Freitag, 27. September 2024

Eine heilsame Zukunft erschaffen

 

"Wir sind oft so fokussiert auf einen Plan oder ein Ziel, dass wir unser Eingebundensein in den großen Weltzusammenhang vergessen. Alles Seiende verändert sich unablässig aufgrund von zahllosen miteinander vernetzten Bedingungen, und die Veränderungen geschehen nicht schön geordnet nacheinander, sodass wir in Ruhe darüber nachdenken können, sondern gleichzeitig. Unser lineares Denken aber kann diese Gleichzeitigkeit nicht erfassen. Der buddhistische Mönch Matthieu Ricard sagt: „Da wir intuitiv von Linearität ausgehen, missverstehen wir die komplexen Dynamiken ökonomischer und ökologischer Systeme und halten an der Illusion fest, wir könnten deren Zukunft vorhersagen und damit kontrollieren.“ 

Geht es nicht bei all unseren Bemühungen, die Zukunft zu unseren Gunsten zu manipulieren, um Kontrolle? Das Bedürfnis nach Kontrolle entsteht aus dem Wunsch nach Sicherheit, und die Tatsache der unablässigen Veränderung verunsichert uns verständlicherweise sehr. Wie viele teure und überflüssige Versicherungen werden deshalb abgeschlossen, Eheverträge werden juristisch wasserdicht ausgeklügelt. Aber weil das alles ja nicht hilft gegen die Angst vor der Unsicherheit, verschließen wir unsere Herzen und lassen andere Menschen und neue Erfahrungen nur nach genauester Prüfung hinein. Wir vergessen so leicht, dass auch wir eingebunden sind in das Ganze, wie scheinbar klein auch unser Spielraum sein mag. Wir nutzen das Kostbarste nicht, das wir haben: unsere Fähigkeit, Mitschöpfer einer heilsamen Zukunft zu sein. "

Wie wir eine heilsame Zukunft erschaffen können, lest ihr in meinem Beitrag für die Ursache\Wirkung "Die Zukunft ist bereits da" hier (klick).

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Sonntag, 22. September 2024

Das Leben einer Schriftstellerin

 

Hin und wieder wird mir eine Art ehrenamtlicher Tätigkeit angeboten (übrigens habe ich bereits eine) mit den Worten: "Du hast doch Zeit, du kannst das machen." Im Erdgeschoss meines Hauses wohnte vor Jahren eine Frau (hauptberufliche Hausfrau), die verlangte, ich solle den gesamten Hausputz, der von den Mietern abwechselnd geleistet wird, übernehmen: "Ich habe keine Zeit dafür, aber Sie haben ja nichts zu tun." Nachdem ihr Mann, mein Stiefvater, gestorben war, verlangte meine Mutter von mir, zurückzukehren in meinen Heimatort (13.000 Einwohner), um mit ihr zu leben. Ich wohnte seit Jahren in München, hatte bereits ein paar Bücher veröffentlicht und meinen ersten Literaturpreis erhalten und bekam von ihr wöchentlich Ausschnitte aus der örtlichen Zeitung, in denen Autowerkstätten und kleine Handwerksbetriebe eine "Stenotypistin" suchten: "Hier findest du Arbeit. In München hast du ja keine und gehst vor die Hunde."
 
Ich kenne Schriftsteller-Kollegen und -Kolleginnen, die sich einen Büroraum gemietet haben, weil sie mit einem Büro endlich ernst genommen werden: Sie haben für alle sichtbar "Arbeit".
 
Ja, was tut eine Schriftstellerin bloß den ganzen Tag. Guckt aus dem Fenster, kaut am Bleistift? Macht sich einen Kaffee, surft im Internet? Manchmal sieht man sie - um zwei Uhr nachmittags! - über die Felder gehen. Mit der Kamera. Was hat Fotografieren mit Schreiben zu tun? (Sehr viel. Inzwischen gibt es sogar zwei Foto-Text-Bücher.) 
 
Also bitte: Wann arbeitet die denn!
 
