Donnerstag, 31. Dezember 2020

Raunächte, die heilige Zwischenzeit

Wir befinden uns in den Raunächten. Rau wie kratzig, pelzig (die Kürschnerei stellt ja auch "Rauchwaren" her)? Zu dieser Interpretation passt die Göttin Percht mit ihren wilden, in Zottelpelze gewandeten Kerlen, die in bayerischen Dörfern in dieser Zeit durch die Nacht tobt (die Dorfburschen reißen sich um die Rollen). Aber vielleicht bezieht sich der Begriff doch auf das Räuchern, denn noch heute wird im Alpenraum in vielen Bauernfamilien Stall und Haus geräuchert. Die heiligen Kräuter entfernen alte schlechte Energien und weihen gleichzeitig das jetzt reine Haus.

Die Raunächte sind eine Zwischenzeit, eine sozusagen geschenkte Zeit. Früher war der Beginn des neuen Jahres in weiten Teilen Europas der 6. Januar, das Jahresende aber der 24. Dezember - es fehlten also zwölf Tage. Erst Papst Innozenz XII legte 1691 den 31. Dezember als letzten Tag des Jahres fest.

Sich besinnen, Altes abschließen, Belastendes loslassen, die Träume beobachten, sich und das Haus reinigen und damit das Neue einladen - das ist die Symbolik der "Zeit zwischen den Jahren". Seit ich in einem einhundertfünfzig Jahre alten Bauernhof im Schwarzwald gelebt habe, räuchere ich mit Beifuß und Wacholder - weil sich dunkle Energien angesammelt haben oder wieder mal vom Vermieter geschickte Handwerker aller Art in meiner Wohnung herumgetrampelt sind.

Die letzte Raunacht ist die vom 5. auf den 6. Januar, sie endet mit dem Fest der "Heiligen Drei Könige", die angeblich dem Stern gefolgt sind und dem Kind in der Krippe Gold, Weihrauch und Myrrhe dargebracht haben. Wie sind die bloß in die Legende geraten? Die Bibel kennt sie nämlich nicht. Bei Markus sind es "Sterndeuter", die das Kind besuchen, bei Lukas die Hirten vom Felde. Es gibt kluge Frauen, die auf diesem Feld forschen und mutmaßen, dass hier die uralten keltischen Weisen Frauen Ambeth, Wilbeth und Borbeth - man nannte sie die drei Bethen - von der Kirche vereinnahmt und vermännlicht wurden. Es wäre nicht die erste Aneignung dieser Art.


Nachdem die drei Weisen Frauen nach den zwölf Tagen der Zwischenzeit das Haus gesegnet und geweiht haben, erscheint der friedvolle Freyr, Zwillingsbruder der Göttin Freya, mit seinem starken Eber, dessen Borsten golden sind wie die Sonne, und schiebt mit seiner Kraft das Jahresrad wieder an.

Keine drei Weisen Frauen in unserem Leben? Aber eine doch sicher, die immer wieder mit Rat und Tat zur Seite steht - die Freundin, Schwester, Mutter, Nachbarin. Kein Eber weit und breit zur Verfügung? Aber warum verkaufen die Bäcker in diesen Tagen rosige schielende "Glücksschweinchen"? Genau: In ihnen verbirgt sich die alte Symbolik des Ebers mit den goldenen Borsten. "Weihen" wiederum kommt vom Althochdeutschen "weich" und bedeutet "heilig". Alles, was wir als heilig betrachten, ist es auch. Das Weihen geschieht in unserem Geist, wir brauchen niemanden, der es für uns tut.

Wir sind seit Urzeiten eingebunden in den Jahreslauf und nicht allein.

Am Ende dieses so schwierigen Jahres wünsche ich euch deshalb für das neue Jahr "viel Schwein". Und einen klaren, lichten Geist, der das Heilige um uns herum erkennt.

Wir sehen uns wieder im nächsten Jahr an dieser Stelle. Macht es Euch schön bis dahin.

 

Donnerstag, 24. Dezember 2020

Ein beglückendes Weihnachtsfest

 

Vielleicht könnt ihr an diesem besonderen Weihnachtsfest erfahren, wie beglückend Stille und Einfachheit sind. Und wenn ihr alleine feiert, aus den zeitbedingt bekannten Gründen, entdeckt ihr vielleicht, dass Alleinsein nicht dasselbe ist wie Einsamkeit. 

