Mittwoch, 30. Oktober 2024

Der Supermarktkassenstress


... und dann hatte ich auch noch die Eier vergessen.

Eigentlich bin ich eine Supermarktpackexpertin. (Ich schreibe hier die Worte im Supermarktkassentempo, nämlich ohne erholsame Bindestriche. Das müsst ihr jetzt aushalten, gute Literatur stellt ihr Thema nachvollziehbar dar.) Also ich, die Expertin, ging einkaufen.

Dienstag Nachmittag, 14 Uhr. Ich dachte mir das so: Die Mittagesser haben ihre Zutaten schon gekauft, die Abendesser sind noch im Büro. Zeitlich entspannt dazwischen: Ich mit meinem Reiserucksack (internationale Kabinengröße), denn einen Wochen-Einkauf vierzig Stufen hoch in die Wohnung zu tragen ist eine sportliche Leistung, die ich mit einem Korb am Arm nicht mehr so ohne Weiteres bringe. 

Das war der Plan. Der Supermarkt aber kannte den nicht. Sie hatten nur eine Kasse geöffnet. Die Kundin vor mir kannte ihn auch nicht. 

Sie versuchte, die auf der abschüssigen Alufläche auf sie zurasenden Waren in ihren Korb zu stapeln, aber vielleicht war sie beim Gang durch die Gänge Versuchungen erlegen oder sie war generell planlos unterwegs gewesen (größter Supermarktfehler!), jedenfalls war der Korb zu klein. Sie hatte unten den Frischfisch und den Käse und packte den Sack Kartoffeln darauf. Dann merkte sie, dass das vielleicht gewichtsmäßig etwas ungeschickt war und packte alles wieder aus. Vor ihr türmten sich Konservendosen, Waschpulver, Schokolade. Dreiundvierzig zweiundachtzig, sagte die Kassiererin. Die Kundin kramte im Geldbeutel und murmelte: Ich hab die zweiundachtzig, warten Sie mal. Dann wandte sie sich zu mir um mit einem herzzerreißenden Lächeln und sagte: Ich bin gleich weg.

Keinen Stress, sagte ich zu ihr und meinte das auch so. Vielleicht hatte sie denselben Gedanken an entspannte Supermarktleerheit gehabt wie ich und war ebenso reingefallen. Sie hatte gezahlt und packte neu ein, schob die Dosen hin und her, irgendwie passte das Ganze immer noch nicht. Hinter mir staute sich die Schlange. Ich stand im engen Gang zwischen den Kassen, vor mir versuchte die Kundin weiterhin, ihre Logistikprobleme zu lösen, und die Kassiererin begann, meine Waren zügig über den Scanner zu ziehen. Weil die Alufläche belegt war, stapelte sie alles neben sich hinter die Scheibe, dorthin, wo ihre Wasserflasche stand. Auf die Bananen und Champignons packte sie die Dose Kokosmilch, die Tomaten, die Milch, die Äpfel, den ganzen Kleinkram und obendrauf auf den Turm meinen Topf Petersilie. 

Hinter der Scheibe ist wirklich wenig Platz, das wurde mir erst jetzt bewusst. Nun begann mir auch die Kassiererin leid zu tun. Es war insgesamt ein emotional aufwühlender Einkauf, und dann sagte die Frau professionell kühl: zweiundzwanzig neunundvierzig. Sehnsüchtig betrachtete ich, was ich gekauft hatte, aber nicht an mich nehmen durfte. Es war eine Situation wie auf dem Flughafen, wenn man jemanden abholt und sich durch die Trennscheibe zwischen Halle und Baggage Claim hindurch zuwinkt: Ach, da ist er ja, so unerreichbar nah!

Ich zahlte mit der Karte, um wenigstens eine Kleinigkeit rasch und effektiv zu erledigen. Während die Kundin vor mir nach einer Möglichkeit suchte, ihr Toilettenpapier unter den Korbgriff zu klemmen, nahm die Kassiererin Anlauf, breitete ihre beiden Arme aus und schaufelte meinen Warenturm in einer einzigen Bewegung auf die Einpackfläche, wo die Sachen an den Einkaufskorb der Dame prallten, die mich jetzt flehend ansah und flüsterte: Ich bin wirklich gleich weg.

Ich raffte alles planlos in den Rucksack, während die Sachen des Kunden hinter mir auf mich zurasten, und verließ mit über meinem Kopf wippender Petersilie (wo war der Camembert? Der Sahnebecher? Hoffentlich lag da nichts Spitzes drauf!) den Laden. 
 
Zu Hause stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, Eier zu kaufen.

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Mittwoch, 23. Oktober 2024

Die besondere Gelegenheit

 

Das ist nur ein kleiner Teil meiner Hut-Kollektion ...


