du guckst hinauf, verstehst die Botschaft sofort und schüttelst die kleinen unangenehmen Begebenheiten von gestern, die noch irgendwo in den Winkeln des Geistes nisten, ab und richtest dich neu aus ...

... weil du dich wieder an die Leichtigkeit des Seins im Augenblick erinnerst, an die luftige Weite, die jeder Moment hat, wenn du ihn nicht mit dem Grübeln über längst Vergangenes beschwerst, und dein Tee schmeckt köstlich (gestern schmeckte er nicht) und dein Porridge ist genau richtig gewürzt und du weißt: An einem solchen Morgen wird ein Tag geboren, an dem die Dinge leicht und selbstverständlich im genau richtigen Moment am genau richtigen Platz sein und geschehen werden ...

... und das werden sie auch morgen tun und sein und übermorgen, weil du jetzt die Ballons nicht mehr brauchst als Erinnerung und weil Botschaften präzise an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit für eine bestimmte Person auftauchen und schnell wieder verschwinden, und wenn jemand anderes aus einem anderen Fenster geschaut haben sollte, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie oder er nichts weiter gesehen hat als drei Ballons an einem Sommermorgen über einem Vorort von Freiburg ...


Freitag, 9. Juni 2023

Grete Weil

 

 

Bei einem Empfang unseres gemeinsamen Verlags Benziger in Zürich lernten wir uns Anfang der 1980er Jahre kennen. Unsere Lektorin Renate Nagel machte uns miteinander bekannt ("Sie leben doch beide in München"). Grete Weil fiel auf: Eine elegante alte Dame, die sich an dem im Literaturbetrieb üblichen Small Talk nicht beteiligte. Sie saß in ihrem Sessel und beobachtete hellwach und mit scharfem Blick das Treiben um sie herum. Ich dachte: Diese Frau ist kompromisslos, sie lässt sich nichts vormachen. Wenn sie so schreibt, wie sie schaut, werde ich ihre Bücher mögen. Sie schrieb so.

In den folgenden Jahren trafen wir uns öfter, in ihrem bezaubernden Haus mit dem großen Garten in Grünwald oder auf Spaziergängen mit ihrem tibetischen Tempelhund ("Sie heißt Shagi wie die Abishag in der Bibel, die den alten Salomon gewärmt hat"). Wir sprachen über das Schreiben, das Leben, die Menschen, Reisen, die Nazi-Zeit. Der Erfolg war spät zu ihr gekommen. Sie war bereits Anfang siebzig, als sie mit "Meine Schwester Antigone", jenem Buch, das uns zusammengeführt hatte, über Nacht bekannt wurde. Da hatte sie bereits etliche andere Bücher veröffentlicht, aber die Zeit war noch nicht reif für das, was Grete Weil zu erzählen hatte.

Mit ihrem Mann Edgar Weil, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, war sie nach der Machtergreifung der Nazis nach Holland emigriert, wo sie u.a. als Fotografin arbeitete. Nach der Kapitulation der Niederlande wollte das Paar nach Kuba emigrieren, beide hatten bereits die Pässe in der Hand. Da wurde Edgar Weil auf der Straße verhaftet und später im KZ Mauthausen ermordet. Grete arbeitete beim Jüdischen Rat, tauchte später unter und überlebte. Alle ihre Bücher erzählen in Varianten immer neue Facetten der Lebensgeschichte einer Jüdin in den 1930er und 1940er Jahren.

In Tramhalte Beethovenstraat ist es Andreas, der als Berichterstatter einer Münchner Zeitung in der Amsterdamer Beethovenstraat (Grete Weil hat dort selbst gelebt) 1941 Zeuge der nächtlichen Deportationen wurde. Seine Frau Susanne überlebte als verfolgte Jüdin nur, indem sie sich in Schuld verstrickte. Die Ehe ist schwierig, die Vergangenheit wiegt zu sehr. Grete Weil erzählt hier, wie in all ihren Büchern, gleichzeitig vom schwierigen Weiterleben in Deutschland: Wie kann man Unbetroffenen und Skeptikern existenzielle Erfahrungen mit-teilen, sodass sie wirklich erfahrbar werden? Literarisch gesehen finde ich dieses Buch ihr bestes. Verlag Das kulturelle Gedächtnis

(Werbung) Wenn Ihr online bestellen wollt, empfehle ich Euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert, und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. "Tramhalte Beethovenstraat" hier (klick) bestellen.


