Samstag, 16. August 2025

Dein schöpferisches Potenzial

 


Wir Menschen erschaffen ja pausenlos irgendetwas. Nicht nur im Tun - wir erschaffen mit unseren Gedanken und Gefühlen die Atmosphäre, die unsere Begegnungen mit Menschen, Tieren und Pflanzen bestimmt. An allem, was in uns und um uns herum geschieht, sind wir auf direkte oder subtile Weise beteiligt. Wir tun dies zumeist unbewusst, und deshalb sind wir mit dem Ergebnis oft so unzufrieden. Wir fragen uns, warum uns bestimmte Dinge immer wieder passieren oder wie wir in diese Situation, die uns unangenehm ist, geraten sind. 

 

Wenn wir bewusst leben, können wir unser schöpferisches Potenzial klug einsetzen. Und dafür müssen wir wissen, wie wir dieses Potenzial berühren und ausdrücken können. Ein wunderbarer Zugang dazu ist die genaue Wahrnehmung. Wenn Du die Welt um Dich herum wirklich in ihren Details anschaust, öffnet sich für Dich eine Tür, die jetzt vielleicht noch verschlossen ist. 

 

Magst Du Dich mit mir zusammen auf die Suche nach Deiner schöpferischen Quelle machen? Dann nimm gerne teil an meinem nächsten Retreat:

 

Die schöpferische Kraft erwecken

2. bis 5. Oktober 2025

Waldhof Freiburg

 

Mehr Informationen und den Anmelde-Link findest Du hier (klick)


Sehen wir uns? Ich würde mich freuen.


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Freitag, 8. August 2025

Die Snack Bar der DB




Im Juli war ich wieder im Intersein-Zentrum. Die Fahrt ist immer, sagen wir mal: interessant. In diesen elf Stunden von Haus zu Haus begegnet mir so einiges, was mich dann längere Zeit bewegt.

Ich hatte eine neue Verbindung, die gut klang. S-Bahn bis Freiburg, ICE von Freiburg nach Karlsruhe, von dort im IC bis Nürnberg, dann ICE bis Passau, dann Bus. In Karlsruhe suchte ich den IC auf dem angegebenen Gleis, fand aber nur die Art Zug, mit der ich von meinem Vorort nach Freiburg gefahren war. Doch, doch, das sei der IC nach Nürnberg, sagte ein Bahnmitarbeiter am Gleis. Regionalverkehr eben. Er wunderte sich, dass ich mich wunderte.

Ich hatte einen Platz gebucht, der mir in dem Wagen reserviert worden war, in dem eine komplette Schulklasse von etwa Achtjährigen auf den Sitzen tobte. Der Rest des Zuges war nahezu leer. Meine erste Aktion war die Flucht. Ich machte es mir in Wagen zwei, hmm, gemütlich. Die Sitzabstände waren beklemmend und die Sitze nicht verstellbar. Die deutsche Bahn stärkt im Regionalverkehr ihren Reisenden das Rückgrat. In diesen Sitzen wird nicht gelümmelt, da zeigt man Haltung.

Abfahrt in Karlsruhe um 9.06 Uhr, Ankunft in Nürnberg um 12.30 Uhr. Dreieinhalb Stunden S-Bahn-Fahrt.

Ich hatte zwei gute Bücher dabei. Die erste Stunde verging, die Sitzabstände legen die Redewendung nahe, wie im Fluge. Dann knackte der Lautsprecher und verkündete Erstaunliches: "Liebe Fahrgäste, eine Erfrischung gefällig? Unsere Mitarbeiter erwarten Sie gerne in unserer Snack Bar in Wagen sechs."

Oha. Eine S-Bahn mit Luxus. Meine Wasserflasche war leer, und ich machte mich auf den Weg zu Wagen sechs. Passierte diverse Kofferrampen, es ging auf und ab, ich wurde hin und her geworfen. In den Wagen, die ich durchquerte, waren ein paar Reisende in großen Abständen hingetupft. Sie sahen mir erstaunt nach. Offenbar hatten sie keinen Wunsch nach Luxus, sie wollten einfach nur ankommen. 

Die letzte Kofferrampe hinauf, Wagen sechs öffnete sich vor mir. An der Wand lehnte eine Mitarbeiterin der Bahn und wischte auf ihrem Handy herum. Als sie mich sah, steckte sie es hastig ein und strahlte mich an. Eine Kundin! Tatsächlich, eine Kundin. Zu ihren Füßen stand einer jener kleinen Einkaufskörbe aus dem Supermarkt, die man sich schnappt, wenn man kurz vor Ladenschluss noch etwas zum Abendessen einkaufen will. In dem Korb befanden sich ein paar Müsliriegel, Chipstüten, ein Apfel und eine winzige Packung Pralinen. Gemeinsam sahen wir auf das Angebot hinab.

"Das ist die Snack Bar?" fragte ich.

