Sonntag, 1. Juni 2025

Van Gogh in der Provence

 

Mitte März 1888 kommt ein von seiner Kunst besessener, aber erfolgloser Maler in Arles an. Vincent van Gogh ist müde und kränkelt, er braucht Licht und Sonne, für seine Bilder wie für sich selbst. "Das ist die Sonne, die niemals in uns eingedrungen ist, uns aus dem Norden", schreibt er enthusiastisch an seinen Bruder Theo. Er mietet - von Theos Geld - vier Zimmer in einem Haus an der Place Lamartine, dem "Gelben Haus". Dort möchte er eine Künstlerkolonie einrichten; ein "Atelier des Südens", in dem sich Maler gegenseitig inspirieren und gleichberechtigt miteinander arbeiten und ausstellen sollen. Aber nur Paul Gauguin folgt nach langem Zögern der Einladung, kauft allerdings nach seiner Ankunft in Arles hoffnungsvoll gleich zwanzig Meter Jute. Die beiden beginnen zu malen. "Das gelbe Haus" wird eines der bekanntesten Bilder van Goghs werden, der das Motiv sehr schwer fand: "Gerade deshalb wollte ich es erobern. Weil es furchtbar ist, diese gelben Häuser in der Sonne, dazu die unvergleichliche Frische des Blaus."



Der Garten des Hospitals in Arles


Viele Bilder entstehen, man versucht sich an denselben Motiven, und die Ergebnisse sind spannend in ihrer Unterschiedlichkeit. Aber beide sind schwierige Charaktere. Das Zusammenleben ist geprägt von Streit und Eifersucht. Vincent erleidet einen Nervenzusammenbruch, und am 23. Dezember 1888 endet der Versuch des gemeinsamen Lebens und Arbeitens auf dramatische Weise: Vincent schneidet sich ein Ohr ab. Erst vor wenigen Jahren tauchten die Zeichnungen des behandelnden Arztes auf und beweisen, dass er sich tatsächlich das ganze Ohr und nicht nur das Ohrläppchen abgeschnitten hat. Mit dem Ohr geht er in ein Bordell und schenkt es einer Prostituierten mit den Worten "Du wirst dich meiner erinnern, das sag ich dir". 

Der Aufenthalt in gelben Haus sollte eigentlich nur eine Zwischenstation sein. Vincent van Gogh imaginierte einen "Garten der Dichter", in dem er mit Gauguin wie Petrarca und Bocaccio Seite an Seite arbeiten würde. Den Garten, in dem er sich am Weihnachtsabend des Jahres 1888 wiederfand, sollte er zwar malen, aber die Umstände waren nicht wie geplant: Er gehörte zum örtlichen Krankenhaus von Arles, in das die Polizei Vincent van Gogh nach seinem Nervenzusammenbruch einlieferte.



Saint Paul de Mausole, das heute eine Psychiatrie für Frauen ist


Im Mai 1889 weiß Vincent van Gogh, dass er Hilfe braucht, und begibt sich freiwillig in das Kloster Saint Paul de Mausole in Saint-Rémy-de-Provence, das zu jener Zeit eine psychiatrische Anstalt ist. Der Arzt der Anstalt diagnostiziert eine Epilepsie "mit schlechter Prognose". Anfangs darf er den Garten nicht verlassen, aber trotz der sicher nicht angenehmen Behandlungen, für die die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts berüchtigt ist, gibt ihm die behütende Umgebung Halt: In seinem winzigen Krankenzimmer entstehen in dem einen Jahr, das er in Saint-Rémy verbringt, fast einhundertfünfzig Gemälde und zahlreiche Zeichnungen. Seine Mitpatienten interessieren sich nicht für den seltsamen Maler, und der Sohn des Klinik-Direktors hängt die bemalten Leinwände an den Baum und schießt begeistert mit Pfeil und Bogen auf die hübschen runden Sonnenblumen. 

