Mittwoch, 22. Oktober 2025

Zug wo? Ich mach!


 
Mai 2025, Fahrt nach Salzburg zum Retreat. Ich habe einen schönen Zug ausgesucht, 9.30 Uhr ab Freiburg, umsteigen in Stuttgart, dann gemütlich bis Salzburg. Nach dem geruhsamen Frühstück schaue ich mal vorsichtshalber auf meine DB-App und erfahre "Ihr Zug fällt aus." Gesendet um 2 Uhr nachts. Da schläft die Seminarleiterin, sie muss ja um 18 Uhr ausgeschlafen am Zielort sein.
 
Ich sause zur S-Bahn und steige am Hauptbahnhof in den nächstbesten Zug in Richtung Norden. Es ist ein ICE nach Hamburg; meine App empfiehlt mir, in Frankfurt in den Zug nach München umzusteigen. Der Zugbegleiter sieht das anders und empfiehlt den Umstieg in Mannheim: "Es könnte sein, dass Sie Ihren Anschlusszug in München sonst nicht erreichen". Es ist fünf Minuten vor dem Einlaufen in den Mannheimer Bahnhof und die Umstiegszeit beträgt vier Minuten von Gleis 2 auf, soweit ich mich erinnere, Gleis 6. Der junge Zugbegleiter findet das völlig ausreichend: "Das schaffen Sie!"
 
Soll ich? Soll ich nicht?
 
Ich wage es, stürze aus dem Zug und renne auf die Treppe zu. Dort steht ein etwa dreißigjähriger, nicht-deutsch aussehender Mann, der in Windeseile begreift, was hier auf dem Spiel steht. Er packt meinen Koffer und ruft: "Zug wo? Ich mach!", und gemeinsam rasen wir die eine Treppe hinunter, durch den unterirdischen Gang hindurch zur anderen Treppe und hinauf auf Gleis 6, wo der Zugbegleiter des ICE gerade seinen linken Fuß einziehen will, um den Knopf zu drücken, der die Türen schließen wird. Und jetzt geschieht das Wunder, dass dieser Mann die Konstellation junger rennender Araber mit Koffer und alte hinterherrennende Frau sofort korrekt interpretiert und - ein Bein auf dem Bahnsteig, eins auf der Zugtreppe - die Abfahrt so lange verzögert, bis der Koffer samt Frau im Zug ist.  

Juli 2025, Busfahrt vom Intersein-Zentrum nach Passau. Ziemlich großer Koffer, zwei hohe Stufen in den Bus, man kennt das. Zwischen den anderen zusteigenden Passagieren, die gelangweilt auf ihren Handys herumtippen, steht ein junger, nicht-deutsch aussehender Mann. Er greift, ohne nachzufragen, nach meinem Koffer und wuchtet ihn hinein.

Ankunft Passau Hauptbahnhof. Ich habe eine Stunde Aufenthalt, bis mein Zug nach Frankfurt abfährt, und will irgendwo an der Straße einen Kaffee trinken. Das gelingt mir aber nicht, denn die Kombination alte Frau und Koffer erregt die Aufmerksamkeit eines älteren, nicht-deutsch aussehenden Mannes, der sofort den Koffer packt und auf die Treppe zurast. Ich rufe, nein!, nein! und merke, wie fatal missverständlich sich das anhört. Jetzt glaubt er sicher, ich misstraue ihm und habe Angst um meinen Koffer, aber er denkt nicht ängstlich um Ecken herum, sondern hat nur die arme Alte mit dem großen Koffer im Sinn, den sie, da doch jetzt er da ist, nicht mehr die sehr gemeinen Stufen zum Bahnhof hochschleppen muss. Enthusiastisch ruft er: "Ja, ja, ich mach!", und so finde ich mich in der Bahnhofshalle wieder, mit meinem sorgfältig vor mir abgestellten Koffer. Der Retter verschwindet in der Menge.

Ich vertraue ihnen bedingungslos. Seit sie bei uns sind, reise ich bequemer. Sie kommen aus Kulturen, in denen das Alter geehrt wird. Sie wurden zur Aufmerksamkeit erzogen; sie sehen, wenn jemand Hilfe braucht. Herr Merz, die meisten dieser Menschen sind kein Problem, sondern eine Bereicherung.  

 


Übrigens: das ist die neue Rolltreppe auf Gleis 1 im Hauptbahnhof in Freiburg. Ja, es ist ein Statement. Die Bundestagspräsidentin verbietet die Regenbogenflagge auf dem Dach des Reichstags in Berlin, Freiburg pinselt seine Rolltreppe an. Ich wohne gerne hier.

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