Freitag, 27. November 2020

Besuch im Winterweltmuseum

 

Schade, die Museen haben geschlossen. Aber das Winterweltmuseum  hat geöffnet. Rund um die Uhr, der Eintritt ist frei, und es besteht kein Maskenzwang. Ich habe mir gestern mal die neueste Ausstellung angeschaut. Leider war nicht geheizt, deshalb bin ich nach einer halben Stunde gegangen. Ich habe jedoch ein paar schöne Exponate gesehen.

Zum Beispiel dieses Aquarell: Pinselschwünge, die mich an den großen Hokusai erinnern, auf körnig grundierter Mauerleinwand. Davor ein Readymade in hauchzartem Grüngelb und Sanftbraun. Beides zusammen erschafft im Kleinen eine ganze Landschaft. Sehr japanisch. Das Werk war nicht signiert, aber ich denke, von diesem Künstler wird man noch hören.

 


Einen Gang weiter ein Bild, das auf den ersten Blick alltäglich wirkt, für den oberflächlichen Betrachter fast banal. Aber wenn man sich Zeit nimmt und es studiert, entdeckt man die unaufdringliche Raffinesse: Der zarte Spinnenfaden am linken Bildrand, der die Komposition in Balance hält.

 


Und dann ein besonders schönes Stück aus meiner Lieblings-Abteilung, der großen Sammlung an Minimalisten, die das Winterweltmuseum besitzt (auch dies nicht signiert). Ich denke, es bedarf keiner erklärenden Worte. Es will einfach nur bestaunt und bewundert werden.

Ich glaube, heute gehe ich wieder hin. Man muss die wenigen Kultureinrichtungen, die noch geöffnet haben, unterstützen.


Freitag, 13. November 2020

Novembersanft


November, der sanfte Monat. Die Bäume geben ihre Eigenart ab, verschmelzen mit den Wiesen und Hängen. Die Weiden sehen von Weitem aus wie das samtige Fell eines Tieres. Man möchte sie streicheln.



Die Landschaft lässt jetzt ihren Rhythmus erkennen, den Herzschlag, der unter der Vegetation pulst. Die Laubbäume haben ihr Blattfeuer gedimmt und erröten nur noch zart, fast ein wenig verlegen, als wollten sie die Harmonie der Farben nicht stören.



November, der minimalistische Monat. Die Hügel und Täler zeigen ihre Essenz, ohne das schmückende Beiwerk, das im Sommer so begeistert hat. Wir erkennen ihre Sanftheit, das weich Gerundete der Landschaft, die jetzt ganz bei sich ist. 

Ruhe kehrt ein. Auch in uns. 


Sonntag, 8. November 2020

Nagori

 

"Nagori verweist sowohl auf eine Sehnsucht in uns, nämlich die wehmütige Sehnsucht nach einer Sache, die uns verlässt oder die wir verlassen, als auch auf die Vorstellung von etwas, das die Jahreszeit leicht verzögert, als ob diese Sache selbst nur mit Bedauern diese Welt und die ihr zugehörige Jahreszeit verließe. (...) 

Man gibt einen Teil seiner selbst hin, an die Sache, die Welt, die Schönheit und das Herz des geliebten Wesens. Das Herz, das nagori erfährt, ist ein großzügiges, ja ein mutiges Herz: Es hat keine Angst, sich selbst diesen winzigen, nicht unbedingt dramatischen, aber sehr zerbrechlichen und zarten Dingen hinzugeben, aus denen unser Leben sich zusammensetzt."

Aus: Ryoko Sekiguchi "Nagori. Die Sehnsucht nach der von uns gegangenen Jahreszeit", aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Matthes & Seitz

 

Montag, 2. November 2020

Lockdown-Lese-Lust

Kinos, Theater, Konzerthäuser sind zu. Aber es gibt ja die Bücher! Sie verlangen von uns nicht, uns umzuziehen, eine Maske aufzusetzen und den proppenvollen Bus zu besteigen. Sie bitten nur um Stille und eine gute Leselampe. Meine Empfehlungen heute: Bücher über eigensinnige alte Menschen. Starke Persönlichkeiten, die krumme Lebenswege gehen und manchmal stolpern. Also: Vorbilder!