Ans Ende der Welt. Dies ist das erste literarische Zeugnis der Deportation holländischer Juden durch die Nazis. Voller Szenen, die Grete Weil als Emigrantin in Amsterdam selbst mitangesehen hatte: die Abholung der Familien, der Aufenthalt im Theater Schouwburg, das als Sammellager dient, die Arbeit des Jüdischen Rates, der die Verhafteten beruhigt und versorgt, die Arbeit einer Widerstandsgruppe. Und die Verhöre durch die Nazis, die die Gefangenen dazu bringen, Verrat an ihren Nächsten zu begehen. Aber wie in fast all ihren Büchern deutet Grete Weil auch hier die Möglichkeit der Liebe an, als Gegenentwurf zu der allgegenwärtigen äußeren Düsternis. Verlag Das kulturelle Gedächtnis.

"Ans Ende der Welt" hier (klick) bestellen.



Ich kann mich nicht erinnern, dass Grete je von ihrem allerersten Roman gesprochen hat, den sie im Exil verfasste, aber vor Kurzem fand sich in ihrem Nachlass, der in der Münchner Monacensia aufbewahrt wird, ein Skript, das jetzt unter dem Titel Der Weg zur Grenze bei C. H. Beck erschienen ist. Der Roman spielt im Jahr 1936. Der Mann der jungen Jüdin Monika ist im KZ Dachau getötet worden. Auch sie wird von der Gestapo gesucht und flieht zu Fuß und auf Skiern über die Grenze nach Österreich. Durch einen Zufall wird sie von einem jungen Lyriker begleitet, dem sie unterwegs und in der geheimen Berghütte ihr Leben erzählt. Monika ist das Alter Ego von Grete Weil, und wir erfahren viel von ihrer Kindheit als Tochter aus wohlhabendem Haus und dem sorglosen Leben in München und Berlin vor dem Krieg. Und auch hier wieder - diesmal ganz konkret - das Lebensthema: Wie kann ich einem zwar wohlmeinenden, aber arglosen Menschen klarmachen, was wirklich im Nazi-Deutschland geschieht. Und wie kann ich das Ausmaß des Schmerzes im Leben der Verfolgten in Worte fassen. Das Buch ist ein wichtiges Zeitzeugnis, hellsichtig und scharf beobachtet. C. H. Beck Verlag

"Der Weg zur Grenze" hier (klick) bestellen.

Leider sind der Roman "Meine Schwester Antigone" sowie etliche andere Bücher nur noch antiquarisch erhältlich. Angeblich soll das Werk von Grete Weil nach und nach neu aufgelegt werden. Ich bitte doch sehr darum. Es gibt einen guten Wikipedia-Eintrag zu Grete Weil: hier (klick)

Grete Weil starb mit 92 Jahren im Mai 1999 in München.


Sonntag, 28. Mai 2023

Die Zukunft ist bereits da


"Wir sind oft so fokussiert auf einen Plan oder ein Ziel, dass wir unser Eingebundensein in den großen Weltzusammenhang vergessen. Alles Seiende verändert sich unablässig aufgrund von zahllosen miteinander vernetzten Bedingungen, und die Veränderungen geschehen nicht schön geordnet nacheinander, sodass wir in Ruhe darüber nachdenken können, sondern gleichzeitig. Unser lineares Denken aber kann diese Gleichzeitigkeit nicht erfassen. 

Der buddhistische Mönch Matthieu Ricard sagt: „Da wir intuitiv von Linearität ausgehen, missverstehen wir die komplexen Dynamiken ökonomischer und ökologischer Systeme und halten an der Illusion fest, wir könnten deren Zukunft vorhersagen und damit kontrollieren.“ Geht es nicht bei all unseren Bemühungen, die Zukunft zu unseren Gunsten zu manipulieren, um Kontrolle? Das Bedürfnis nach Kontrolle entsteht aus dem Wunsch nach Sicherheit, und die Tatsache der unablässigen Veränderung verunsichert uns verständlicherweise sehr. Wie viele teure und überflüssige Versicherungen werden deshalb abgeschlossen, Eheverträge werden juristisch wasserdicht ausgeklügelt. Aber weil das alles ja nicht hilft gegen die Angst vor der Unsicherheit, verschließen wir unsere Herzen und lassen andere Menschen und neue Erfahrungen nur nach genauester Prüfung hinein. 

Wir vergessen so leicht, dass auch wir eingebunden sind in das Ganze, wie scheinbar klein auch unser Spielraum sein mag. Wir nutzen das Kostbarste nicht, das wir haben: unsere Fähigkeit, Mitschöpfer einer heilsamen Zukunft zu sein."

Dies ist ein Auszug aus meinem Artikel "Die Zukunft ist bereits da" in der Ursache\Wirkung Nr. 118. Ihr könnt ihn in ganzer Länge jetzt lesen hier (klick)

 


Dienstag, 23. Mai 2023

Eine Frage der Perspektive

 


Ein Grashalm kann mühelos den größten Berg überragen.