An Theo schreibt Vincent, dass die Beobachtung der diversen "Verrücktheiten" seiner Mitpatienten ihn beruhige: "Ich habe gut daran getan, hierher zu kommen. Ich verliere dieses latente Grauen, die Furcht vor der Sache. Und nach und nach beginne ich die Verrücktheit als eine Krankheit wie jede andere zu sehen."





In Saint-Rémy, wie auch in Arles, sind überall Tafeln mit Bildern und Zitaten von van Gogh aufgestellt. Auf meiner kleinen Provence-Reise letzte Woche waren sie und die Geschichte dahinter das Bewegendste, das ich gesehen habe. Vincent van Gogh starb schließlich - da hatte er Saint-Rémy längst verlassen - an einer Kugel im Bauch. Niemand weiß, ob es Selbstmord war oder ob spielende Jungen die Pistole abgefeuert hatten (denn Vincent besaß keine). 

Aber was für ein wunderbares Werk hat dieser Künstler geschaffen, trotz seiner Krankheit. Sein Geist und sein Blick haben sich einfach erhoben über die körperlichen und irdischen Schwierigkeiten der Person. Das macht Mut. Und die geistige und spirituelle Kraft, mit der er seine Bilder gemalt hat, strahlt auf uns, die wir sie irgendwo in einem Land der Welt in einem Museum sehen dürfen, aus. 

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Samstag, 24. Mai 2025

Regenjazz



In der schwülen Stille zuerst ein leises Wisch-Wisch. Als würde ein Jazz-Percussionist mit den Besen über ein Becken streichen. Was für eine Musik soll das werden? Ein schwermütiger Blues, etwas Dunkles, das aus der Tiefe kommt und einen in die Tiefe lockt? Will man da hin, so antriebslos, wie einen die Hitze gemacht hat? Die Besen wischen schneller, ein Stick klopft auf etwas Tönernes (ein Instrument aus Afrika? der Südsee?), dann setzt eine gezupfte Saite ein, im Klang so etwas zwischen Gitarre und Cello. Eine straff gespannte Saite, sie wird doch hoffentlich nicht reißen? 

Der Percussionist legt Tempo zu, die anderen ziehen mit. Als Akzent schleicht sich leise im Hintergrund ein Patschen ein, als werde nasse Wäsche auf einem Stein ausgeschlagen. Ein Geräusch aus einer sehr fernen Zeit in einem sehr fernen Land. Der Wäscher prescht vor. Er patscht, der andere wischt, der dritte plingt. Aufregende Polyrhythmik entsteht, sie grooven sich ein, probieren ein Call and Response, einigen sich kurz auf eine Basis, aus der sie aber gleich wieder ausbrechen.

Und dann setzt endlich die Trommel ein wie eine Erlösung. Alles Bisherige war nur das Präludium, eine Vorbereitung auf das Eigentliche: den donnernden rasenden Wirbel. 

Das ist bester Free Jazz, von Könnern ausgeführt, und von den Menschen fällt im Handumdrehen die Trägheit der schwülen Tage ab. Sie eilen, sie rennen (regen: sich, Verb trans.; rege: sein, werden, Adj., Adv.). Bunte Schirme erblühen auf der Straße. Hunde zerren ihre Menschen hinter sich her, Radfahrer stülpen sich Plastiktüten auf den Kopf, Kinder hüpfen durch Pfützen. 

Der Wäscher aus dem fernen Land verabschiedet sich als Erster und sammelt seine Tücher ein. Der Trommler wischt zum Abschied noch mal lässig über das Becken. Und während die beiden davonbummeln, zupft und plingt der Saitenmusiker in allmählich versiegendem Rhythmus leise nach.

Stille.

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Montag, 19. Mai 2025

Gott spricht

 


God spoke today in flowers,

and I, who was waiting on words,

almost missed the conversation.

Ingrid Goff-Maidoff

 

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Sonntag, 11. Mai 2025

Wann endet ein Krieg?

 


 
Am 8. Mai hat die Welt das Ende des Zweiten Weltkriegs gefeiert. Aber ein Krieg endet nicht, indem offizielle Dokumente unterzeichnet werden, keine Panzer mehr fahren und keine Bomben mehr fallen. 

