Sonntag, 18. Februar 2024

Jemanden gehen lassen

 

In diesem Buch erzähle ich vom plötzlichen Tod meines Halbbruders Ted, den ich spät im Leben gefunden hatte, erwartungsgemäß auf einem anderen Kontinent, dem unseres gemeinsamen Vaters. Zwei Jahre später liegt er auf der Intensivstation.

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"Ich beuge mich über seinen Mund, er spricht nicht mehr deutlich, vielleicht habe ich mich ja verhört. Ich soll ihm etwas vorsingen? Yes, murmelt er. Ich weiß nicht, welche Musik er liebt; um das zu klären, reichte unsere gemeinsame Zeit nicht aus. Ich habe auch keine Ahnung, ob seine Mutter ihm früher Wiegenlieder gesungen hat, deutsche vielleicht, und ob er solch ein Lied jetzt hören möchte.

'Was soll ich denn singen?' frage ich ratlos.

'Amazing Grace', sagt er.

Amazing Grace, how sweet the sound, that saved a wretch like me. Eines der ältesten Lieder der anglikanischen Kirche, das von der erstaunlichen Gnade erzählt, von Gott gefunden und errettet worden zu sein. Was versteht mein Bruder in diesem Moment unter 'errettet sein'? Glaubt er an das Paradies, an das Ewige Leben? Auch das weiß ich nicht.

Draußen die tropische Hitze des amerikanischen Südens, drinnen die Stille der Intensivstation. Leise blubbert die Infusion durch den Schlauch. Ich beuge mich über das Bett und singe für meinen Bruder zum ersten und letzten Mal Amazing Grace.

Man muss leichten Herzens jemanden gehen lassen können. Ich sah, wie sich in meinem Bruder allmählich die Fäden lösten, die ihn an die Menschen in seinem Leben banden. Er entfernte sich unaufhaltsam, in eine Welt hinein, in die wir ihm nicht folgen konnten. Ich stellte mir vor, in diesem Bett zu liegen, und wusste, ich würde in meinen letzten Stunden jemanden an meiner Seite haben wollen, der damit einverstanden ist, dass ich gehe. Denn jemand, der sich an die Fäden, die mich mit ihm verknüpfen, klammert, weil er Angst hat vor dem Gefühl des Verlusts und der Einsamkeit, würde mich noch einmal fesseln an eine Welt, die ich schon fast verlassen habe. Ich wünsche mir einen Menschen, der sich vor meinem Sterben nicht fürchtet, mich begleitet bis zur letzten Sekunde und mir zeigt, dass es ganz und gar in Ordnung ist, zu sterben."

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