Ich habe einen komplizierten Körper, der mich in Abständen in eine Schmerzhölle schickt. Dann bestehe ich nicht mehr aus einzelnen unterscheidbaren Körperteilen, sondern bin ganz und gar Schmerz. Alles, was ich auch noch bin - hilfreiche Gedanken, aufbauende Gefühle, Zuversicht, Mut - ist scheinbar verschwunden. In solchen Momenten muss mich meine geschätzte Thai-Masseurin wieder zusammensetzen, was mir noch mehr Schmerz bereitet. Aber das ist nicht mein Thema, sondern mein gestriger Besuch bei ihr.
Ihre Praxis ist in der Nähe des Theaters, und auf dem Theaterplatz fand die Kundgebung der streikenden Verdi-Mitglieder statt. Drinnen die sanften meditativen Klänge, die meine Therapeutin mir gönnt, und draußen lautes Gebrüll übers Megaphon. Es war 10.30 Uhr. Wieder zuhause, rief ich im Internet die Tagesschau auf und sah, dass um 10.30 Uhr in München ein abgelehnter Asylbewerber in die Teilnehmer der Verdi-Kundgebung auf dem Stiglmaier-Platz gefahren war. Schwerverletzte, Schocks, Not-Operationen. Ich öffnete mein Mail-Programm und fand den jubelnden Rundbrief einer Bekannten vor: Ihr erstes Enkelkind war zur Welt gekommen. Gesund, vollständig und vollkommen. Um 10.48 Uhr.
Die unfassbare Gleichzeitigkeit all dessen, was geschieht. Ständig müssen sich unsere Gefühle an eine neue Situation anpassen, und das nicht in einem hübsch sanften Übergang. Im Chor singen wir manchmal ein Stück, in dem nach einem Taktwechsel abrupt die Stimmung wechselt. Dann freut sich eine nicht-professionelle Sängerin wie ich, wenn davor eine Viertel-Note Atempause eingelegt wird. Mir scheint, uns fehlen im Moment die Atempausen.
An manchen Tagen begebe ich mich auf meine hohe Wolke und betrachte die entzückende Welt unter mir mit Nachsicht. Die lieben Kleinen, die dort unten so emsig herumwuseln und sich abarbeiten an ihren (von oben betrachtet) so unerheblichen Problemen. Wie sie sich freuen, eine Lösung gefunden zu haben, und nicht sehen, was ich sehe (von oben): Das nächste Problem kommt bereits um die Ecke, und es wird noch viel komplizierter sein als das soeben erledigte. Aber mein Körper holt mich schnell ins sehr Irdische zurück, und vielleicht sollte ich ihm das nicht nur nicht übelnehmen, sondern ihm dankbar dafür sein. Ich bin gezwungen, mittendrin zu bleiben.
Das ist der Sound der Gegenwart: Über ein Megafon gebrüllte Forderungen, die Schreie verletzter Menschen und sehr leise darüber die zarten Klänge der Sitar.
Es gibt Stücke der Neuen Musik, die es ungeübten Ohren schwer machen, eine Melodie zu erkennen. Scheinbar zerfällt das Ganze in unzusammenhängende Einzelteile; ein langgezogener Ton der Streicher, ein Paukenschlag, und dazwischen tönt ein Horn. So geht es uns zurzeit: Wir schaffen es nicht, die Einzelheiten all dessen, was auf uns einstürmt, zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Deshalb neigen wir dazu, den einen Terrorakt hier oder die eine beängstigende Rede aus den USA dort und die erschreckenden Aussagen dieser und jener Partei absolut zu setzen und zu vergessen, dass es auch das andere gibt.
Man braucht Zeit, sich in Neue Musik einzuhören, den ungewohnen Klang anzunehmen und zu begreifen: Ja, das ist ein Ganzes. Hören ist ein Lernprozess. Wenn wir den Gesamtklang des gegenwärtigen Sounds wahrnehmen, hören wir auch die Sitar. Ganz zart schwebt sie über dem Lauten. Aber sie ist da.
Und gönnen wir uns Atempausen.
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