Als Russland in die Ukraine einmarschierte, las ich zu meiner Verwunderung etliche Kommentare von Schriftstellern im Alter so um die Fünfzig, die ratlos vor der Tatsache standen, dass während ihrer Lebenszeit quasi vor ihrer Haustür ein Krieg stattfand. Der Autor Daniel Schreiber sprach für viele, als er sagte, mit so etwas hätte seine Generation doch nicht gerechnet. Sie seien im Frieden aufgewachsen und jetzt wüssten sie nicht, wie sie gefühlsmäßig mit diesem Krieg umgehen sollten. 

Wo ist diese Generation - um jetzt mal pauschal von einer ganzen Generation zu sprechen - denn aufgewachsen? Auf einer Südsee-Insel? Und was haben ihre Eltern - die in meinem Alter sein dürften - ihnen über den Zweiten Weltkrieg erzählt? Gar nichts? Alles totgeschwiegen? Weil sie bei Kriegsende oder kurz danach geboren wurden, meinten sie, der Krieg ginge sie nichts an? Da irren sich diese Eltern, falls sie so denken sollten, gewaltig. Denn meine Generation trägt den Krieg in sich.

In gewisser Weise bin ich privilegiert: Ich konnte mich nie der Illusion hingeben, mit diesem Krieg nichts zu tun zu haben. Ich bin mit den Erzählungen meiner Mutter aufgewachsen, die bis zu ihrem letzten Augenblick mit dem, was sie erlebt hatte, nicht umgehen konnte. Sie brauchte eine Adressatin für ihre Verzweiflung, die Adressatin war ihre Tochter. Durch meine Mutter weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn die liebevoll eingerichtete Eigentumswohnung in Flammen aufgeht, der Lieblingsbruder auf der Krim "fällt" und was es heißt, im Straßengraben zu kauern, während über einem die Tiefflieger jaulen. Jedes Gewitter löste bei meiner Mutter eine helle Panik aus. Wir durchlebten zu zweit erneut einen Kampf auf Leben und Tod, während vor den Fenstern die Blitze zuckten und der Donner krachte. 

Wir Nachkriegskinder sind eine besondere Generation. Stille und tapfere Überlebende eines Krieges, den wir selbst gar nicht erlebt haben und der uns doch bis heute prägt. Wir tragen ein schweres Erbe, das uns von unseren Vorfahren aufgebürdet wurde, und das wir, Schritt für Schritt, langsam in und durch uns selbst lösen müssen. 
 
Thich Nhat Hanh, von dem die obige Kalligrafie stammt und der selbst Freunde und Angehörige im Vietnam-Krieg verloren hat, sagte, jeder Krieg habe Auswirkungen auf sieben folgende Generationen. Das steht übrigens auch in der Bibel. Vielleicht gehörst du zur zweiten oder dritten Generation, vielleicht sogar zur vierten. Wie wäre es, wenn du dich dem Gedanken öffnen würdest, dass du nichts "falsch gemacht" oder gar im Leben versagt hast, wenn du manchmal von unerklärlichen Ängsten überfallen wirst, einen tiefen Kummer ohne Anlass spürst oder Aggressionen in dir entdeckst, deren Ursprung du dir nicht erklären kannst? Wir alle haben teil an dem dunklen Urgrund eines kollektiven Unbewussten, in dem so viel Schmerz und Gewalt brodeln, die nach dem Krieg hastig mit wilder und falscher Lebenslust zugedeckt wurden.
 
Es ist an uns, die Verantwortung zu übernehmen und all diese Dunkelheit in uns und durch uns stellvertretend für die Gesellschaft zu lösen. Thich Nhat Hanh sprach immer davon, wir sollten unsere Gefühle "umarmen". Das ist ein weiser und liebevoller Rat.
 
Wir umarmen unsere Gefühle, damit die Welt ein wenig heller wird. Das macht uns sanft gegenüber uns selbst und gibt uns Mitgefühl für all jene, die mit ihrem eigenen Erbe, aus ihrem eigenen Land des Krieges zu uns kommen. Aus den Straßengräben, den Flammen, mit den gefallenen Brüdern im Herzen.
 
