Zu.
Wir sind gerade in einem Schockzustand. Das wird nicht so bleiben. Spätestens, wenn die Fallzahlen sinken (was wir natürlich ersehnen), wird die Diskussion um die Angemessenheit der Maßnahmen beginnen (zu spät, zu früh, zu viel, zu wenig), und sie wird, wie ich die Medien kenne, heftig sein. Im Moment sind wir in einer Zwischenzeit, es wurde über und für uns entschieden, und das ist auch richtig so. Dieser Zustand ist eine Chance, die es in unserer Lebenszeit noch nie gegeben hat: Die Welt ist im Retreat.
So ein Meditations-Retreat kann ein Leben verändern. Wie passiert das? Indem der Schüler die feste Absicht fasst, es geschehen zu lassen. Solch ein Retreat ist nicht billig (das, in dem wir uns gerade befinden, wird uns extrem teuer zu stehen kommen). Also will der Schüler die Zeit, die ihm da gegeben ist, nutzen, da er ohnehin bezahlen muss. Allerdings hatte er sich die Sache leichter vorgestellt.
Gut, es ist ruhig dort, wo die Schülerin sich jetzt befindet. Zeitweise geradezu still (eine erste leichte Beklommenheit schleicht sich in ihr Gemüt). Aber die Verhaltensregeln sind schon rigide. Wie, sie soll mit niemandem engen Kontakt haben, darf niemanden umarmen? Der Schüler würde gern in einer Kneipe sein gewohntes Abendbier trinken, die Schülerin sich in einen hübschen Film flüchten. Nichts davon ist an diesem Ort möglich. Nach drei Tagen haben beide nur einen Gedanken:
Ich. Will. Hier. Raus.
Aber die Tore des Klosters sind verschlossen (Grenzen zu, Flüge gestrichen). Unseren beiden Schülern dämmert die Wahrheit: Sie müssen sich in ihre Situation fügen. Sehr gut. Jetzt kann die Meditation beginnen. Was ist Meditation? Etwas ganz Natürliches: Die beiden schauen sich an, was in ihrem Geist geschieht. Zum ersten Mal wahrscheinlich, das kann also ungemütlich werden. Sie werden vermutlich - die Szenarien gleichen sich nämlich erfahrungsgemäß - von Ängsten und Befürchtungen bis zur Panik heimgesucht werden, aber auch von Glücksgefühlen bis zur Euphorie. Sie werden beobachten, wie eine Regung von einer anderen abgelöst wird, dass keine lange bei ihnen verweilt (früher hatten sie den Eindruck, endlos in einer Regung festzustecken). Man hat sie angewiesen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Und all die hübschen Spielzeuge, mit denen sie sich früher abgelenkt haben, sobald sie ein Unbehagen spürten, hat man ihnen weggenommen. Da sitzen sie also und lernen sich kennen.
Wie gesagt: anfangs ziemlich ungemütlich. Aber nur Mut, das bleibt nicht so. Wenn die beiden ihren Gedanken und Gefühlen erlauben, sich zu zeigen, und sie mit ihrer Aufmerksamkeit begleiten, ohne sie auszuagieren oder zu unterdrücken, wird sich der ganze Wirbel sehr schnell beruhigen. Dann, erst dann, werden sie erkennen, dass hinter all den Ängsten, Bewertungen, Urteilen und, ja, auch hinter der Euphorie eine ganz andere Dimension des Seins zum Vorschein kommt.
Auch in einem Retreat findet man immer etwas zum Umarmen.
Die Krise, in der wir uns global befinden, zeigt uns, wie fragil das Leben ist. Wir hatten geglaubt, die Kontrolle zu haben, und lernen gerade: Es gibt keine Sicherheit. Wir hätten das schon längst wissen können, aber wir brauchten anscheinend diese Winzigkeit namens Virus, um es zu begreifen.
Die beiden in unserem fiktiven Retreat haben Glück. Sie sind an eine Lehrerin geraten, die klare Worte liebt. Diese fiese Frau konfrontiert sie mit den Fünf Kontemplationen des Buddha, die der Dalai Lama jeden Morgen rezitiert als Vorbereitung auf seinen Tag, der danach ganz bestimmt ein Tag ohne Illusionen ist:
* Es ist meine Natur, alt zu werden. Es gibt keinen Weg, dem Altwerden zu entgehen.
* Es ist meine Natur, krank zu werden. Es gibt keinen Weg, dem Krankwerden zu entgehen.
* Es ist meine Natur, zu sterben. Es gibt keinen Weg, dem Tod zu entrinnen.
* Alles, was mir wertvoll ist, und jeder, den ich liebe, wird sich von Natur aus verändern. Ich werde von allem getrennt werden, dem kann ich nicht entgehen.
* Mein einziges Erbe sind meine Handlungen in Körper, Rede und Geist.
Hinter dem Wirbel, den unsere Gedanken und Gefühle machen, ruht die Dimension der grenzenlosen Weite, in der das Mitgefühl lebt. Wir haben jetzt die Chance, in eine neue Offenheit einzutreten. Wir könnten beschließen, den Wunsch nach Sicherheit aufzugeben, und uns stattdessen der Unsicherheit stellen. Wir könnten sehen - ganz klar sehen an dem, was weltweit geschieht -, dass wir alle miteinander verbunden sind. Dass, was einem geschieht, auch anderen geschieht. Dass es unsere "Handlungen" sind, die wirken und bleiben werden: Unsere Gedanken und Gefühle, die zu Worten und Handlungen führen. Zum Schaden - oder zum Wohl aller Wesen.
In einem Retreat kann man das lernen. Wie gesagt, es kann ein Leben verändern.