Der britische National Health Service hat 2023 untersucht, wie man "schnell und eindeutig den Alterungsprozess eines Menschen prüfen kann". Der wichtigste Wert sei der Flamingo-Stand: Wer länger auf einem Bein stehen kann, lebe länger. Für den Einbein-Stand gibt es strenge Vorgaben, gestaffelt nach Alter. Die Vorgabe für meine Altersgruppe ist 18 bis 19 Sekunden. Hm? Auf dem rechten Bein stand ich heute morgen beim Zähneputzen 90 Sekunden, auf dem linken, na ja, 25.
Heute bin ich, die Alte, ein Jahr älter geworden. Der britische Health Service hat mir nicht verraten, wie alt ich mit diesen Werten insgesamt werden soll. Das interessiert mich auch nicht. Mir ist viel wichtiger, wie ich alt werde.
Ich möchte mit Anmut altern. Noch gelingt mir das nicht immer, ich weiß. Aber ich lerne.
Die
Literaturredakteurin der Zeit, Iris Radisch, beklagte vor einigen
Monaten die fehlenden Rollen-Vorbilder für alternde Frauen. Wo sind die
tollen Alten? rief sie aus. Ich dagegen sehe mich in den Medien
umzingelt von toll alternden, vor Tatkraft strotzenden, Motorrad
fahrenden, die Nächte durchtanzenden und todschick (oder, alternativ,
punkig) gestylten Frauen mit jungen Liebhabern, die mir zurufen: Du bist
so alt wie du dich fühlst! Geh raus, genieße dein Leben! Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mich machen diese Frauen traurig. Ich werde das
Gefühl nicht los, sie schreien mit knallengen Capri-Jeans und
dickem Make-up gegen ihre Angst vor dem Alter an. Also: vor dem Sterben. Den
Bestseller "Altern" von Elke Heidenreich habt ihr ja sicher alle
gelesen. Es stehen hübsche und kluge Sachen drin, aber auch
Frau Heidenreichs demonstrativ provokative Art zu altern ist nicht
meine.
Mein
Leben ist mit den Jahren immer stiller geworden, weil sich die Dramen
verabschiedet haben. Musikalisch gesprochen: Mein Leben ist keine Oper mehr,
sondern Kammermusik. Manchmal auch ein Solo-Gesang. Ich habe in meiner
Jugend viel Energie vergeudet mit Diskussionen, Aufregungen und
Verzweiflung über Belogenwerden, Betrogenwerden, verweigerte Chancen und
unerwiderte Lieben. So viel Schmerz säumt meinen Weg, und manchmal war
er durchaus berechtigt, hervorgerufen von familiären Umständen, die
zeitweise unerträglich waren. Aber jetzt bin ich alt und stelle beglückt
fest: Der Schmerz ist weg. Ich könnte ihn in mein Gefühl zurückrufen,
wenn ich wollte, aber ich werde mich hüten, das zu tun. Es lebt sich so
viel leichter ohne ihn.
Die
Tage haben irgendwie mehr Stunden, weil sie nicht mehr mit sinnlosen
Diskussionen über dies und das gefüllt werden. Weil ich gelernt habe,
den inneren Dialog abzustellen, ist Weite in meinen Geist eingekehrt.
Jetzt erst hat die Welt in ihm Platz, und sie kommt mit ihren
Pflanzen, Tieren und Menschen, mit den Jahreszeiten und dem Wetter. Ja,
auch mit dem Weltgeschehen. Ich war noch nie so informiert wie heute,
aber weil die Schmerzen der Welt nicht mehr auf innere Schmerzen treffen
und potenziert werden, kann ich mitfühlen, ohne den Boden unter den
Füßen zu verlieren. Übrigens vermeide ich diese unter Menschen
meines Alters leider so verbreiteten und oft in wohligem Ton geführten
Gespräche über Krankheiten und Gebrechen aller Art. Das wirklich Ernste
verschlägt mir ohnehin die Sprache, und über Kleinigkeiten rede ich
nicht.
Mit
Anmut zu altern heißt für mich: Alles Künstliche in mir und an mir
allmählich abzulegen. Mein Haar hat jetzt die Farbe, die mir von den
Genen zugeteilt wurde ("mäusefarben" nannte es meine Mutter und färbte
die Tochter wasserstoffblond), und nachdem mich meine Kontaktlinsen fast
mein linkes Auge gekostet haben, finde ich mein Leben mit Brille viel
unkomplizierter (einfach aufsetzen, nicht mühevoll einsetzen). Mit Anmut
zu altern heißt für mich, eigene Prioritäten auf stille Weise zu setzen, ohne
eine Demonstration daraus zu machen. Nein zu sagen, auch wenn andere ein
Ja erwarten; nicht mitzulachen, wenn alle lachen, zu widersprechen,
wenn Zustimmung erwartet wird, und immer öfter einfach den Mund zu
halten. Sich nicht zu entschuldigen, wenn man abends lieber ein Buch
liest, als mit anderen auszugehen, und es überhaupt fast schon als
Kompliment anzusehen, wenn man als ungesellig gilt. Geselligkeit, das
weiß man doch jenseits der Fünfundsiebzig, ist nicht Gemeinschaft und
nicht dasselbe wie Interesse, Zuhören, Mitfühlen und Mitdenken.
Aber natürlich ist es ganz in Ordnung, Motorrad zu fahren und einen zwanzig Jahre jüngeren Liebhaber zu haben. Das ist vielleicht die wichtigste Eigenschaft der Anmut im Alter: Sie lässt jede und jeden so sein, wie er oder sie glaubt, sein zu wollen. So bunt und verrückt oder so still und zurückgezogen, so albern oder so ernsthaft. Ich will niemanden mehr erziehen (jedenfalls meistens). Ich will mich einfach nur an ihm oder ihr erfreuen. Und wenn in einer Begegnung nun wirklich gar keine Freude aufkommen will, stehe ich still auf und verlasse den Raum (das kann ich gut). Die lauten Leute werden mich nicht vermissen, die haben meine Anwesenheit vorher ohnehin nicht wahrgenommen.
Ich bin auf dem Weg zu einer wunderbaren Unsichtbarkeit. Die Tarnkappe, die ich als Kind gern gehabt hätte, wurde mir geschenkt. Sie heißt Alter. Ah, nicht mehr gesehen zu werden! Und deshalb unbehelligt und ungestört alles und alle sehen zu können ...
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