Zeit ist das, was das Licht von uns fernhält.
Es gibt kein größeres Hindernis auf dem Weg zu Gott als die Zeit.
Meister Eckhart
Sie steht seit August auf meinem Balkon. Meine letzte Erdbeere, die jetzt die erste ist. Unverändert schön, zarte Blüte, saftige Frucht (die im Hintergrund). Da drängen sich Fragen auf: Wie hat sie das Überleben geschafft? Warum ist die Blüte nicht verwelkt, die Frucht nicht vertrocknet? Wird sie im Mai (wieder) blühen, (noch einmal) Frucht tragen? Wird aus der Blüte gar noch eine Frucht werden, mit einem Jahr Verspätung?
All diese Fragen handeln von Vergangenheit und Zukunft. Legen wir sie einfach mal als unwesentlich ab und sehen uns an, was da ist: Erdbeerblüte, Erdbeerfrucht. Weiß und Rot. Ein wenig Grün.
Was ist "Zeit"?
Wir behaupten, wir könnten sie "haben", "verlieren" und "gewinnen". Sie kann uns angeblich "davonlaufen", deshalb rennen wir ihr "hinterher", und vor allem "fehlt" sie uns an allen Ecken und Enden. Manchmal scheint sie auch "stehenzubleiben", das sind die außergewöhnlichen Momente. Extrem schön - oder ziemlich grauenhaft. Meist ereilt uns das Stehenbleiben als Schock. In einer Liebesbegegnung, einem Konzert, einem Blick vom Berggipfel, den wir soeben erstiegen haben - oder im Moment eines Unfalls, beim Anblick einer Grausamkeit. Solche Schocks sind zwar unnötig, aber wegen unserer alltäglichen Unbewusstheit dennoch wichtig. Denn was in ihnen tatsächlich "stehenbleibt", ist unser Geist. Er hört auf, einer imaginären Zeit hinterherzurennen und macht nicht mehr den Versuch, sie zu gewinnen und zu füllen. Er befindet sich ganz und gar in der einzigen "Zeit", die es gibt: dem Augenblick.
Eckhart Tolle spricht von "Uhr-Zeit", die gebraucht wird für alle praktischen Belange des Lebens. Und von der wertlosen "psychologischen Zeit", die unser Geist erschafft, indem er Ängste und Hoffnungen in eine imaginäre Zukunft projiziert oder in der nicht mehr existierenden Vergangenheit herumwühlt. Wann immer wir gerade nicht mit der notwendigen Uhr-Zeit und den in ihr stattfindenden Verpflichtungen befasst sind, können wir in den Augenblick zurückkehren, ohne psychologische Zeit einzusetzen.
Zen, Vipassana, tibetische Praxis und christliche Kontemplation schalten die psychologische Zeit aus und führen uns direkt in die Gegenwart. Wie Meister Eckhart sagt: Nur dort können wir das erkennen, was wir Gott oder das Absolute oder die Wahrheit nennen.
Es geht aber noch einfacher. Ohne Tempel, ohne stundenlanges Sitzen, Üben, Rezitieren. Wir sehen uns einfach an, was jetzt da ist. Zum Beispiel eine Erdbeerblüte, eine Erdbeere. Weiß und Rot. Ein wenig Grün. Im März. Eine ganz und gar unzeitgemäße Sache.
Und schon befinden wir uns in der Zeitlosigkeit. Denn der Augenblick ist immer jenseits der Zeit, er vergeht nicht, man kann ihn nicht erreichen. Er ist.
Jetzt.
Und jetzt.