Mein Ritual am Heiligen Abend ist seit Jahrzehnten - auch wenn ich irgendwo als Gast erwartet werde -, bei Einbruch der Dämmerung durch die Straßen meines Viertels zu gehen und mir die Lichter in den Gärten und Häusern anzusehen. Ich sehe Menschen, die Kerzen am Baum entzünden, in einer Küche steht ein Mann mit Schürze im Dampf, der aus einem Topf steigt, zwei Kinder drücken ihre Nasen an die mit Papiersternen geschmückte Scheibe ihres Zimmers. Und ich sitze mit unter jedem Baum, rühre im Topf und warte gespannt mit den Kindern auf die Bescherung. 

Ich gehöre dazu. Zu allem und zu allen. Das Wissen um die All-Verbundenheit ist immer da, aber erst jetzt, in der Stille und scheinbaren Leere dieser besonderen Nacht, die tatsächlich höchste Fülle ist, kann ich meinen Geist weit öffnen. Für eine halbe Stunde brauche ich die schützende Haut, die ich mir im Alltag überstreifen muss, nicht mehr. Nie bin ich weniger allein als am Heiligen Abend um fünf Uhr, auf den Straßen meiner Stadt.

Mit Yo-Yo Ma und Alison Krauss und dem alten irischen Wexford Carol wünsche ich euch stille und beglückende Weihnachtstage.


Freitag, 18. Dezember 2020

Die Ein- und Zweisamen

 

 

Man sieht sie jetzt überall, die Ein- und Zweisamen, aus ihren vertrauten Gruppen gepflückt von einer Pandemie und der Verordnung der Landesregierung. Einige wirken, als würden sie gerade erst aufwachen, sie blicken sich verstohlen um. So viel Wald war in ihrem Leben noch nie. Seit Jahren marschieren sie hier stramm mit ihren Wander-Kameraden hindurch, aber jetzt ist da auf einmal alles voller Holz und Moos, das sie nie bemerkt haben, und dann so ein Licht. So ein schräg einfallendes Licht, das direkt aus dem Geheimnis zu kommen scheint. Sie sind sich nicht sicher, ob sie Geheimnisse mögen, zumal solche, die in fremder Gegend lauern. Und sie sind mit dem Geheimnis allein, höchstens zu zweit, was sich aber auch sehr allein anfühlen kann.

Einige Einzelne haben sich einen Hund mitgebracht. Ein Hund ist gerade in dieser Zeit und gerade an diesem Ort enorm tröstlich. Hin und wieder gibt so ein Hund Laut, das ist seine Aufgabe, das soll und muss er tun, und der Einzelne fühlt sich gleich vor dem drohenden Überfall des Geheimnisses gut beschützt. Denn es ist ja so still hier (wo sind die Vögel? Sollten hier nicht Vögel sein?). 

Aber es riecht so gut. Es atmet sich so leicht. Der Boden federt unter den Schritten. Heute Nacht wird man gut schlafen können, seit Langem wieder einmal richtig gut schlafen. Man könnte wiederkommen, es ist ja sonst nichts los. 

Warum sollte man nicht morgen wiederkommen.


Samstag, 12. Dezember 2020

Atmen


Meine liebe Freundin H. wird im Frühjahr achtzig Jahre alt. Ich kenne sie seit Jahrzehnten und freue mich an ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrem unermüdlichen Einsatz für andere als Lehrerin des Dharma. Als ich sie im Sommer sah, war ich etwas besorgt und bat sie, sich zu schonen. Auch ich musste in letzter Zeit erkennen, dass ich nicht mehr die Kraft einer Dreißigjährigen habe. Drei Monate später bekam meine Freundin eine schwere Lungenentzündung. Am Telefon erzählte sie mir, dass sie in der kritischen Zeit nur dies praktiziert habe: "Ich atme ein und weiß, dass ich einatme. Ich atme aus und weiß, dass ich ausatme."

Jeden Morgen biete ich in meinen Retreats eine geführte Meditation an, und jede Meditation beginnt mit diesem Satz. Weil er in großer Schlichtheit sagt, worauf unser Leben beruht.

In Genesis 2,7 heißt es: "Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem." Das westgermanische Wort "Atem" ist verwandt mit dem altindischen "Atman", was die unzerstörbare ewige Essenz des Geistes bezeichnet, die bei uns häufig mit Seele übersetzt wird. Es gibt nicht "meinen" Atem und "deinen" Atem. Was uns unterscheidet, sind lediglich schwankende und vorübergehende Atemformen, kürzere und längere, tiefere und flachere. Wir teilen alle denselben Atem, dieselbe unzerstörbare Essenz, die uns durchdringt und verbindet. 

