Wer hier schon länger mitliest, weiß, wie sehr ich die Bücher von Elizabeth Strout liebe. Im öffentlichen Bücherregal habe ich zu meiner Freude jetzt einen ihrer frühen Romane entdeckt, den ich schon kannte, aber beim zweiten Lesen so gut fand wie beim ersten. Lasst euch nicht von dem nichtssagenden Titel abschrecken. Im Original heißt er "The Burgess Boys"; das wäre stimmiger gewesen, denn es geht um die Geschichte der Brüder Jim und Bobby Burgess in der Kleinstadt Shirley Falls in Maine (und ihrer Schwester Susan, die im Titel nicht vorkommt, was aber zu ihrer Rolle in dieser Familie passt).
Seit Bob mit vier Jahren die Handbremse am Auto gelöst und den Vater überfahren hat, ist in dieser Familie alles aus den Fugen geraten. Jim hat sich scheinbar frei gemacht vom Kleinstadtmief und den familiären Depressionen und ist ein Staranwalt in New York mit zwei Kindern und einer wohlhabenden Frau. Susan dagegen ist geschieden, hat einen sechzehnjährigen Sohn, der zum Autismus neigt, und kriegt ihr Leben nicht auf die Reihe. Das fragile Gefüge der Burgess-Kinder gerät ins Rutschen, als Zach, Susans Sohn, einen Schweinekopf in die Moschee der Somalier wirft (er hat keinen Schimmer, warum er das getan hat) und der Generalstaatsanwalt ihn wegen Verletzung der Bürgerrechte anklagt.
In diesem Rahmen nun entfaltet sich die Dynamik zwischen den Geschwistern, und Elizabeth Strout zeigt die Ambivalenz der Gefühle in Dialogen, die zwischen Sarkasmus, Zuneigung, Mitgefühl und Wut oszillieren. Jeder hat seine Meinung über den anderen, aber wenn es darauf ankommt, unterstützen sie einander bedingungslos. Jeder spielt immer noch die Rolle, die von ihm und ihr seit der Kindheit erwartet wird. Der Strahlende, der Schuldige, die Hässliche. Aber Rollen sind nicht die Wahrheit, und als Jim seinem Bruder etwas beichten muss, brechen alte Gewissheiten zusammen und machen Platz für eine ganz andere Zukunft.
Elizabeth Strout weiß: das Leben ist unvorhersehbar, unordentlich, oft schmerzhaft, aber manchmal auch so überraschend schön. Ihre Gestalten straucheln, verirren sich, treffen haarsträubende Entscheidungen und haben doch tief innen - obwohl es ihnen selten bewusst ist - eine große Liebe zum Leben und zueinander. Das alles erzählt Elizabeth Strout ohne Sentimentalität, voller Verständnis und Wärme. Ein schönes Buch für einen kalten Winterabend, zu lesen unter einer kuscheligen Decke auf dem Sofa.
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