Als ich Mitte zwanzig war, kaufte ich mir das schönste Kleid, das ich je (bis heute) besessen habe. Ein Einzelstück einer Designerin, die in einer Seitenstraße in Würzburg ihr kleines Atelier betrieb. Es war aus dunkelrotem Samt mit einem weit schwingenden Glockenrock und einer Passe, die aus einem alten Gobelin gearbeitet worden war. Es war, für meine damaligen Verhältnisse, sündteuer.

Ich suchte nach Gelegenheiten, es anzuziehen. Die Gelegenheiten wollten sich nicht so recht ergeben. Obwohl es kein Abendkleid war, sondern ein edel zurückhaltendes Design hatte, fiel ich auf, als ich es einmal auf der Straße trug. Auf Parties ging ich nicht, und als ich es beim alljährlichen Würzburger Mozartfest im Residenzgarten tragen wollte, goss es in Strömen und ich zog eine Hose an.

Jahre später ergab sich die ultimative Gelegenheit, als ich in München zum Empfang des Ministerpräsidenten in die Staatskanzlei eingeladen wurde, da ich gerade den Münchner Literaturpreis gewonnen hatte. Nun war dieser Ministerpräsident damals Franz-Josef Strauß, und ich merkte, dass ich keine Lust hatte, dem Mann die Hand zu schütteln. Aber das Kleid! Endlich konnte ich das Kleid zu einem angemessenen Anlass ausführen. Ich schälte es aus seiner Plastikhülle, und dunkelrote Samtbrösel fielen zu Boden. Die Motten hatten gründliche Arbeit geleistet.

Damit war die Entscheidung gefallen: Ich würde Herrn Strauß nicht die Hand schütteln.

Mein wunderschönes Kleid habe ich insgesamt vielleicht fünf Mal getragen. Der Abschied von ihm war schmerzhaft und hat mich etwas gelehrt: Schone deine schönen Dinge nicht für die eine besondere Gelegenheit. Die besondere Gelegenheit für das schicke Kleid, die tollen Schuhe, die irren Hüte, den Wahnsinns-Mantel ist schon da!

Du bist auch heute Morgen wieder erwacht, in einen ganz neuen, nie dagewesenen Tag hinein. Du hast ein Dach über dem Kopf und feine Sachen im Kühlschrank. Dir fallen keine Bomben auf den Kopf, du hast die Freiheit, dich überall hin zu bewegen, du darfst sagen, was du sagen willst. Du bist lebendig, du bist frei, und das feierst du jetzt, indem du dein ganz besonderes Stück anziehst und es endlich ausführst: zum Einkauf im Supermarkt, zur Zahnärztin, zum Geldabheben in der Bankfiliale. 

Die besondere Gelegenheit ist jetzt. Es ist dieser Moment. Wenn du ihn feierst, ist er immer besonders. Probiere es einfach mal aus.

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Mittwoch, 9. Oktober 2024

Frei sein!

 

 

"In Hagerstown in den USA liegt die Strafanstalt Maryland. Anfang dieses Jahrhunderts gab der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh dort mit einigen Nonnen, Mönchen und Freunden für die Gefangenen einen Tag der Achtsamkeit zum Thema Freiheit. Das war ganz schön mutig: Einhundert Männern, die zum Teil seit Jahrzehnten hinter Gittern saßen, zu erzählen, dass Freiheit eine geistige Haltung sei, die jeder Mensch einnehmen könne, egal, wo er sich gerade befinde. Sie aßen miteinander zu Mittag, übten Gehmeditation im Hof, und die Insassen bemühten sich zu begreifen, was das bedeutet: 'Wenn ihr geht, geht als freie Menschen. Wenn ihr atmet, atmet als freie Menschen.'

Ich habe mein Herkunftswörterbuch nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes 'frei' befragt. Erstaunlicherweise hat es dieselbe indogermanische Wurzel wie das Wort 'Friede' und der 'Freund'. Diese drei Worte hatten ursprünglich die Bedeutung 'schützen, schonen, gernhaben, lieben'. Die Germanen errichteten auf dem Begriff eine Rechtsordnung und im historischen Ablauf wandelte sich der Begriff zu der heute allgemeinen Anwendung des Adjektivs im Sinne von 'ungebunden, unbelastet'.

Wir benutzen das Wort also heute ausschließlich als ein Freisein von etwas: Wir sind endlich losgeworden, was uns so unfrei gemacht hat – den Job, den wir nicht mochten, die toxische Beziehung, die uns geschadet hat. Sich von Fesseln zu befreien, die unsere Entwicklung behindern, ist tatsächlich ein wichtiger Schritt auf dem Lebensweg. 

Aber frei zu sein von etwas, ist nur der erste Schritt. Die Frage ist: Wozu nutze ich meine Freiheit?"

Dies ist ein Auszug aus meinem Beitrag für die Ursache\Wirkung Nr. 124. Weiterlesen? Gerne hier (klick).

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