"Ja, heute haben wir leider nur eine kleine Auswahl", sagte die Frau hastig und versuchte ein erneutes Strahlen. "Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?"

Im Hintergrund, auf einer Art Wandbord, stand eine Warmhaltekanne mit einem mindestens zwei Stunden alten Kaffee.

"Haben Sie auch etwas Kühles zu trinken?" fragte ich.

"Oh, ja!" rief sie. "Was wollen Sie? Alkoholisch? Nicht alkoholisch?"

Sie schloss eine Wandtäfelung auf, und dort, wo ich in Zügen immer irgendwelche Technik vermutet hatte, kam ein Kühlschrank zum Vorschein. Sie pries mir jede Flasche einzeln an, wahrscheinlich war mein Besuch die einzige Abwechslung, die sie bis Nürnberg erwartete. 

Mit meiner Apfelschorle taumelte ich zurück in Wagen zwei. Die Frau hatte mir noch einen umweltschädigenden Pappbecher aufgedrängt, den ich genommen hatte, weil ich ihr eine Freude machen wollte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn haben keinen leichten Job. Diese tat mir besonders leid.

Ich versenkte mich erneut in mein Buch. Kurz vor Crailsheim knackte der Lautsprecher. "Liebe Fahrgäste, eine Erfrischung gefällig? Unsere Mitarbeiter erwarten Sie gerne in unserer Snack Bar in Wagen sechs."

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Samstag, 2. August 2025

David Steindl-Rast "HerzWerk"

 

Ich habe dieses schöne Buch geschenkt bekommen und muss es mit euch teilen. Der Benediktiner-Mönch David Steindl-Rast liebt Rilke (ich liebe beide, Rilke und Bruder David), und er legt die "Sonette an Orpheus" in diesem Buch im Gespräch mit Alexandra Kreuzeder so kundig und in großer Tiefe aus, wie ich es sonst nur von Dichtern kenne. Ja, David Steindl-Rasts Texte sind selbst Dichtung. Ich habe mich bisher eher mit anderen Gedicht-Zyklen von Rilke befasst, aber jetzt, wo mich David Steindl-Rast so liebevoll an die Hand nimmt, bin ich erstaunt über den sprachlichen und spirituellen Reichtum in den Orpheus-Sonetten.
 
In dem Sonett "O dieses ist das Tier, das es nicht giebt" zum Beispiel besingt Rilke die berühmten Einhorn-Wandteppiche. David Steindl-Rast fragt: "Ist das nicht purer Unsinn? Was es nicht gibt, ist eben nicht wirklich. Ja, es ist unwirklich für alle, denen nur das Handgreifliche als wirklich gilt. Und leider sind das zu viele unter uns." Für die Schöpfer der Wandteppiche jedoch war das Einhorn wirklich, und für Kinder ist es das auch.
 
Im Sonett II,27 fragt Rilke: "Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche, in den Wurzeln - später - still?" David Steindl-Rast sagt dazu: "Nein. Das Kind in uns schläft nur 'bei den Wurzeln'. Dichtung will dieses Kind in uns aufwecken. Es will ja aufwachen, weil unsere Kindheit zu kurz war, um das Kind zu werden, das wir eigentlich sind. Auch das Kind in dir dichtet und liebt das Einhorn."
 
Und, zum Sonett I,19 "Wandelt sich rasch auch die Welt": "Für den Dichter besteht offenbar der Reifungsprozess eines Menschenlebens in fortschreitendem Verwandeln, bei dem das Außen immer geringer wird und schließlich verschwindet, wenn aller von uns lebenslang eingeheimster Nektar des Sichtbaren zu Honig wurde - im unsichtbaren Bereich. Er nennt uns Menschen ja auch 'die Bienen des Unsichtbaren'."
 
Rilke weiß, dass es keine Trennung gibt zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt: "Es gibt weder ein Diesseits noch ein Jenseits, sondern die große Einheit ... Engel wissen oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten." Für Rilke gibt es auch keine Trennung zwischen dem Schmerzhaften und Beglückenden. In einem Brief an Emmy Hirschfeld schreibt er: "Was von uns verlangt wird, ist, dass wir das Schwere lieben und mit dem Schweren umgehen lernen. Im Schweren sind die freundlichen Kräfte, die an uns arbeiten. Mitten im Schweren sollen wir unsere Freuden haben, unser Glück, unsere Träume; da, vor der Tiefe dieses Hintergrunds, heben sie sich ab, da sehen wir erst, wie schön sie sind."
 
Das Buch ist so reich, weil die beiden Autoren auch Briefe und andere Gedichte von Rilke heranziehen, um den Kosmos der "Sonette an Orpheus" zu vertiefen. Ich könnte hier viele Lieblings-Stellen zitieren, aber lest doch am besten selbst. Das Buch gehört zu den Büchern, die man nie "ausliest", mit denen man nie "fertig ist". 
 