Elizabeth Strout "Die langen Abende", aus dem Amerikanischen von Sabine Roth, Luchterhand Verlag. Wer die kauzige Olive Kitteridge aus Crosby, Maine, noch nicht kennt (aus dem ersten Band "Mit Blick aufs Meer"), hat etwas versäumt. Jetzt ist sie pensioniert, die Kinder sind aus dem Haus, und Olive, störrisch und meinungsfreudig wie immer, ist ziemlich vereinsamt, woran sie nicht unschuldig ist. Aber da ist Jack, der ehemalige Harvard-Professor, den Olive natürlich unmöglich findet. Elizabeth Strout weiß sehr viel von den Sehnsüchten der Menschen und davon, dass eigentlich niemand das Leben lebt, das er oder sie sich vorgestellt hat. Mir gefällt, dass Strout bei aller Klarsicht und Schärfe ihre Protagonisten nie verrät. Ihr Blick auf Menschen ist voller Wärme und Nachsicht.


Benjamin Myers "Offene See", aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Dumont Verlag. Der Krieg ist gerade zu Ende gegangen, und der sechzehnjährige Robert will nicht, wie sein Vater, Bergmann werden. Er macht sich auf eine Wanderung durch das ländliche England und begegnet der alten Dulcie, die mit ihrem Hund in einem verwilderten Cottage lebt. Dulcie - unverheiratet, gebildet, mit unerhörten Ansichten zu Religion und Familie - wird Roberts Mentorin. Sie bringt ihm die Dichter und den Sinn für gutes Essen bei. Mit gefällt diese herrlich aufmüpfige Protagonistin, und natürlich umgibt sie ein Geheimnis, das Robert entdecken wird. Ein Sommer in Südengland - Dachse schlurfen, Eulen blinzeln, Hecken wuchern, das Meer glitzert in der Ferne. Man möchte sich in die Wiese legen und träumen.


Ursula März "Tante Martl", Piper Verlag. Tante Martl hätte ein Junge werden sollen; der Vater verzieh ihr das falsche Geschlecht nie. Die ungeliebte Jüngste wurde Lehrerin, heiratete nicht, wurde von Eltern und Schwestern ausgenutzt und entwickelte dennoch eine starke Persönlichkeit. Ursula März schreibt liebevoll und luzide über ihre besondere Tante, beschönigt keinen familiären Konflikt und stellt sich dennoch vorbehaltlos auf die Seite der Schwester ihrer Mutter. Von Ursula März kann man lernen, Menschen genau zu sehen, ohne sie zu beurteilen. Tante Martl ist nämlich keine einfache Person; je älter sie wird, desto überraschender wird ihre Lebensführung, und dann tritt sie sogar noch im Fernsehen auf. Ursula März hat ihrer Tante, die in der Familie stets zu kurz kam, ein spätes Denkmal gesetzt.

Jocelyne Saucier "Ein Leben mehr", aus dem Französischen von Sonja Finck, Insel Verlag. Zwei alte Männer haben sich in die kanadische Wildnis zurückgezogen. "Das hohe Alter schien ein Hort der Freiheit zu sein, wo man sich keinen Zwängen mehr unterwirft und seinen Geist auf Wanderschaft schicken kann." Zwei geistesverwandte Frauen finden sich ein, die aus unterschiedlichen Gründen mit der engen Welt der Pflichten und Freudlosigkeiten nichts zu tun haben wollen. Die Marihuana-Plantage sorgt für üppige Einkünfte; man hat Zeit für Freundschaft, lange Unterhaltungen und die Beobachtung der Natur. Und dann kommt die Liebe vorbei, an die eigentlich niemand mehr geglaubt hatte - aber viel Zeit, sich zu entfalten, hat sie nicht. Ein traurig-schönes Buch über die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben und Sterben.
 

Und hier noch ein Buch, das ein wenig aus dem Rahmen fällt, obwohl die Autorin nicht weniger eigenwillig ist als die Protagonisten der anderen vier Bücher:

Ryoko Sekiguchi "Nagori. Die Sehnsucht nach der von uns gegangenen Jahreszeit", aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Matthes & Seitz. In Japan kennt man  die Kunst des Kochens mit streng saisonalen Zutaten, wobei die Pflanzen und Fische  als eigenständige Wesen betrachtet werden. Aber dies ist kein Kochbuch, sondern eine Meditation über die Zeitlichkeit. Das Leben des Menschen verläuft linear, auf den Tod zu, das der Pflanzen jedoch ist zyklisch. "Nagori" ist der Übergang von einem Zustand in den anderen. Etwas ist zu Ende gegangen, hat aber eine Spur von sich zurückgelassen. Deshalb, schreibt Sekiguchi, ergreift uns eine Wehmut beim Biss in die letzte Himbeere im November. Sekiguchi lehrt uns, dass wir nicht getrennt sind von den Zyklen der Natur. Ein kleines feines Achtsamkeits-Buch der anderen Art.
 
 
 
Übrigens eignen sich alle Bücher auch gut als Weihnachtsgeschenke. Aber die sollte man auch vorher lesen. Vielleicht will man sie ja doch behalten.