Montag, 26. Februar 2024

Der Geist erschafft Geschichten


 
Beim Anschauen dieses Bildes fragen sich vermutlich viele: Was ist das? Und stellen Überlegungen an. (Gemüse? Baum? Pflanze? Kann man das essen?) Unser Geist ist so konditioniert, dass er nach Erklärungen verlangt. Die reine Wahrnehmung ohne ein Etikett für das Wahrgenommene ist für ihn schlicht eine Überforderung. Dieses Etikettieren, Benennen, Erklären und mit Bekanntem Vergleichen findet blitzschnell statt; es überlagert die ursprüngliche Wahnehmung im Bruchteil einer Sekunde und macht aus etwas, das nie gesehen wurde und nie wieder auf diese Weise gesehen werden wird, etwas beruhigend Bekanntes, dem wir uns nicht mehr widmen müssen. 

Dabei lässt es der Geist aber nicht bewenden. Aus dem scheinbar Bekannten ("Ach, ich weiß, das ist ein Lauch!") spinnt er in Windeseile eine Geschichte über die Lauchsuppe, die es gestern in der Kantine gab, die uns schon bei Oma nie geschmeckt hat, während der Käsekuchen von Oma sehr gut war, woraufhin uns einfällt, dass Mama bald Geburtstag hat und wir nicht wissen, was wir ihr schenken sollen ...

So verengen wir die Welt auf den winzigen Ausschnitt, den wir schon kennen, haben den Kontakt zum Augenblick verloren und damit die Möglichkeit, über etwas ganz Neues, nie Gesehenes staunen zu können. Wir schützen uns erfolgreich davor, vom Leben überrascht zu werden, denn Überraschungen sind anstrengend: Vielleicht verlangen sie von uns ja, unsere Konzepte, Urteile und Erwartungen aufgeben zu müssen, weil diese sich auf einmal als zu klein und eng erweisen für die Wahrheit des Augenblicks.

In meinen Seminaren bitte ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft, sich bei der Gehmeditation auf jeweils einen Sinn zu konzentrieren: Beim Hören nur zu hören, den Klang durch den Körper fließen zu lassen und das Gehörte nicht zu kommentieren ("Ist das ein Fink? Nein, doch eher eine Meise.") Beim Fühlen nur zu fühlen, beim Sehen nur zu sehen. Den Geist zu erwischen, bevor er anfängt, eine Erklärung zu liefern und daraus eine Geschichte auszuspinnen, und stattdessen immer wieder zurückzukehren zur ursprünglichen Wahrnehmung.

Wenn ich höre, höre ich. Wenn ich fühle, fühle ich. Wenn ich sehe, sehe ich. Ganz allmählich, ohne dass wir es beabsichtigen, wird unsere Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung größer, dehnt sich aus, und unsere Sinne nehmen das Ganze wahr, ohne es zu bewerten, zu benennen, zu etikettieren: die Klänge und das Licht, die Bewegung und den Stillstand, das Schwere und das Leichte. Die Welt, wie sie ist. Das Leben.

In diesem Moment, in diesem Raum des Vorsprachlichen, in dem wir die Welt frisch und neu wahrnehmen, können wir erleben, was das Zen "Erwachen" nennt: die Erkenntnis der Verbundenheit und wechselseitigen Durchdringung  all dessen, was ist. Die Erfahrung, dass unser vermeintlich vom Ganzen abgetrenntes Ich keine feststehende Entität ist, sondern mit allem, was ist, mitfließt, sich mit allem bewegt, sich wie alles andere unablässig verändert.

Was also zeigt das Bild dort oben? (Keinen Lauch.) Es zeigt einen Moment der Wahrnehmung von Farben, Texturen und Rhythmen. Etwas, das wir nie zuvor gesehen haben.

Und, in dieser Frische, auch nie wieder sehen werden.



1 Kommentar:

  1. Danke für diese bestärkenden Gedanken und dieses Bild. Ja, Liebe und Schönheit kommen mir so entgegen. Joachim S.

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