David Steindl-Rast und Alexandra Kreuzeder "Herzwerk. Freude finden mit Rainer Maria Rilkes 'Sonette an Orpheus'", mit sehr schönem Leinen-Einband, Tyriolia Verlag, ISBN 978-3-7022-4257-2, 25 EUR.
 
(Werbung) Wenn ihr online bestellen wollt, empfehle ich euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert, und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. "HerzWerk" bestellen hier (klick).
  
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Sonntag, 27. Juli 2025

Straßenkind

 

 

In einem öffentlichen Bücherregal habe ich ein Buch von mir gefunden. 

Jemand hat das also gelesen und nicht in die Papiertonne geworfen, weil die Person fand, dieses Buch sollten auch andere Menschen lesen. Das ist sehr nett und nicht selbstverständlich. Trotzdem war ich etwas erschrocken. Dem Autor Frank Berzbach ist das auch mal passiert. Er schreibt treffend: "Auf die eigenen Bücher zu stoßen, zufällig, erinnert daran, was man überhaupt macht, wenn man schreibt. Da geistern Objekte mit Herzblut durch die Welt, deren Wege man nicht steuert. Menschen, die man noch nie gesehen hat, kennen einen."

Ich habe impulsiv zugegriffen und mein Buch mitgenommen.

Jetzt denke ich darüber nach, warum ich das getan habe. Ich habe einen vernünftigen Grund dafür: Meine Bücher sind alle vergriffen; wenn eins im Antiquariat angeboten wird, kaufe ich es. Ganz klar, dass ich dieses nicht stehenlassen konnte. Aber die Erklärung bleibt an der Oberfläche. Die Wahrheit liegt, wie immer, in den Gefühlen.

Mein Buch dort zu sehen war, als würde mein Kind allein in einer Menschenmenge stehen. Ich dachte: Was sind das für seltsame Leute, von denen es umgeben ist, wie ist es unter die geraten? Die kenne ich alle nicht. Dort kann es ihm nicht gutgehen. Wie die meisten Mütter wünsche ich für mein Kind die passende Umgebung, in der es strahlen und seine Vorzüge zur Geltung bringen kann. Zum Beispiel auf dem Tisch mit dem Schild "Besondere Empfehlungen" in einer guten Buchhandlung. 

Eingezwängt zwischen Bücher, von denen ich nicht eins lesen wollte, stand mein Kind in seiner Aura der Verlorenheit herum. Mein Kind ist kein Straßenkind. 

Also nahm ich es an die Hand und brachte es nach Hause. 

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Dienstag, 15. Juli 2025

Andrea Gibson, RIP

 


Andrea Gibson war eine der großen zeitgenössischen Dichterinnen der USA, Poet Laureate von Colorado und auch sonst vielfach ausgezeichnet. Vor vier Jahren bekam sie die Krebs-Diagnose, und wir konnten miterleben, wie sie sich durch Schmerzen und heftigste Behandlungen hindurcharbeitete und dabei immer leuchtender und liebender wurde: "Sometimes grief is the fastest way to the truth". 

Andrea hinterlässt ein unglaubliches Werk voller Schmerz und Freude. Man kann ihre Gedichte eigentlich nicht übersetzen, deshalb tue ich es hier nicht. Man sollte sie überhaupt nicht lesen, sondern hören. Schaut Euch das Video an, dann wisst Ihr, was ich meine. Es trägt den Titel "Every Time I Ever Said I Want to Die".

"A difficult life is not less worth living than a gentle one. Joy is simply easier to carry than sorrow, and your heart could lift a city from how long you’ve spent holding what’s been nearly impossible to hold.

This world needs those who know how to do that. Those who could find a tunnel that has no light at the end of it, and hold it up like a telescope to know the darkness also contains truths that could bring the light to its knees.

Grief astronomer, adjust the lens, look close, tell us what you see."

Auf ihrem Substack Account schrieb sie unter anderem "Love Notes From The Chemo Room". Jede und jeder von uns, die wir in schwierigen Umständen welcher Art auch immer leben, sollten ihn lesen, finde ich:  https://andreagibson.substack.com/. Andreas Gedichte und ihre Emotionalität gehen mir unter die Haut, und es gibt Tage, an denen ich sie nicht ertrage. Aber was für ein Wunder, dass eine solch hochbegabte Autorin ihre tiefsten Schmerzen und Freuden mit uns geteilt hat.

Andrea starb gestern, am 14. Juli, im Alter von 49 Jahren.

(Wenn bei Euch das Video nicht eingebettet wird: Hier ist es.)

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Sonntag, 13. Juli 2025

Dieser Löwe schläft nicht

 


Im Urwald schreien die Affen und Vögel, ab und zu kommt ein Wolkenbruch, und irgendwo, versteckt in einer Höhle, schläft ein Löwe.

Er schläft da genau fünf Minuten, aber dann wacht er auf. Das ist nicht verwunderlich. Wer wacht nicht auf, wenn er den fabelhaften Knabenchor Dagilélis aus Litauen hört, hier mit "The Lion Sleeps Tonight".