Wir nehmen den Atem als selbstverständlich hin. Aber auf den Intensivstationen der Kliniken liegen die Covid-19-Patienten, die nicht mehr selbstständig atmen können. Nur noch ein Schlauch verbindet sie mit der Basis des Lebens. Und auch wenn sie das Glück haben, ins Leben zurückzukehren (jetzt begreifen wir erst, wie passend dieser Ausdruck ist), werden sie noch lange Zeit, wie die Ärzte es ausdrücken, "Atemprobleme" haben. 

Meine Freundin und ich werden uns wegen der aktuellen Situation lange nicht sehen. Aber, sagte sie zu mir, "du weißt ja, dass wir immer verbunden sind, weil wir alle Teil des großen Ganzen sind." Und ich dachte: Ja, wir sind auch verbunden mit denen, die jetzt "beatmet" werden mit dem Element, das wir Luft nennen und das, wenn wir nur ein wenig tiefer schauen, so viel mehr ist - die ewige Essenz des Geistes, die alles durchdringt und auch uns erfüllt.

Können wir das zu unserer Praxis machen in den stillen und vielleicht gefühlt einsamen Weihnachtstagen, die uns bevorstehen? Mit denen zu atmen, die es selbst gerade nicht können. "Ich atme ein und weiß, dass ich einatme. Ich atme aus und weiß, dass ich ausatme."

Nur dies.  

 

Sonntag, 6. Dezember 2020

Adventsmusik: Apollo5 "The Crimson Sun"

 

 

Die Musik des 36 Jahre jungen britischen Komponisten Alexander Campkin wird weltweit in den größten Konzerthäusern aufgeführt. Seine Chor-Arrangements sind betörend schön. Man darf die Kunst eines Künstlers nie nach seiner Biografie beurteilen, aber da Campkin es selbst thematisiert, erwähne ich es hier: Mit 17 Jahren bekam er Multiple Sklerose. "MS changed my life. It stopped me playing the viola. But it certainly didn't stop me composing."

Vielleicht empfängt er deshalb die Musik der Engel besser als jene Menschen, die unversehrt sind. Und macht sie hörbar, damit den Unversehrten die Ohren aufgehen.

Hier "The Crimson Sun" mit der wie immer wunderbaren Gruppe Apollo5. 

Ich wünsche Euch den Besuch eines klitzekleinen Engels an diesem Adventssonntag.

 

Donnerstag, 3. Dezember 2020

Im sensiblen Schwebezustand

 

Wie finden wir jetzt die stimmige Balance zwischen Rückzug und Kontakt, zwischen unserem Wunsch nach Freiheit und der Verpflichtung zur Verantwortung für die Gemeinschaft? Es geht um mehr als um die Frage, mit wem und mit wie vielen Menschen wir Weihnachten und Silvester feiern sollen. Unsere Gefühle und Emotionen richten sich eben nicht nach Fallzahlen; wir haben Bedürfnisse und Sehnsüchte, die nicht in die verordneten Maßnahmen passen. Und wie soll das alles weitergehen, im nächsten Jahr, in den nächsten Monaten. Wir sind verunsichert.

Wie gut, dass wir verunsichert sind!

Das Magazin Ursache\Wirkung, für das ich regelmäßig schreibe, befasst sich in seiner neuen Ausgabe mit dem Thema "Balance finden". Hier ein kleiner Auszug aus meinem Beitrag "Sensibel im Schwebezustand", in dem ich erzähle, warum alle Menschen von uns Hochsensiblen lernen können, was Balance ist:

"Jeder Mensch muss sich mit dem Thema Balance auseinandersetzen. Während ein Hochsensitiver zu viel aufnimmt, bemerkt ein Nichthochsensitiver oft zu wenig. Wer die Emotionen seiner Mitmenschen übersieht, hat ein mindestens so großes Problem wie jemand, der von ihnen überschwemmt wird. Und dann verharrt man in einem Zustand der Unkreativität. In einem Rundfunk-Feature über den freien Willen sprach ich einmal mit dem inzwischen leider verstorbenen Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, der eine große Sympathie für den Buddhismus hegte. Er sagte, Lebendigkeit verlange, sich in Unsicherheit zu begeben, 'positiv ausgedrückt, in einen sensiblen Schwebezustand. Gerade dort, wo wir uns am unsichersten fühlen, sind wir am lebendigsten und kreativsten.'"


 

Gute Autoren beleuchten in der Ursache\Wirkung 114 das Thema Balance aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Lesenswert. Man findet das Magazin in gut sortierten Buchhandlungen oder hier (klick)