Donnerstag, 5. September 2019

Introvertiert und hochsensibel in einer lauten Welt


Ich habe mich hier ja schon öfter als hochsensibel "geoutet", und wie die meisten Hochsensiblen bin ich auch introvertiert. Diese beiden Persönlichkeitsmerkmale fließen ineinander, ähneln einander sehr, und eigentlich muss man sie nicht unbedingt auseinanderhalten. Dennoch eine kurze Klärung der Begriffe. Carl Gustav Jung unterschied zwischen zwei gegensätzlichen Einstellungstypen: Der Extravertierte richtet seine Energie und Lebenskraft nach außen und wirft sich ins Leben; der Introvertierte richtet sie nach innen, auf Gedanken und Gefühle. Es gibt aber nicht "den" typischen Introvertierten oder Extravertierten, denn nach Jung besitzt jede und jeder von uns außerdem vier Funktionstypen: Denken, Fühlen, Empfinden und Intuition. Jeder Funktionstyp kann in unterschiedlichem Maß extravertiert oder introvertiert ausgebildet sein, und so ergeben sich viele individuelle Ausprägungen in jedem Menschen.

Hochsensible dagegen haben ein Nervensystem, das Reize schneller und intensiver überträgt. Sie sind enorm beeinträchtigt von Lärm und Gerüchen, können Menschenmengen schwer ertragen, brauchen viel Alleinsein, Ruhe und Stille, um ihr schnell überreiztes Nervensystem zu beruhigen. Hochsensible haben mehr Autoimmunkrankheiten, Allergien und Nervenleiden als der Durchschnitt, und wenn sie sich beruflich oder privat überfordern, geraten sie schneller als andere in einen Burnout. Und die Grausamkeiten der Welt gehen geht ihnen buchstäblich "unter die Haut".

In der Summe ergibt das also eine Persönlichkeit, die von, sage ich jetzt mal, "normalen" Menschen abwechselnd als Prinzessin auf der Erbse, Eigenbrötlerin, Menschenfeind oder Hypochonder angesehen wird. Und da ich aus vielen Briefen und Gesprächen weiß, wievielen meiner Leserinnen und Lesern (doch, auch Männern!) es genauso geht, schaue ich hier mal drei populäre Missverständnisse näher an. Vielleicht möchte ja der eine oder andere nicht-hochsensible Extravertierte uns daraufhin gern ein wenig näher kennenlernen? Es lohnt sich ...



Missverständnis Nr. 1: Du musst mehr aus dir rausgehen. Ich bin die, die man auf Geburtstagsfesten in der Küche findet. Dort schneide ich das Brot auf, rühre die Suppe um und hoffe, erst dann das Wohnzimmer betreten zu müssen, wenn alle kauen und der Lärmpegel sich gelegt hat. Dann stelle ich mich mit meinem Teller zu den zwei, drei Gästen, die ich kenne (mehr sind es garantiert nicht), und frage vermutlich, ob sie das neue Buch von Autor XY gelesen und diesen fabelhaften Arthouse-Film gesehen haben, der leider nicht mehr läuft. Introvertierte Hochsensible können keinen Smalltalk, er kostet sie mehr Energie, als sie haben. Mit meinem Gesprächsangebot über etwas, das nicht an der Oberfläche bleibt, bin ich schon enorm "aus mir rausgegangen". Wenn dann keine Resonanz kommt, gehe ich mit meinem Teller still wieder rein: In die Küche. Und in mich selbst.

Missverständnis Nr. 2: Du bist doch einsam. Einsamkeit macht neurotisch. Definition von Einsamkeit einer Introvertierten: Inmitten einer laut miteinander redenden Menschenmenge zu stehen und keinen zu kennen. Definition von Alleinsein: Es ist still, ich darf schweigen, meine Gedanken dürfen schweifen, die Sinne sich öffnen. Ich kenne Hochsensible und Introvertierte, die eine Woche lang schweigen können und dabei restlos glücklich sind. (Solche kommen gern in meine Schweige-Seminare.) Bei den wohldosierten Begegnungen mit der äußeren Welt nehmen sie gleich so viele Details auf, dass sie sich nach kurzer Zeit zurückziehen müssen, um das sinnlich Erlebte zu verarbeiten. Das alles geht dann in die Schatzkammer ihrer inneren Welt ein, die sie, wenn sie allein sind, mit so viel Anregung für ihr Denken, so vielen Gefühlen versorgt, dass für Einsamkeit im Alleinsein gar kein Platz ist.