Alle, bei denen das Video nicht angezeigt wird, finden es hier:  https://www.youtube.com/watch?v=tGxyoRuslpA&list=RDtGxyoRuslpA&start_radio=1 

Ich wünsche euch sonnige Tage. Verschlaft sie nicht, der Sommer ist kurz.

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Montag, 30. Juni 2025

Abends am Teich

 

Es ist Abend, der Tag erwacht.

Es war, als hätte er seit dem Morgen den Atem angehalten. Ermattet ließ er sich von den Stunden durchziehen und schenkte uns keinen Hauch. 

Jetzt atmet er aus. 



Kleine vielbeinige Wesen erwachen im Gras. Ein Fisch springt aus dem Wasser. Etwas gestreift Geflügeltes summt, etwas samtig Dunkelbraunes brummt.  

Am Ufersaum steht unbeweglich eine Taube, die roten Füße im Wasser. Sie bückt sich und trinkt. Blickt sich um. Trinkt. Sie hat die Oase gefunden, spät am Tag, aber rechtzeitig vor dem Schlafengehen. Endlich herrlich kühle Füße. Hier wird sie so schnell nicht weggehen. Sie blickt. Sie trinkt.

Die Libellen üben Tiefflüge. 


 

In den Bäumen erwachen die Wesen der Nacht. Ein Ruf weht über das Tal, als blase jemand in ein Holzrohr, das keine Klanglöcher hat. Ein trockener, hohler Ton ohne Nachschwingen. Von der anderen Seite des Tales kommt die Antwort. Trocken, hohl. 

All dies Rufen, Brummen und Summen ist die Stimme der Stille in den Dingen der Natur. Wenn sie ganz bei sich sind, am Abend und frühen Morgen, kann man sie hören, wenn man im Schweigen geübt ist. 

Die Erde rollt sich in eine weitere heiße Nacht. 

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Samstag, 21. Juni 2025

Rhythmus in meinem Leben

 


Die Wissenschafts-Journalistin Dr. Ulrike Gebhardt interessiert sich für das Thema Rhythmus. Sie schreibt darüber in dem interessanten Blog "Taktvoll" hier (klick). 

Ab und an befragt sie Menschen nach ihren eigenen Rhythmen und wie sie diese leben. Sie hat auch mich eingeladen, die Fragen in ihrem Fragebogen zu beantworten, über die nachzudenken sich für jede/n lohnt. Habe ich gern gemacht. 

Wenn ihr Lust habt, schaut ihn euch an hier (klick).

Ihr erfahrt ein paar Dinge über mich, die ihr mich sicher nie gefragt hättet. 😊

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Mittwoch, 18. Juni 2025

Richard Pousette-Dart "Poesie des Lichts"

 

Feier der Geburt 1975/76


"Jedes lebendige Kunstwerk ... enthält einen inneren Kern, der mit Erklärungen, Definitionen und Untersuchungen nicht erreicht werden kann. Der Kern bleibt jenseits von all dem. Es ist dieses lebendige Etwas, das Kunst mystisch macht und wirklich." (Richard Pousette-Dart)

Richard Pousette-Dart brach sein Studium am renommierten Bard College ab, um seinen eigenen Weg zu gehen. Im Jahr 1941 - er war gerade 24 Jahre alt - erhielt er seine erste Einzelausstellung und wurde rasch, wie das im Kunstbetrieb so üblich ist, eingeordnet, in seinem Fall in die Generation der Abstrakten Expressionisten. Pousette-Dart aber lehnte jede Einordnung ab. Er lebte zurückgezogen, las Mystiker wie Jakob Böhme, auch Laotse und Daisetz Teitaro Suzuki und widmete sich den universellen spirituellen Symbolen Kreis, Spirale, Kreuz und Welle. Er wollte in seiner Kunst etwas erkunden, das er "Präsenz" nannte. Was macht ein Kunstwerk lebendig - und was geschieht zwischen dem Betrachter und dem Werk?




Byzantinische Kapelle


Im Museum Frieder Burda in Baden-Baden ist jetzt - dreiundzwanzig Jahre nach dem Tod des Künstlers - die erste Retrospektive seines Werks außerhalb der USA zu sehen, die zu Recht den Titel trägt "Poesie des Lichts". Vor den riesigen Leinwänden zu stehen ist überwältigend. Alles flirrt, tanzt, jedes Partikel scheint sich zu bewegen. Pousette-Dart hat bis zu dreißig verschiedene Farbschichten aufgetragen und teilweise wieder weggekratzt. Das Tryptichon "Byzantinische Kapelle" scheint aus winzigen Mosaiksteinen zusammengesetzt zu sein, aber es ist ein Gemälde. Von Weitem betrachtet, fällt hier das Licht durch blaue Kirchenfenster. Erst wenn man nahe herantritt, sieht man die feinen Grün- und Rottöne, die durch das Blau hindurchschimmern, und die pastos aufgetragene Farbe verändert das Bild je nach Lichteinfall.