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Freitag, 2. Mai 2025

Das verborgene Licht

 

Kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 2016 habe ich dieses Buch schon einmal vorgestellt. Aber wie sehr hat sich doch die Welt verändert in dieser, geschichtlich gesehen, so kurzen Zeit. Ich finde, wir brauchen die Geschichten in "Das verborgene Licht" heute mehr denn je. Sie sind so unglaublich reich und wertvoll.

Die Weisheit von Frauen wurde im Buddhismus bis vor Kurzem ignoriert; viele Lehren und Praktiken entspringen einer männlichen Sicht. Die beiden Herausgeberinnen Zenshin Florence Caplow und Reigetsu Susan Moon haben deshalb historische Geschichten ausgegraben, in denen weise Frauen zu Wort kommen. Keine Priesterinnen oder hohen Würdenträgerinnen. Diese Frauen verkaufen vielmehr am Straßenrand Tee und Reiskuchen, erwachen beim Kochen eines Currys oder sind sogar Kurtisaninnen. Aber wehe, ein Mönch lässt sich in seiner Herablassung auf einen Disput mit ihnen ein. Mit einem Satz können sie ihm zur Erleuchtung verhelfen, und notfalls hauen sie ihm eins über den Schädel. Sie sind allesamt Außenseiterinnen, unabhängige Alleinlebende, herrlich unkonventionell und mit scharfem Blick und Verstand gesegnet.

Die Herausgeberinnen nennen diese kurzen Geschichten "Koans", und das sind sie auch. Keine Koans aus dem klassischen Kanon, sondern Alltags-Koans. Sie werden auf sehr persönliche Weise betrachtet von Lehrerinnen diverser buddhistischer Traditionen aus dem anglikanischen Raum und - dank der Verlegerin der deutschen Ausgabe, Ursula Richard - zusätzlich auch von sechzehn deutschsprachigen Lehrerinnen. Die Kommentare sind das Herzstück des Buches. Jede dieser historischen Geschichten wird als hilfreich für den ganz gewöhnlichen Alltag von Frauen dargestellt. Was nützen uns ellenlange Rezitationen? Wir möchten wissen: Was kann ich von dieser meiner Ahnin lernen für meine Arbeit im Büro, für den Frieden in meiner Familie, das Kochen und Putzen und Sorgen für andere? 

Ich durfte auch eine Auslegung beitragen und habe dieses Erleuchtungs-Gedicht der knorrigen alten Chen gewählt:  

Ganz oben auf den Berghängen sehe ich nur alte Holzfäller.
Jeder hat den Geist des Messers und der Axt.
Wie können sie die Bergblumen sehen,
gespiegelt im Wasser - leuchtend, rot?

Ich finde es ein wunderbares Gedicht, das unsere gegenwärtige Situation poetisch beleuchtet.

Das Buch ist ein Schatz fürs Leben, den man nie "ausliest". Auch Männer werden sehr von der Weisheit der Frauen profitieren. Die Herausgeberinnen schreiben in ihrem Vorwort: "Diese Geschichten sind als Spiegel für unser eigenes Leben und unsere eigene Praxis gedacht. Jede Geschichte ist ein Geschenk einer weiblichen Ahnin an Sie, gleichgültig, ob Sie nun ein Mann oder eine Frau sind." 

Florence Caplow, Susan Moon "Das verborgene Licht. 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren, betrachtet von (Zen-)Frauen heute. Aus dem Englischen (sehr gut) übersetzt von Karin Petersen. edition steinrich, ISBN 978-3-942085-48-9.

(Werbung) Wenn ihr online bestellen wollt, empfehle ich euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert, und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. "Das verborgene Licht" bestellen hier (klick).

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Freitag, 25. April 2025

Erwachend leben





Ich bin in jedem Sommer im Intersein-Zentrum, aber in diesem erwartet euch ein besonderes Thema. Ein Retreat, das ich noch nie gegeben habe, hier zum allerersten Mal. 


