Freitag, 23. August 2019

Heute vor fünfzehn Jahren


Heute vor fünfzehn Jahren starb mein "kleiner" Bruder, an einem Tag in Georgia, der 42 Grad hatte.

"Er liegt im Bett, das Profil wie aus Alabaster gemeißelt. Um uns herum die große laute Familie, zu der ich nicht gehöre; sie weinen und reden sich in den Trost hinein, den ich nicht brauche. Ich hatte vier Jahre lang einen Bruder, als Geschenk des Lebens, das uns dauernd Geschenke macht, auch wenn wir das nicht bemerken. Ich hatte das Geschenk nicht verdient, aber ich musste es mir auch nicht verdienen, ich bekam es einfach so. Grundlos, unangekündigt und unerwartet. Das sind die wahren Geschenke, und wenn man solch ein Geschenk erhält, darf man nicht zögern, es anzunehmen, nicht zögern, es zu genießen, und nicht zögern, es gehen zu lassen, wenn es einen verlässt.

Ich knie neben dem Bett in dieser Blase aus Stille, die mich und ihn umhüllt. Er ist alleine gegangen, ohne Beistand in seinen letzten Minuten, das passt zu ihm. Ich würde es vielleicht genauso machen. Wir beide werden jetzt wieder unsere Wege alleine gehen, das können wir, das haben wir ja gelernt. Er ist schon weit voraus, ich werde noch ein wenig bleiben, hier unten, wenn man das so sagen kann. Ja, alleine zu gehen macht uns nichts aus. Und doch war es schön, für eine kurze Wegstrecke eine Begleitung zu haben.

Ich beuge mich über das Alabasterprofil und sage leise: You are safe. Ich weiß nicht, warum ich ihm sage, dass er nun sicher sei, aber ich kann es ganz deutlich sehen: Mein kleiner Bruder, dessen Kindheit auf andere Weise als meine einsam und traurig war, ist vollkommen sicher und behütet, wo immer er jetzt ist."

Aus: Margrit Irgang, "Die Kostbarkeit des Augenblicks", Kreuz Verlag

1 Kommentar:

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