Detail aus der "Byzantinischen Kapelle"


"Kunst ist Magie, sie ist Freude, mit Gärten voller Überraschungen und Wunder. Kunst ist Energie, Impuls, sie ist Frage und Antwort. Sie ist transzendentale Vernunft. Sie ist ihrem Geist nach ganzheitlich." (Richard Pousette-Dart)

In seinem sehr guten Essay im Begleitheft zur Ausstellung sagt der Schriftsteller Daniel Schreiber: "Bilder, die mit allen Dimensionen des Lichts spielen, mit seiner emotionalen und psychischen Wirkung, mit seiner irisierenden Reflexionsfähigkeit, mit seinem Schimmern, seinem Glanz und seinem Strahlen, mit seiner Fähigkeit, ungeahnte Energien freizusetzen. Es sind sphärische Harmonien, die so emotional sind, dass man sich ihnen kaum entziehen kann. Es sind Bilder, in denen man sich verliert."

Die Freude des Malers beim Malen strahlt aus jedem Bild. Ich konnte mich nicht sattsehen an diesem Leuchten und Flirren, und als meine Freundin und ich nach Stunden die Ausstellung verließen, waren wir einfach nur glücklich.



Das Prächtige 1950/51


Die Ausstellung ist bis zum 14. September 2025 im Museum Frieder Burda in Baden-Baden zu sehen. Unbedingt ansehen! Informationen hier (klick).

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Freitag, 13. Juni 2025

Morgens im Wald

 


An Pfingsten scheint halb Freiburg in den Süden gefahren zu sein (kluge Leute waren da bereits und sind längst wieder zu Hause ...), also ist jetzt die schönste Zeit, in den Wald zu gehen. Das Grün ist nach dem tagelangen Regen geradezu überfordernd für die Augen, und meine Lungen erschrecken fast, so viel reine Luft angeboten zu bekommen. Können sie die überhaupt noch bewältigen?

Lange nicht mehr hier gewesen. Wurde Zeit.



Dieses herrliche Alleinsein. Im Wald hat es eine andere Qualität als in der Wohnung. Es wird größer, umfassender, bekommt räumliche Qualität und übersteigt das Persönliche. Die Dinge des Waldes sind bei sich, und ich betrete ihren Seinsraum behutsam und respektvoll. Sie lassen mich gewähren (ich bin ihnen egal), und das ist mehr, als ich in irgendeiner Straße irgendeines Ortes je erlebe. Kein fremder Blick stört mich beim Schauen, ich darf einfach hier sein, ohne mich vorstellen oder meine Anwesenheit erklären zu müssen.





Aber Paradiese gibt es nur in der Literatur. Etwas bricht krachend aus dem hüfthohen Gebüsch. Ein Reh, ein Hase, wütendes Wildschwein, muss man wachsam sein? Ja, man muss: Ein Paar mit Stöcken stapft vorbei und mustert mich und mein Smartphone befremdet. Er wähnt sich außer Hörweite, als er zu ihr sagt: "Hier gibt`s doch nix zu fotografieren!"






Wieder allein in der Stille. Oben in den Wipfeln zarte Vogelrufe. Ein Junimorgen um halb neun. Ich möchte jetzt an keinem anderen Ort in der Welt sein.

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Samstag, 7. Juni 2025

Der geschmeidige Geist

 

Quelle: Wikipedia


Ich habe gelesen, dass bestimmte Spinnen-Arten ihre Netze grundsätzlich nur zwischen Gräser und leichte Äste hängen. Ihr Instinkt sagt ihnen, dass ein zwischen feste Objekte gespanntes Netz im Wind leicht zerreißen kann, während ihre Netze im Wind elastisch mit den Gräsern schwingen. 

Auch unser Leben ist immer wieder einem manchmal heftigen Wind ausgesetzt. Wenn unser Geist sich dann an das Feste klammert in der Hoffnung, es würde ihm Sicherheit geben, kann er irritiert und auch tief gestört werden. Das Feste ist das Gewohnte, in dem wir uns eingerichtet haben, das, was uns vertraut ist. Die täglichen Abläufe im Alltag, die Handgriffe, die wir blind ausführen, die Menschen, an die wir gewöhnt sind. Aber auch unsere Meinungen, Überzeugungen und Urteile, die mindestens so starr sind wie eine Mauer, die kluge Spinnen meiden. Die Zeiten des großen Windes sind die gefährlichsten in unserem Leben. Nichts scheint mehr so zu sein, wie es war. Wir müssen einsehen: Mein Urteil über dies und jenes erweist sich als völlig falsch. Der Mensch, dem ich vertraut habe, hat mich betrogen. Die Diagnose, die mein Arzt mir mitteilt, stellt mein Leben auf den Kopf. 