Erwachend leben

19. bis 23. Juli 2025

Intersein-Zentrum, Hohenau


Wir leben in einer herausfordernden Zeit, in der die alten Lösungen und Ideen nicht mehr funktionieren. Das Wohlergehen unserer Gesellschaft und unseres Planeten hängt von der tiefgreifenden Bewusstseins-Veränderung jedes Einzelnen ab. Wir müssen unsere Verbundenheit mit dem großen Ganzen erkennen und danach handeln.

Das gelingt uns, wenn wir uns wieder mit der Quelle allen Seins verbinden, die im Lauf der Zeit viele Namen bekommen hat: der Ursprung, das Bewusstseinsfeld, das Wahre Selbst und, der Name aller Namen, Gott. Die Erfahrung dieser anderen Ebene ist keineswegs nur besonders spirituell begabten Menschen, den „Mystikern“, vorbehalten. Wir müssen auch nicht Jahre in formaler Meditation verbringen. Der sanfte Weg der Bewusstseins-Veränderung besteht darin, mitten im Alltag erwachend zu leben.

In diesem Retreat wollen wir erkunden, wie wir unser Wahres Selbst berühren können. Spirituelle Erfahrungen sind oft subtil und gehen schnell vorüber, wenn wir sie nicht erkennen und bewusst wertschätzen. Indem wir Inseln der Stille in unserem Alltag erschaffen und immer wieder in den gegenwärtigen Augenblick zurückkehren, öffnen wir den geistigen Raum, in dem sie sich zeigen können. Dann leben wir erwachend, also in innerer Freiheit und erfüllt von Mitgefühl und Freude.

Wir werden die Tage weitgehend in Stille verbringen mit Sitz- und Gehmeditation (auch im Wald), kurze Vorträge hören und uns in Rundgesprächen austauschen. 

Ich würde mich sehr freuen, Dich dort zu sehen. Zur Anmeldung und allen Informationen bitte hier (klick).



Das Video zeigt euch, was für ein wunderbarer Ort euch erwartet, wenn ihr an meinem Retreat teilnehmen wollt. (Bei allen, die meine Posts direkt in ihr Postfach bekommen, wird leider das Video nicht eingebettet. Schaut es euch an, es ist so schön. Hier:  https://www.youtube.com/watch?v=GmOqSEthMIo )

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Samstag, 19. April 2025

Die Paschas


 

Eine persische Legende. Einst herrschte ein König unumschränkt im Land und erteilte willkürliche Befehle, denen jeder zu gehorchen hatte. Niemand wagte ihm zu widersprechen, denn seine Kritiker wurden sofort gnadenlos enthauptet. Eines Tages rief er seine Wesire zu sich und sagte, er wolle von ihnen die Wahrheit hören. Wenn sie die richtige Antwort gäben, würde er ihnen das Leben lassen; die Lüge aber würde sie das Leben kosten. Die Frage war: "Wer ist größer - ich, der König, oder Gott?"

Die Wesire berieten sich bestürzt. Jeder wusste, was der König zu hören wünschte, aber damit würde er sie zwingen, eine Lüge auszusprechen und Gott zu lästern. Das war dem König völlig klar. Sie saßen also in der Falle; jede ihrer Antworten wäre ihr Todesurteil. Nach einer Weile sagte der Großwesir: "Ich nehme die Sache in die Hand."

Sie versammelten sich erneut im Thronsaal, und der König forderte den Großwesir auf, zu sprechen. "Mein König", begann der Wesir, "es ist vollkommen klar, dass Ihr der Größte seid, denn Ihr habt die Macht, uns jederzeit aus Eurem Reich zu verbannen. Während Gott diese Macht nicht hat, denn sein Reich ist überall. Wohin sollte er jemanden verbannen."

Es  hat sie immer gegeben und wird sie immer geben, die Könige, Kaiser, Paschas und Präsidenten dieser Welt, die unumschränkte Macht zu haben glauben und sie nicht haben. Auch sie sind der größeren Macht unterworfen, die im Lauf der Jahrtausende viele Namen bekommen hat und doch keinen Namen braucht, denn sie ist. Sie wirkt. Sie war immer und wird immer sein.