 
Missverständnis Nr. 3: Dir sind die Menschen anscheinend egal.  Wenn Hochsensible und Introvertierte jemandem zuhören, sind sie ganz Ohr, ganz Auge. Dann entgeht ihnen nicht das kleine Zucken am Augenlid, das kurze Zögern vor einer Bemerkung (ist er sich nicht sicher über sein Urteil, lügt er gerade, will er etwas verbergen?). Sich mit uns zu unterhalten, hat Folgen: Wir hören auch das Ungesagte. Wir wissen mehr über unseren Gesprächspartner, als dieser sich träumen lässt (und enthüllen wollte). Ich bin eigentlich ständig damit befasst, über die Menschen nachzudenken, die mir nahe sind. Ich begleite sie in Gedanken, frage mich, ob ich sie richtig verstanden habe, ob mein Rat - falls ein solcher erfragt wurde - auch hilfreich war. Wenn ich in der Nacht aufwache, ist mein erster Gedanke der an jemanden, den ich kenne. Ich hoffe, dass es ihm oder ihr gutgeht. Dass er oder sie glücklich ist. Niemand ist so leidenschaftlich an Menschen interessiert wie ein Hochsensibler oder Introvertierter.

Da stehen wir mit riesigen Blumensträußen in unseren Herzen, bereit, sie zu verschenken. Aber das werden wir - ich weiß, wie vielen es genauso geht - niemals zu erkennen geben. Eine Zurückweisung würde uns verstören. Wir sind sehr harmoniebedürftig - und sehr höflich. Wir wollen nicht falsch verstanden werden. Niemand soll sich von uns durchschaut fühlen, bedrängt, gar entblößt. Wir wissen so viel über andere - aber das werden die anderen nur erfahren, wenn sie uns ausdrücklich dazu auffordern. Was sie nicht tun werden. Sie sind ja der Meinung, dass uns Menschen egal sind.

Ein paar Tipps zum Hören und Lesen:

Margrit Irgang "Reizüberflutet. Hochsensible und ihr Alltag", SWR 2015, hier der Link zur Sendung:  https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/Hochsensible-und-ihr-Alltag-Reizueberflutet,aexavarticle-swr-46860.html

Elaine Aron "Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen", mvg Verlag

Andrea Brackmann "Jenseits der Norm - hochbegabt und hochsensibel?", Klett Cotta Verlag

Susan Cain "Still. Die Kraft der Introvertierten", Goldmann Verlag

Webseite des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität:  www.hochsensibel.org


2 Kommentare:

  1. Vielen dank für diese Erläuterungen, ich fühle mich gesehen und verstanden. Danke

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  2. "Da stehen wir mit riesigen Blumensträußen..." daraus habe ich eine kleine Übung gemacht. Aber was mache ich mit all den Blumen? Abends wären sie vielleicht schon verwelkt. Ich überlegte mir, sie zu verschenken. Jede Blume könnte ein „Ich mag dich“ bedeuten.

    Ich probierte es aus, sie tagsüber zu verschenken. Was sich aber leicht anhört, empfand ich als schwierig. Am Abend wurde mir klar, dass der Tag anstrengend gewesen ist. Ich habe im Geiste nur ein paar Blumen verschenkt, an Leute, die ich mag. Alle anderen gingen leer aus, ohne Blumen.

    Ein paar Tage später stand ein Besuch im Altersheim an, Demenzabteilung. Da gingen meine Blumen weg wie warme Semmeln. So viele erwartungsvolle Gesichter, die sich über ein Lächeln und eine Begrüßung freuten. So beglückt bin ich noch nie aus dem Altenheim gekommen. (Vielleicht ein Rückzugsort?)

    Ein paar Tage später merkte ich, dass ich mit dem falschen Fuß aufgestanden bin. Was für eine miese Laune. Also beschloss ich, mir für jeden negativen Gedanken eine Blume zu schenken. Mittags waren fast alle Blumen weg und die Laune hatte sich gebessert. Die restlichen Blumen schenkte ich den negativen Gedanken der anderen.

    Wenn ich darüber schreibe, wird mir klar, wie stark solche Visualisierungsübungen wirken können. Diese Übung machte mir bewußt, wie wichtig es ist unseren Alltag mit so einer Übung phantasievoll zu gestalten, kreativ zu sein und auf die Intuition zu hören.
    Simon

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