Unsere alten Strategien funktionieren nicht mehr. Jetzt ist es für unsere körperliche und psychische Gesundheit wichtig, dass unser Geist geschmeidig mitschwingt mit dem Sturm. Auch wenn unser Netz, anders als das der Spinne, nie zerreißen kann.

Das Netz der Spinne ist ihr Zuhause, sie hat kein anderes. Es ist sichtbar für alle aufgespannt und deshalb so gefährdet. Unser Zuhause ist in uns selbst verborgen; so verborgen, dass viele Menschen es noch nie betreten haben. Wir können nur dann vertrauensvoll mit den Stürmen umgehen, wenn wir in uns zu Hause sind. Gerade in Zeiten des Umbruchs, in denen wir das Gefühl haben, uns werde der Boden unter den Füßen weggezogen, können wir die Lehre des Buddha konkret erfahren. Im "Sutra über die Unterweisungen für Kranke", das in buddhistischen Klöstern oft rezitiert wird, heißt es:

"Dieser Körper bin nicht ich. Ich bin nicht gebunden an diesen Körper.
Dieser Geist ist nicht ich. Ich bin nicht gebunden an diesen Geist."

In dem Sutra ist mit "Geist" der persönliche Geist gemeint, mit den Gedanken, die Gefühle auslösen, die wiederum Gedanken erzeugen. In Krisen-Situationen erkennen wir, dass er zwar ein großartiges Instrument ist, mit dem wir das Leben erfahren, es aber in uns eine tiefere, größere Weite gibt, die weder Geist noch Körper ist. Diese Tiefe nannte Thich Nhat Hanh "dein Wahres Selbst". 

Wir können uns immer wieder mit unserem Wahren Selbst verbinden, indem wir mitten im Alltag innehalten und bewusst ein- und ausatmen, ohne den Gedanken zu erlauben, sich einzumischen. In dieser Tiefe begegnen wir einer wunderbar warmen, heilsamen und beruhigenden Stille. Es ist, als würden wir heimkehren; wir haben das Gefühl: Ach, da bist du ja, wer oder was immer du bist. Dich habe ich so lange gesucht, und dabei warst du doch immer bei mir. So nah.

Während der Sturm uns durchschüttelt, bewegt sich unser Geist geschmeidig mit. Lässt los, was nicht zu halten ist, nimmt an, was immer da kommt. Wir aber sind geborgen in unserem Netz, das nie zerreißen kann. Unserem Wahren Selbst.

In meinem Retreat "Erwachend leben" im Juli im Intersein-Zentrum kannst Du mit mir das Thema vertiefen. Alle Informationen findest Du hier (klick).

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Sonntag, 1. Juni 2025

Van Gogh in der Provence

 

Mitte März 1888 kommt ein von seiner Kunst besessener, aber erfolgloser Maler in Arles an. Vincent van Gogh ist müde und kränkelt, er braucht Licht und Sonne, für seine Bilder wie für sich selbst. "Das ist die Sonne, die niemals in uns eingedrungen ist, uns aus dem Norden", schreibt er enthusiastisch an seinen Bruder Theo. Er mietet - von Theos Geld - vier Zimmer in einem Haus an der Place Lamartine, dem "Gelben Haus". Dort möchte er eine Künstlerkolonie einrichten; ein "Atelier des Südens", in dem sich Maler gegenseitig inspirieren und gleichberechtigt miteinander arbeiten und ausstellen sollen. Aber nur Paul Gauguin folgt nach langem Zögern der Einladung, kauft allerdings nach seiner Ankunft in Arles hoffnungsvoll gleich zwanzig Meter Jute. Die beiden beginnen zu malen. "Das gelbe Haus" wird eines der bekanntesten Bilder van Goghs werden, der das Motiv sehr schwer fand: "Gerade deshalb wollte ich es erobern. Weil es furchtbar ist, diese gelben Häuser in der Sonne, dazu die unvergleichliche Frische des Blaus."



Der Garten des Hospitals in Arles


Viele Bilder entstehen, man versucht sich an denselben Motiven, und die Ergebnisse sind spannend in ihrer Unterschiedlichkeit. Aber beide sind schwierige Charaktere. Das Zusammenleben ist geprägt von Streit und Eifersucht. Vincent erleidet einen Nervenzusammenbruch, und am 23. Dezember 1888 endet der Versuch des gemeinsamen Lebens und Arbeitens auf dramatische Weise: Vincent schneidet sich ein Ohr ab. Erst vor wenigen Jahren tauchten die Zeichnungen des behandelnden Arztes auf und beweisen, dass er sich tatsächlich das ganze Ohr und nicht nur das Ohrläppchen abgeschnitten hat. Mit dem Ohr geht er in ein Bordell und schenkt es einer Prostituierten mit den Worten "Du wirst dich meiner erinnern, das sag ich dir". 