Wir vergessen sie nur zu leicht, denn die weltlichen Könige schreien so laut, dass unsere Ohren taub geworden sind.

Die Christenheit feiert an diesem Wochenende das Fest einer Auferstehung. Etwas, das scheinbar gestorben war, erhebt sich erneut. Das Osterfest ist ein Symbol für die zyklische Veränderung des Lebens und schenkt die Gewissheit, dass alles, wirklich alles, sich wandeln muss, weil dies das Wesen alles Lebendigen ist.

Wir sind nicht Verbannte, sondern für immer Aufgehobene. 

Ich wünsche euch die Freude am Lebendigsein, den Mut, sie auszudrücken, und das Vertrauen in die uralten Gesetze der Natur.

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Sonntag, 13. April 2025

Der Bücherdieb

 

Hier wär`s legal


Bei uns gibt es Sozialkaufhäuser, die eine fabelhafte Auswahl an Büchern haben. Jedes Buch ein Euro, mittwochs siebzig Cent. Vor einem Monat habe ich einen Karton Bücher gespendet, Romane von guten Autoren, die es schaffen, gleichzeitig klug und unterhaltsam zu schreiben. Raritäten also.  Ich freue mich zu sehen, dass nur zwei meiner Bücher keinen Käufer gefunden haben. In einem von ihnen blättert gerade ein Mann, den ich hier noch nie gesehen habe. Ausgebeulte Hose, unförmiges Cord-Jackett, aber ein tadelloser Haarschnitt. Pensionierter Lehrer, gescheiterter Philosoph, Künstler? Er stellt das Buch zurück und greift nach dem zweiten meiner Bücher. 

Hinten bei den Haushaltsgeräten gibt es eine kleine Explosion, so was kommt öfter vor. Die gespendeten Geräte werden zur Probe angeschlossen und erweisen sich als reparaturbedürftig. Als ich mich wieder umwende, sehe ich eine Hand mit meinem Buch in der Tasche des Cord-Jacketts verschwinden. Sehe jetzt auch, wovon diese Hose so ausgebeult ist. Der Mann besorgt sich seinen Lesestoff fürs Wochenende, offenbar ein Vielleser. Jetzt schlendert er zum Ausgang, betont unauffällig. Es fehlt nur, dass er zu pfeifen anfängt. Ein Anfänger. Muss im hohen Alter noch eine nie geübte Tätigkeit erlernen, sie liegt ihm nicht, das sieht man ihm an. 

An der Kasse vorbei, an der unübersehbar ein Schild hängt mit der Aufschrift "Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht". Ich beginne zu grübeln. Wo ist die Anzeige, fern, nah, um die Ecke? Und wie bringt man den Diebstahl dorthin?

Die Antennen von Herrn Schreck sollten jetzt vibrieren, aber Herr Schreck packt gerade an der Kasse den Einkauf einer Kundin ein. Jetzt müsste also ich. Genau sein. Streng. Steht deutlich an der Kasse: Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht! Vier Taschenbücher, heute ist Freitag, macht vier Euro. Haben Sie gerade nicht dabei? Dann hätten wir eine andere Zahl für Sie. 110. 

Der Mann beschleunigt seinen Schritt, läuft die Verandastufen hinunter, schwingt sich auf ein klappriges Rad und radelt davon. Ein freiberuflicher Philosoph, dessen Philosophie so unverständlich ist, dass sie niemanden interessiert? Ein Bildhauer, der seit zehn Jahren nichts verkauft hat? Man muss die Bücherliebhaber lieben. Kein Tablet, kein Tolino. Papier. Bücherliebhaber sind aus der Zeit gefallen, kommen nicht mehr mit. Werden auch nicht mehr in sie hineinfinden, die Zeit ist immer schneller als sie auf ihren klapprigen Rädern. Ich wüsste gern, was er außer meinem Buch geklaut hat. Vielleicht hätte ich ihn beraten sollen, auch ein Diebstahl muss sich lohnen.

Ich fühle mich sehr beschwingt.

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