Wäre ich Musikerin, würde man wenigstens was hören von mir. Wäre ich Malerin, würde ich vielleicht in farbbeklecksten Hosen herumlaufen. Aber die Stille, in der eine Autorin lebt, weckt Misstrauen. Wir sind wie die Katzen, die sich lautlos durch die Welt bewegen und in ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit alles bemerken, was um sie herum geschieht. Denen traut man auch nicht über den Weg.
 
Ich habe mal meine vierzehn Bücher samt Übersetzungen aufgebaut, aber in jeweils nur der ersten Auflage. Nicht fotografierbar: Dutzende Künstlerische Features aus dreißig Jahren, zwischen dreißig und neunzig Minuten lang. Essays, Artikel, Rezensionen, Kolumnen, Übersetzungen. 
 
Das Leben einer Schriftstellerin: Jeden Tag am Schreibtisch sitzen, ab sieben, spätestens acht Uhr. Und ich meine: JEDEN Tag. Der Sonntag ist der beste Arbeitstag. Schön ruhig und niemand klingelt, um mir einen Sack Kartoffeln oder eine Mitgliedschaft bei Wem-auch-immer zu verkaufen.
 
Würde ich den Beruf noch einmal wählen? Ja, das würde ich. Für eine Person, die Stille, das Alleinsein und die Feinheiten der Sprache über alles liebt, ist es der ideale Beruf. 

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Sonntag, 15. September 2024

Danish String Quartet

 


Der Herbst ist da, es regnet, es stürmt. Da brauchen wir dringend Energie. Ich habe vier fabelhafte Wikinger gefunden, mit denen könnten wir uns ums Feuer setzen. Na gut, es ist nur eine Lampe im Studio, aber was die vier Jungs auf ihren Saiten entfesseln! Die sitzen da so lässig herum in ihren Hemden, aber das täuscht: Zusammen sind sie weltberühmt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Rune Tonsgaard Sørensen: violin, harmonium. Frederik Øland: violin. Asbjørn Nørgaard: viola. Fredrik Schøyen Sjölin: violoncello. Zusammen: The Danish String Quartet.

Hier mit einem Traditional: Shine You no More.

Habt noch einen schönen Sonntag.

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Dienstag, 10. September 2024

Gedichte lehren zu leben


Gedichte raus, weg mit ihnen, überflüssiges Zeug ...?


Eine entfernte Bekannte fragte mich einmal, ob ich ihr ein paar gute Bücher empfehlen könne, sie läse gern. Ich fragte, welches Genre sie bevorzuge: Romane, Erzählungen, Gedichte ... Sie unterbrach mich und sagte geradezu mit Verachtung in der Stimme: "Um Himmels willen, bloß keine Gedichte! Das Zeug kann ich nicht lesen."

Der baden-württembergische Schüler-Beirat hat vor ein paar Tagen einen Brief u. a. an Landeskultusministerin Schopper geschrieben. Die jungen Leute kritisieren die schlechte Unterrichtsausstattung und die steigenden Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer außerhalb der Schulstunden. Aber vor allem der Lehrplan stört: "In der Schule erhalten wir veralteten Unterricht, mit überholten Unterrichtskonzepten und aus der Zeit gefallenen Inhalten."

Das klingt erst einmal vernünftig. Schule muss mit der Zeit gehen und auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen eingehen. Aber was meinen die Schülerinnen und Schüler nun konkret? Ich zitiere hier Tagesschau online, weil man das im Original lesen muss:

"Als Beispiel für veralteten Unterricht nannte der Vorsitzende des Landesschülerbeirats, Joshua Meisel, den Deutschunterricht. 'Die Analyse von Gedichten ist etwas, das vielen Schülerinnen und Schülern aufstößt', sagte er. Diese sei für den Alltag der Schüler nicht relevant und sollte weniger intensiv behandelt werden. 'Stattdessen sollte man Inhalte integrieren, die man dringender braucht', sagte Meisel. So wäre aus Sicht des Schülervertreters ein stärkerer Fokus auf argumentatives Schreiben sinnvoll - auch um Fake News und Populismus besser erkennen zu können."

