Mittwoch, 6. Juni 2018

Thich Nhat Hanh: "Zurückkehren zur Insel des Selbst"


Thays Hütte im Upper Hamlet in Plum Village

"Der Buddha hat gesagt: 'Kehrt auf der Insel in eurem Inneren ein. Dieses wahre Zuhause kann euch niemand wegnehmen.' Es gibt Tage, an denen einfach alles schief geht. Wenn etwas schief geht, geben wir uns mehr Mühe, und trotz oder gerade wegen unserer Bemühungen geht es weiterhin schief. Am besten hört man dann auf, sich abzumühen und kehrt bei sich selbst ein, um sich zu erholen. Man kann sich nicht einfach auf seine Begabung verlassen und weitermachen. Man muss einkehren und sich wieder aufbauen, um mehr Festigkeit, Freiheit, Frieden und Ruhe zu gewinnen, ehe man sich von neuem an die Aufgabe macht.

Vor vielen Jahren hatte ich eine Einsiedelei in einem Wald, der etwa zwei Autostunden von Paris entfernt lag. Eines Morgens verließ ich meine Klause, um im Wald spazieren zu gehen. Ich verbrachte den ganzen Tag dort, übte Sitzmeditation und schrieb Gedichte. Am Morgen war wunderschönes Wetter, aber am späten Nachmittag merkte ich, dass Wolken aufzogen und der Wind auffrischte. Also machte ich mich auf den Heimweg. Als ich bei meiner Klause eintraf, herrschte dort ein wildes Durcheinander. Am Morgen hatte ich nämlich alle Fenster und Türen geöffnet, damit der Sonnenschein hineinkommen und alles austrocknen konnte. Der Wind hatte alles Papier vom Schreibtisch geweht und überall verteilt. In der Einsiedelei war es kalt und ungemütlich. Als Erstes machte ich Fenster und Türen zu. Dann zündete ich ein Feuer an. Als die Glut entfacht war, hörte ich den Wind pfeifen, und es ging mir schon viel besser. Als Drittes sammelte ich die verstreuten Blätter ein, legte sie auf den Tisch und beschwerte sie mit einem Stein. Das dauerte etwa zwanzig Minuten. Schließlich ließ ich mich neben dem Holzofen nieder und fühlte mich pudelwohl, und die Einsiedelei wurde warm und gemütlich.

Wenn Sie feststellen, dass es Ihnen schlecht geht, weil Ihre Augenfenster offen sind, weil Ihre Ohrenfenster offen sind, weil der Wind hineinbläst und Ihnen Schlimmes zugestoßen ist, was bei Ihnen zu einem Chaos in den Gefühlen, dem Körper und den Wahrnehmungen geführt hat, dann sollten Sie sich nicht zu sehr abmühen. Kehren Sie in Ihre Einsiedelei in Ihrem Inneren ein. Schließen Sie die Türen, machen Sie den Ofen an und machen Sie es sich gemütlich. Das verstehe ich unter 'Zufluchtnehmen zur Insel des Selbst'. Wenn Sie nicht in sich selbst einkehren, dann verlieren Sie sich. Sie zerstören sich selbst und die Menschen um Sie, auch wenn Sie es gut meinen und helfen wollen. Darum ist die Praxis des Einkehrens auf der Insel des Selbst so wichtig. Dieses wahre Zuhause kann Ihnen niemand nehmen."

Thich Nhat Hanh

(Aus: Thich Nhat Hanh "Versöhnung beginnt im Herzen", aus dem Amerikanischen von Renate FitzRoy und Thomas Schmidt, Herder Verlag, ISBN 3451-28825-7)


5 Kommentare:

  1. Ein so schöner Text, liebe Margrit. Eine Einsiedelei in der Nähe meines so geliebten Paris klingt sowieso traumhaft...und dennoch, wie Thay es beschreibt: man hat sie in sich, die Einsiedelei. Zum Zuflucht nehmen, Kräfte tanken, tief spüren und dennoch weit sehen. Manchmal ist es der eigene Wind der Gefühle, der an ihr rüttelt. Da fällt es mir am schwersten, die Fenster geschlossen zu halten und ruhig zu bleiben, wenn alles vibriert...selten ist es so, aber gestern gerade erst. So kommt Dein Beitrag im richtigen Moment :-)... Ich grüße Dich sehr herzlich, Taija

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  2. Ich habe den Text auch um meinetwillen ausgesucht. Liebe Grüße nach München, und Du weißt ja, was auch immer erdet: Gehmeditation.

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  3. Auch aus meiner Sicht ist dies eine sehr wichtige „Lektion“, ohne die wir im Leben nicht gut zu Recht kommen. Wenn wir dieses Gefühl haben vom Leben überrollt zu werden, aus dem Nest gefallen zu sein oder dauernd Opfer zu sein, sollten wir uns an das Nein erinnern. Wir sagen Nein zu Menschen und Dingen die uns schaden! Dieses Nein ist aber keine automatisierte Reaktion. Es hat zunächst viel mit Suche zu tun. Was ist es denn eigentlich, das uns so zusetzt und dieses Gefühl des Verlorenseins hervorruft. Dieser Prozess kann eine lange Zeit brauchen und hat eben auch etwas mit Abstinenz und Askese zu tun, weil wir für eine Weile nach innen einkehren, bis wir klarer sehen. So finden wir wieder Zugang zu unseren inneren Kraftquellen. Danach besinnen wir uns auf unseren Kampfgeist. Wann hat er uns geholfen, das Richtige durchzusetzen, Grenzen zu ziehen, jemanden/etwas vom Leib zu halten. Der Entschlossenheit folgt das Ausprobieren: Welche Reaktion ist angemessen und wirksam und wie mache ich den ersten Schritt. Simon

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    1. Ja, und leider wird diese Ursachenforschung und Innenschau in spirituellen Schulen oft als egozentrisch abgetan. Liebe Grüße nach München.

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    2. Die Innenschau steht für Unabhängigkeit und diese ist auch ein hoher Wert, genauso wie die Verbundenheit mit allem. Und es geht aus meiner Sicht darum, eine Balance zu finden zwischen Unabhängigkeit und Verbundenheit. Wenn wir ehrlich zu uns sind und achtsam hinsehen, wird uns klar, dass wir oft zwischen einem Nein und einem Ja schwanken, unentschieden sind. Das lähmt uns und nicht die Unabhängigkeit.
      Spirituelle Schulen würden das vielleicht als einen Mix aus westlicher Psychologie und östlicher Spiritualität abtun. Man könnte mit der Bhagavad Gita und dem zaudernden Held Arjuna dagegen halten, der erst durch die Innenschau zum Handelnden wird… Wichtig ist, dass wir Boden unter den Füßen haben und wenn wir ihn verlieren, ist Thich Nhat Hanhs Strategievorschlag auch aus meiner Erfahrung eine hervorragende Hilfe. Deshalb vielen Dank, dass du dieses wichtige Thema anschneidest, liebe Grüße Simon

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