Alles eine Frage der Perspektive. 

(Dies ist für Dich, falls Du Dich im Leben eher als fragilen Halm denn als Berg fühlst.)

 


Freitag, 12. Mai 2023

Heimat

 

Heimat

Wo wir die Blumen gezählt haben

Wo uns der Vogelruf der ausbleibt
verstört

Wo die Liebe der Katze pünktlich ist
wie der Hunger
und uns nicht gilt

Wo wir einander nicht grüßen müssen
wenn einer schweigen will

Wo wir gelernt haben:
Was nicht gesehen wird
stirbt

Margrit Irgang

 

Montag, 1. Mai 2023

Tolerieren - oder zulassen?

 Tolerieren? Zulassen? Aussiedeln?

 

Gestern las ich mal wieder Zeitung. Eine Zeitung, irgendeine; die Formulierung, die mir auffiel, ist überall zu finden. In dieser Tageszeitung wurde ich mehrfach aufgefordert, etwas zu tolerieren: die Flüchtlinge, die andere Lebensweise der Flüchtlinge, den Lärm aus der Kneipe, solange er nicht nach zehn Uhr anhält, die Kinder in der Nachbarschaft, gewisse Grenzwerte an Luftverschmutzung und Wasserbelastung ("Ihr Körper kann das tolerieren"). In der Wochenend-Beilage mit den bunt-vermischten Themen empfahl eine Ehe-Beraterin, "die kleinen Eigenheiten des Partners großzügig zu tolerieren".

Ich möchte mit niemandem verpartnert sein, der meine Eigenheiten großzügig toleriert. Ich möchte dem Paar aus Ghana, das weiter unten im Flüchtlingsheim lebt und mit seinen beiden Kleinen auf dem Weg zur Bushaltestelle ist, nicht vermitteln, dass ich es toleriere. Ich möchte auch meinen Körper nicht zur Toleranz ungesunder Verhältnisse erziehen.

Weil die Haltung der Toleranz besagt: Also eigentlich mag ich dich und dies und jenes nicht so recht, eigentlich würde ich mir wünschen, dass du und dies und jenes ganz anders sind (so, wie ich bin und wie ich es gut finde), aber nun ja, ich will großzügig (zeitweise, abschnittsweise, vorerst) über deine Unvollkommenheit hinwegsehen und dich tolerieren.

Toleranz enthält den feinen Hauch der Herablassung. Des Rechthabens. Toleranz ist Trennung: Ich fühle mich getrennt von der Person oder Situation, die Eigenschaften hat, die mir unangenehm sind - aber ich bin auch getrennt von mir selbst, denn das Tolerieren befreit mich keineswegs von dem unbehaglichen Gefühl, das von dem zu Tolerierenden in mir ausgelöst wurde. Toleranz ist Neinsagen. Und das ist nicht das kraftvolle Nein, das wie ein reinigendes Gewitter ist, sondern ein kraftloses Nein, das schwächt.

Neulich bekam ich von Amts wegen die Nachricht, dass ich als Fahrerin meines Pkws bei einer Geschwindigkeitsmessung den Toleranzbereich um zehn Kilometer pro Stunde überschritten hätte. Das war teuer. Auch der Toleranzbereich der meisten Menschen ist nach meiner Erfahrung ziemlich klein, und wenn man ihn überschreitet, bekommt man so richtig Ärger.

Wagen wir das Experiment, die Haltung der Toleranz durch etwas Radikales zu ersetzen: das Zulassen dessen, was anders ist als wir, anders denkt, anders lebt? Das Andere, das so sein darf, wie es ist: bunt, interessant, vielleicht unbegreiflich, vielleicht herausfordernd. Zulassen heißt: die Vielfalt feiern, das Variantenreiche, genau das, was ich nicht bin. Ohne den Wunsch, den anderen und das andere nach meinen Vorstellungen hinzubiegen.

Zulassen ist eine liebevolle Geste. Und weil ich auch mir selbst gegenüber liebevoll bin (ich toleriere mich ja nicht - ich lasse mich zu, mit all meiner Unvollkommenheit), wird das Zulassen nie zur Zumutung. Wer liebevoll mit sich selbst umgeht, definiert klug das, was wichtig und notwendig ist, um das eigene Wohlbefinden zu erhalten, und handelt danach. Da wir ja liebevoll Zulassende sind und im Bewusstsein der Nicht-Trennung leben, wissen wir, dass unsere eigene Freude, Kraft, Zuversicht, Freiheit und unser Frieden unerlässlich sind für die Freude, Kraft, Zuversicht, Freiheit und den Frieden in der Gesellschaft. 

Zulassen ist Jasagen, auch wenn wir manchmal liebevoll Nein sagen müssen.