Der Aufenthalt in gelben Haus sollte eigentlich nur eine Zwischenstation sein. Vincent van Gogh imaginierte einen "Garten der Dichter", in dem er mit Gauguin wie Petrarca und Bocaccio Seite an Seite arbeiten würde. Den Garten, in dem er sich am Weihnachtsabend des Jahres 1888 wiederfand, sollte er zwar malen, aber die Umstände waren nicht wie geplant: Er gehörte zum örtlichen Krankenhaus von Arles, in das die Polizei Vincent van Gogh nach seinem Nervenzusammenbruch einlieferte.



Saint Paul de Mausole, das heute eine Psychiatrie für Frauen ist


Im Mai 1889 weiß Vincent van Gogh, dass er Hilfe braucht, und begibt sich freiwillig in das Kloster Saint Paul de Mausole in Saint-Rémy-de-Provence, das zu jener Zeit eine psychiatrische Anstalt ist. Der Arzt der Anstalt diagnostiziert eine Epilepsie "mit schlechter Prognose". Anfangs darf er den Garten nicht verlassen, aber trotz der sicher nicht angenehmen Behandlungen, für die die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts berüchtigt ist, gibt ihm die behütende Umgebung Halt: In seinem winzigen Krankenzimmer entstehen in dem einen Jahr, das er in Saint-Rémy verbringt, fast einhundertfünfzig Gemälde und zahlreiche Zeichnungen. Seine Mitpatienten interessieren sich nicht für den seltsamen Maler, und der Sohn des Klinik-Direktors hängt die bemalten Leinwände an den Baum und schießt begeistert mit Pfeil und Bogen auf die hübschen runden Sonnenblumen. 

An Theo schreibt Vincent, dass die Beobachtung der diversen "Verrücktheiten" seiner Mitpatienten ihn beruhige: "Ich habe gut daran getan, hierher zu kommen. Ich verliere dieses latente Grauen, die Furcht vor der Sache. Und nach und nach beginne ich die Verrücktheit als eine Krankheit wie jede andere zu sehen."





In Saint-Rémy, wie auch in Arles, sind überall Tafeln mit Bildern und Zitaten von van Gogh aufgestellt. Auf meiner kleinen Provence-Reise letzte Woche waren sie und die Geschichte dahinter das Bewegendste, das ich gesehen habe. Vincent van Gogh starb schließlich - da hatte er Saint-Rémy längst verlassen - an einer Kugel im Bauch. Niemand weiß, ob es Selbstmord war oder ob spielende Jungen die Pistole abgefeuert hatten (denn Vincent besaß keine). 

Aber was für ein wunderbares Werk hat dieser Künstler geschaffen, trotz seiner Krankheit. Sein Geist und sein Blick haben sich einfach erhoben über die körperlichen und irdischen Schwierigkeiten der Person. Das macht Mut. Und die geistige und spirituelle Kraft, mit der er seine Bilder gemalt hat, strahlt auf uns, die wir sie irgendwo in einem Land der Welt in einem Museum sehen dürfen, aus. 

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Samstag, 24. Mai 2025

Regenjazz



In der schwülen Stille zuerst ein leises Wisch-Wisch. Als würde ein Jazz-Percussionist mit den Besen über ein Becken streichen. Was für eine Musik soll das werden? Ein schwermütiger Blues, etwas Dunkles, das aus der Tiefe kommt und einen in die Tiefe lockt? Will man da hin, so antriebslos, wie einen die Hitze gemacht hat? Die Besen wischen schneller, ein Stick klopft auf etwas Tönernes (ein Instrument aus Afrika? der Südsee?), dann setzt eine gezupfte Saite ein, im Klang so etwas zwischen Gitarre und Cello. Eine straff gespannte Saite, sie wird doch hoffentlich nicht reißen? 

Der Percussionist legt Tempo zu, die anderen ziehen mit. Als Akzent schleicht sich leise im Hintergrund ein Patschen ein, als werde nasse Wäsche auf einem Stein ausgeschlagen. Ein Geräusch aus einer sehr fernen Zeit in einem sehr fernen Land. Der Wäscher prescht vor. Er patscht, der andere wischt, der dritte plingt. Aufregende Polyrhythmik entsteht, sie grooven sich ein, probieren ein Call and Response, einigen sich kurz auf eine Basis, aus der sie aber gleich wieder ausbrechen.

Und dann setzt endlich die Trommel ein wie eine Erlösung. Alles Bisherige war nur das Präludium, eine Vorbereitung auf das Eigentliche: den donnernden rasenden Wirbel. 

Das ist bester Free Jazz, von Könnern ausgeführt, und von den Menschen fällt im Handumdrehen die Trägheit der schwülen Tage ab. Sie eilen, sie rennen (regen: sich, Verb trans.; rege: sein, werden, Adj., Adv.). Bunte Schirme erblühen auf der Straße. Hunde zerren ihre Menschen hinter sich her, Radfahrer stülpen sich Plastiktüten auf den Kopf, Kinder hüpfen durch Pfützen. 

