Freitag, 10. September 2021

Muße

 

Ich habe lange nichts mehr über die Muße geschrieben. Früher habe ich das oft getan, auch für den SWR ("Muße", SWR 2 Leben, 2011), aber die hatten leider nicht die Geduld (= verwandt mit der Muße, sich wechselseitig befruchtend, deshalb genauso selten wie die M.), die Sendung länger als unbedingt nötig online zu lassen, sodass sie nicht mehr zu hören ist.

Die Muße ist vor ein paar Monaten aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich bin mit endlos langen To-do-Listen durch die Gegend gelaufen, die so wichtige Dinge enthielten wie "Auto zum TÜV", "Keller aufräumen", "Kaffeemaschine reparieren lassen". Jetzt aber war ich mal wieder in einer Buchhandlung. Da standen lauter Bücher in den Regalen, die sich in irgendeiner Form mit dem Nichtstun befassen: "Nichts tun" von Jenny Odell zum Beispiel, ein, wie mir schien, ziemlich akademisches Buch (vielleicht irre ich mich da auch), oder "Niksen, das neue Lebensprinzip aus den Niederlanden" und ein Buch zum "effektiven Arbeiten durch Nichtstun". 

Ach herrje. Als Gegensatz zur Hektik und dem Getriebensein der Menschen im Alltag fällt den Autoren nur das Nichtstun ein. Eine sprachliche Verneinung für einen Zustand, den sie doch, nehme ich an, positiv besetzen wollen. Mir scheint, diese Autoren wollen ihren Lesern versichern, dass ihre Vorschläge so radikal nicht sind; man dürfe also ihre Bücher guten Gewissens kaufen, sie werden nicht gleich das ganze Leben umkrempeln. Höchstens ein wenig verschönern. Denn im Hintergrund lauert immer das protestantische Ethos des Schaffens und Tätigseins; auch das Nichtstun muss ja zu etwas führen, nämlich zum "effektiven Arbeiten".



Muße ist ganz bestimmt keine "neue Lebensform". Bereits in der Antike galt die Muße als höchste Lebensweise, denn sie führte zu Erkennen und Einsehen. Eine Lebensweise, die als gut und wahr angesehen wurde, als glückselig machend und vollkommen, weil sie ihren Zweck in sich selbst hatte. Muße ist der Zeit-Raum, in dem der Mensch seinen eigenen Bedürfnissen folgt und nicht einem äußeren Zwang. Die Forderung nach Nützlichkeit vernichtet jede Muße.

Goethe geht in einem seiner Gedichte im Walde so vor sich hin und bemerkt: "... nichts zu suchen, das war mein Sinn." So geht der Müßiggänger. Wer nichts sucht, gibt den Dingen der Welt Gelegenheit, ihn zu finden. Muße ist weder Faulheit noch Entspannung oder Erholung, sondern der weite Raum der geistigen und körperlichen Freiheit, in dem Dinge geschehen können, die wir uns nie hätten ausmalen können. Da fällt plötzlich ein Sonnenstrahl aus dem düsteren Himmel und lässt für einen Moment unsere Vorortstraße aufleuchten. Eine Taube spaziert zur Balkontür herein, ein unbekannter Radfahrer ruft uns im Vorbeigehen zu, dass er unser Sommerkleid hübsch findet. Und wir nehmen das alles beglückt wahr, weil wir im Zustand der Muße sind.

Muße zu haben heißt, in die Zeitlosigkeit eingetreten zu sein. Die Zeit des Müßiggängers ist der endlose Augenblick, der weder entsteht noch vergeht. Die Müßiggängerin will die Welt nicht besitzen oder benutzen, wartet nicht einmal auf "Inspiration" oder "Anregung", um das in ihrem Geist Angeregte möglichst schnell und gewinnbringend in Taten zu verwandeln. Muße ist Lassen und Zulassen, ist Geschehenlassen und lädt die Gelassenheit ins Leben ein. 

Bitte pflegt Zeiten der Muße und überhört gelassen die (neidischen!) Kommentare, die unsere Zeitgenossen euch aus dem Hamsterrad zurufen. Sie wissen es nicht besser. Sie verdienen unser Mitgefühl.


2 Kommentare:

  1. Liebe Frau Irgang, seit Jahren lese ich Ihren Blog,(nur diesen) und habe immer wieder das Gefühl, dass Sie mir aus dem Herzen sprechen. Dankeschön .Birgit

    AntwortenLöschen

Mit dem Absenden Ihres Kommentars bestätigen Sie, dass Sie meine Datenschutzerklärung (aufrufbar am Ende dieser Seite) sowie die Datenschutzerklärung von Google unter https://policies.google.com/privacy?hl=de gelesen und akzeptiert haben. Sie können Nachfolgekommentare gem. Art. 6 Abs. 1 lit. a DSGVO durch Setzen des Häkchens rechts unter dem Kommentarfeld abonnieren. Google informiert Sie dann mit dem Hinweis auf Ihre Widerrufsmöglichkeiten durch eine Mail an die Adresse, die Sie angegeben haben. Wenn Sie das Häkchen entfernen, wird das Abonnement gelöscht und Ihnen eine entsprechende Nachricht übersandt. Sie können Ihren eigenen Kommentar jederzeit selber wieder löschen oder durch mich entfernen lassen.