Sonntag, 11. Mai 2025

Wann endet ein Krieg?

 


 
Am 8. Mai hat die Welt das Ende des Zweiten Weltkriegs gefeiert. Aber ein Krieg endet nicht, indem offizielle Dokumente unterzeichnet werden, keine Panzer mehr fahren und keine Bomben mehr fallen. 

Als Russland in die Ukraine einmarschierte, las ich zu meiner Verwunderung etliche Kommentare von Schriftstellern im Alter so um die Fünfzig, die ratlos vor der Tatsache standen, dass während ihrer Lebenszeit quasi vor ihrer Haustür ein Krieg stattfand. Der Autor Daniel Schreiber sprach für viele, als er sagte, mit so etwas hätte seine Generation doch nicht gerechnet. Sie seien im Frieden aufgewachsen und jetzt wüssten sie nicht, wie sie gefühlsmäßig mit diesem Krieg umgehen sollten. 

Wo ist diese Generation - um jetzt mal pauschal von einer ganzen Generation zu sprechen - denn aufgewachsen? Auf einer Südsee-Insel? Und was haben ihre Eltern - die in meinem Alter sein dürften - ihnen über den Zweiten Weltkrieg erzählt? Gar nichts? Alles totgeschwiegen? Weil sie bei Kriegsende oder kurz danach geboren wurden, meinten sie, der Krieg ginge sie nichts an? Da irren sich diese Eltern, falls sie so denken sollten, gewaltig. Denn meine Generation trägt den Krieg in sich.

In gewisser Weise bin ich privilegiert: Ich konnte mich nie der Illusion hingeben, mit diesem Krieg nichts zu tun zu haben. Ich bin mit den Erzählungen meiner Mutter aufgewachsen, die bis zu ihrem letzten Augenblick mit dem, was sie erlebt hatte, nicht umgehen konnte. Sie brauchte eine Adressatin für ihre Verzweiflung, die Adressatin war ihre Tochter. Durch meine Mutter weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn die liebevoll eingerichtete Eigentumswohnung in Flammen aufgeht, der Lieblingsbruder auf der Krim "fällt" und was es heißt, im Straßengraben zu kauern, während über einem die Tiefflieger jaulen. Jedes Gewitter löste bei meiner Mutter eine helle Panik aus. Wir durchlebten zu zweit erneut einen Kampf auf Leben und Tod, während vor den Fenstern die Blitze zuckten und der Donner krachte. 

Wir Nachkriegskinder sind eine besondere Generation. Stille und tapfere Überlebende eines Krieges, den wir selbst gar nicht erlebt haben und der uns doch bis heute prägt. Wir tragen ein schweres Erbe, das uns von unseren Vorfahren aufgebürdet wurde, und das wir, Schritt für Schritt, langsam in und durch uns selbst lösen müssen. 
 
Thich Nhat Hanh, von dem die obige Kalligrafie stammt und der selbst Freunde und Angehörige im Vietnam-Krieg verloren hat, sagte, jeder Krieg habe Auswirkungen auf sieben folgende Generationen. Das steht übrigens auch in der Bibel. Vielleicht gehörst du zur zweiten oder dritten Generation, vielleicht sogar zur vierten. Wie wäre es, wenn du dich dem Gedanken öffnen würdest, dass du nichts "falsch gemacht" oder gar im Leben versagt hast, wenn du manchmal von unerklärlichen Ängsten überfallen wirst, einen tiefen Kummer ohne Anlass spürst oder Aggressionen in dir entdeckst, deren Ursprung du dir nicht erklären kannst? Wir alle haben teil an dem dunklen Urgrund eines kollektiven Unbewussten, in dem so viel Schmerz und Gewalt brodeln, die nach dem Krieg hastig mit wilder und falscher Lebenslust zugedeckt wurden.
 
Es ist an uns, die Verantwortung zu übernehmen und all diese Dunkelheit in uns und durch uns stellvertretend für die Gesellschaft zu lösen. Thich Nhat Hanh sprach immer davon, wir sollten unsere Gefühle "umarmen". Das ist ein weiser und liebevoller Rat.
 
Wir umarmen unsere Gefühle, damit die Welt ein wenig heller wird. Das macht uns sanft gegenüber uns selbst und gibt uns Mitgefühl für all jene, die mit ihrem eigenen Erbe, aus ihrem eigenen Land des Krieges zu uns kommen. Aus den Straßengräben, den Flammen, mit den gefallenen Brüdern im Herzen.
 
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