Der Wäscher aus dem fernen Land verabschiedet sich als Erster und sammelt seine Tücher ein. Der Trommler wischt zum Abschied noch mal lässig über das Becken. Und während die beiden davonbummeln, zupft und plingt der Saitenmusiker in allmählich versiegendem Rhythmus leise nach.

Stille.

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Montag, 19. Mai 2025

Gott spricht

 


God spoke today in flowers,

and I, who was waiting on words,

almost missed the conversation.

Ingrid Goff-Maidoff

 

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Sonntag, 11. Mai 2025

Wann endet ein Krieg?

 


 
Am 8. Mai hat die Welt das Ende des Zweiten Weltkriegs gefeiert. Aber ein Krieg endet nicht, indem offizielle Dokumente unterzeichnet werden, keine Panzer mehr fahren und keine Bomben mehr fallen. 

Als Russland in die Ukraine einmarschierte, las ich zu meiner Verwunderung etliche Kommentare von Schriftstellern im Alter so um die Fünfzig, die ratlos vor der Tatsache standen, dass während ihrer Lebenszeit quasi vor ihrer Haustür ein Krieg stattfand. Der Autor Daniel Schreiber sprach für viele, als er sagte, mit so etwas hätte seine Generation doch nicht gerechnet. Sie seien im Frieden aufgewachsen und jetzt wüssten sie nicht, wie sie gefühlsmäßig mit diesem Krieg umgehen sollten. 

Wo ist diese Generation - um jetzt mal pauschal von einer ganzen Generation zu sprechen - denn aufgewachsen? Auf einer Südsee-Insel? Und was haben ihre Eltern - die in meinem Alter sein dürften - ihnen über den Zweiten Weltkrieg erzählt? Gar nichts? Alles totgeschwiegen? Weil sie bei Kriegsende oder kurz danach geboren wurden, meinten sie, der Krieg ginge sie nichts an? Da irren sich diese Eltern, falls sie so denken sollten, gewaltig. Denn meine Generation trägt den Krieg in sich.

In gewisser Weise bin ich privilegiert: Ich konnte mich nie der Illusion hingeben, mit diesem Krieg nichts zu tun zu haben. Ich bin mit den Erzählungen meiner Mutter aufgewachsen, die bis zu ihrem letzten Augenblick mit dem, was sie erlebt hatte, nicht umgehen konnte. Sie brauchte eine Adressatin für ihre Verzweiflung, die Adressatin war ihre Tochter. Durch meine Mutter weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn die liebevoll eingerichtete Eigentumswohnung in Flammen aufgeht, der Lieblingsbruder auf der Krim "fällt" und was es heißt, im Straßengraben zu kauern, während über einem die Tiefflieger jaulen. Jedes Gewitter löste bei meiner Mutter eine helle Panik aus. Wir durchlebten zu zweit erneut einen Kampf auf Leben und Tod, während vor den Fenstern die Blitze zuckten und der Donner krachte. 

Wir Nachkriegskinder sind eine besondere Generation. Stille und tapfere Überlebende eines Krieges, den wir selbst gar nicht erlebt haben und der uns doch bis heute prägt. Wir tragen ein schweres Erbe, das uns von unseren Vorfahren aufgebürdet wurde, und das wir, Schritt für Schritt, langsam in und durch uns selbst lösen müssen. 
 
Thich Nhat Hanh, von dem die obige Kalligrafie stammt und der selbst Freunde und Angehörige im Vietnam-Krieg verloren hat, sagte, jeder Krieg habe Auswirkungen auf sieben folgende Generationen. Das steht übrigens auch in der Bibel. Vielleicht gehörst du zur zweiten oder dritten Generation, vielleicht sogar zur vierten. Wie wäre es, wenn du dich dem Gedanken öffnen würdest, dass du nichts "falsch gemacht" oder gar im Leben versagt hast, wenn du manchmal von unerklärlichen Ängsten überfallen wirst, einen tiefen Kummer ohne Anlass spürst oder Aggressionen in dir entdeckst, deren Ursprung du dir nicht erklären kannst? Wir alle haben teil an dem dunklen Urgrund eines kollektiven Unbewussten, in dem so viel Schmerz und Gewalt brodeln, die nach dem Krieg hastig mit wilder und falscher Lebenslust zugedeckt wurden.
 
Es ist an uns, die Verantwortung zu übernehmen und all diese Dunkelheit in uns und durch uns stellvertretend für die Gesellschaft zu lösen. Thich Nhat Hanh sprach immer davon, wir sollten unsere Gefühle "umarmen". Das ist ein weiser und liebevoller Rat.
 
Wir umarmen unsere Gefühle, damit die Welt ein wenig heller wird. Das macht uns sanft gegenüber uns selbst und gibt uns Mitgefühl für all jene, die mit ihrem eigenen Erbe, aus ihrem eigenen Land des Krieges zu uns kommen. Aus den Straßengräben, den Flammen, mit den gefallenen Brüdern im Herzen.
 
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