Freitag, 20. Oktober 2023

All-ein

 

"Ein Wochenende ohne Reden, sogleich in tiefes sicheres Bücherlesen versunken, und dann Schlaf: klar durchsichtig; und der ganze Garten grüne Tunnels, Wälle von Grün; und dann erwachen in den heißen stillen Tag, und nie ein Mensch zu sehen, nie eine Störung." (Virginia Woolf)

Ich schließe die Tür hinter mir, und niemand kommt mir entgegen und fragt, wo ich gewesen bin. Niemand will eine Geschichte von mir hören und seine oder ihre eigene Geschichte loswerden. Das Telefon schweigt seit Tagen. Stille, oh Stille!

Ich schaue in den Kühlschrank und frage mich, was ich essen möchte. Vielleicht will ich auch gar nichts essen, oder abends um sieben den Käsekuchen. Den esse ich dann schweigend, und niemand fragt, ob mit mir was nicht stimmt, ich sei so still. Ich gehe ins Bett, wenn ich müde bin - um elf oder neun, das liegt ganz bei mir. Freiheit, oh Freiheit!

"Ohne jeden Zweifel bin ich nur ganz und gar 'normal' und menschlich, wenn ich viel allein bin. Ich lebe dann nach einem anderen und wirklicheren Rhythmus, dem der Sonne und des Tages, in Harmonie mit dem, was mich umgibt. Ich kann nicht leugnen, dass dies das Leben ist, für das ich gedacht bin." (Thomas Merton)

Ich war zehn, als ich meiner Familie sehr ruhig erklärte, dass ich niemals heiraten und keine Kinder haben würde. Sie brachen in haltloses Gelächter aus. Jede Frau braucht einen Mann, sagte meine Mutter, die zum zweiten Mal den Mann geheiratet hatte, mit dem es schon beim ersten Mal nicht funktionierte. Beim zweiten Mal noch weniger.

Die meisten Menschen verwechseln Alleinsein mit Einsamkeit, und deshalb haben sie so große Angst vor dem Alleinsein. Der Autor Daniel Schreiber hat das Buch "Allein" geschrieben, das ein Bestseller wurde. Wäre es auch ein Bestseller geworden, wenn er mehr über die Freuden des Alleinseins geschrieben hätte und weniger über den Kummer, den es ihm bereitet? Im Grunde nämlich ist dies ein Buch über die Einsamkeit, und mit Einsamkeit können sich viele Leserinnen und Leser identifizieren. 

"Das Alleinsein hat eine Kraft über mich, die nie versagt. Mein Inneres löst sich und ist bereit, Tieferes hervorzulassen. Eine kleine Ordnung meines Innern fängt an, sich herzustellen, und nichts brauche ich mehr." (Franz Kafka)

Kafka drückt perfekt aus, warum ich so gerne allein bin. Der Zugang zur Tiefe - spirituell ausgedrückt: zu meinem Wahren Selbst, zur Quelle, dem Ursprung des Seins, von dem ich als Person ein Teil bin - öffnet sich nur im Alleinsein. In der Stille gebe ich dem Wahren Selbst Raum und lausche seinen Botschaften. Dazu muss ich auf keinem Kissen sitzen, ich nenne es nicht einmal Meditation. In jedem Moment meines Alltagslebens kann ich innehalten und die Verbindung zur Tiefe herstellen; ich schließe mich an sie an, wie ich meinen Computer ans Netz anschließe, um ihn mit Energie zu versorgen. Ich schalte den Gedankenstrom ab, ich atme in das scheinbare Nichts, das entstanden ist, hinein, und sofort öffnet sich ein Raum der erfüllten Stille, aus der Impulse und Inspirationen aufsteigen. Nur wenn ich viele Stunden am Tag auf diese Weise allein sein darf, kann ich mich den Menschen in meinem Leben voll und ganz zuwenden. 

Die meisten Menschen können nicht allein sein, weil man ihnen (uns allen) in der Kindheit beigebracht hat, dass sie unvollständig sind; kleine egoistische Wilde, die von Gesetzen und Geboten gezähmt und in den Konsens der Gesellschaft eingewiesen werden müssen, notfalls mit Gewalt. In ihrer anerzogenen Unsicherheit sind sie auch als Erwachsene pflegeleicht und kontrollierbar. Sie brauchen die ständige Aufmerksamkeit anderer als Bestätigung, wertvoll, nützlich und liebenswert zu sein, und die im Allgemeinen sparsam zugeteilte Zuwendung der anderen macht sie noch unsicherer und bedürftiger. Unser inneres Kind muss sich geliebt fühlen, sonst stürzt es in einen Abgrund. 

Im erfüllten Alleinsein aber ist die Tiefe alles andere als ein Abgrund. In ihr ist kein Gefühl des Mangels, im Gegenteil: Sie ist Fülle und Lebendigkeit. Nichts fehlt, niemand fehlt, und die Erkenntnis kommt ganz nebenbei und zweifelsfrei: Jede und jeder von uns ist bereits vollständig. Der andere, der dann vielleicht in unser Leben tritt, wird nicht mehr verzweifelt gebraucht, um die innere Leere zu füllen. Er oder sie muss nicht mehr unsere Erwartungen erfüllen, sich nicht mehr so verhalten, dass unsere Gefühle ihr fragiles Gleichgewicht behalten. Wir sind frei und entlassen den anderen aus seiner Verantwortung für uns. "Ich freue mich für dich, wenn du glücklich bist, aber ich brauche dich nicht, um glücklich zu sein. Du bist nicht für mich verantwortlich - nur für dich selbst." Ich finde, das ist das Schönste, was man einem anderen Menschen sagen kann.

"Dein tiefstes Lebensgefühl - wann hast du das gehabt? Mit einem Freund? --- Immer allein." (Kurt Tucholsky)

Wer all-ein ist, wird nie wieder einsam sein.

 

3 Kommentare:

  1. Liebe Margrit, danke für die schönen Gedanken zum Alleinsein.
    Karin

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  2. Ein Wissen, das, bekannt seit Urzeiten, in wunderbare Worte gegossen worden ist, abermals. Danke dafür. Und ein ums andere Mal, scheint mir, dass es dem Spott der Blinden ausgesetzt ist, den man doch nie fürchten darf.

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  3. Danke für den besonderen Text, er passt genau zu em Buch, dass ich gerade lese "Ruhe" Robert Sardello Ganzheit als Mysterium
    liebe Grüße Gitti

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