Es geht hier also um die Analyse von Gedichten, aber da ein Gedicht eben keine Argumente bietet, sondern ein künstlerischer Ausdruck von Wahrnehmungen, Gedanken und Erfahrungen ist, muss man diese besondere künstlerische Form erst mal lesen lernen. Da findet das Wesentliche nämlich nicht im Wort statt, sondern zwischen den Worten: In dem scheinbaren Leerraum, in dem Satz-Melodien vibrieren und ein Rhythmus weiterschwingt, sodass sich das Gebilde namens Gedicht in den Geist der Leserin einnistet und sich erst in ihm wahrhaft entfaltet.

Wird das im Deutsch-Unterricht nicht gelehrt? Dann ist der Unterricht wirklich für die Tonne. Aber ich kenne etliche engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die sich ganz bestimmt darum bemühen, Verständnis für Gedichte zu wecken. Ihr Schülerinnen und Schüler findet, dass das subtile Drehen und Wenden der sparsamen Worte in einem Gedicht für euer Leben nicht relevant ist? Das sehe ich aber ganz anders.

Wenn ihr glaubt, die Wahrheit über eine Behauptung zu kennen, weil ihr "argumentatives Schreiben" studiert habt, irrt ihr euch. Ihr werdet keinen Populisten und keine Fake News damit entlarven. Ein kluger Kopf reicht da nicht aus; er muss ausbalanciert werden durch einen klaren Blick, der Lügen durchschaut, und ein Herz, das fähig ist zur Empathie, und dieses wiederum wird geschult durch die zahllosen Schwierigkeiten und Schmerzen, die das Leben euch zufügt. 

Jene entfernte Bekannte war eine Frau, die, sagen wir mal, nicht durch besondere Feinfühligkeit auffiel. Sie verkündete gern Urteile, die sie für die Wahrheit hielt. Ich wunderte mich also nicht, dass sie mit Gedichten nichts anfangen konnte. Andererseits: Hätte man ihr rechtzeitig auf inspirierende Weise den Umgang mit Gedichten beigebracht, hätte sie das vielleicht anders geprägt.

Gedichte zu lesen heißt, leben zu lernen. Denn, noch einmal: das Wesentliche in einem Gedicht findet zwischen den Zeilen statt, wo das Wesentliche, also die Wahrheit, immer zu finden ist. In der Begegnung zwischen zwei Menschen, in der Pause zwischen zwei Sätzen, im Blick, in der wortlosen Geste. Wenn ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, die Menschen, mit denen ihr zu tun habt, nur nach ihren Worten einschätzt, werdet ihr - und damit die ganze Gesellschaft - sehr bald ein Problem haben. 

Und vor allem hättet ihr ein Problem mit eurem Liebesleben. Vorsicht, hier kommt ein Gedicht. Von Kurt Tucholsky - und den braucht man nicht einmal zu analysieren, um ihn zu verstehen:

Er war nicht der Mann für dieses Wesen.
Sie war ein Buch. Er könnt es nicht lesen.
Was dann zwischen Liebenden vor sich geht,
ist eine leere Formalität.

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Sonntag, 1. September 2024

Das Leben ist ein vorübergehender Zustand


Obwohl ich die Sendung "Sternstunde Philosophie" eigentlich regelmäßig anschaue, ist mir dieses Gespräch mit der Schriftstellerin Gabriele von Arnim entgangen. Am Freitag Abend entdeckte ich es, und am Samstag Mittag schrieb mir ein Freund eine Mail mit der dringenden Empfehlung, es anzuschauen. (Ich liebe Synchronizitäten!) Es ist ein Gespräch über Schmerz, Verlust, Überforderung und Liebe. Sehr aufrichtig, sehr tiefgehend. Schaut euch das Gespräch an, es lohnt sich.



Nachdem ich den Film gesehen hatte, fiel mir auf, dass ich euch das Buch, von dem im Gespräch die Rede ist, nie vorgestellt habe. Meine Besprechung ihres darauf folgenden Buches "Der Trost der Schönheit" findet ihr hier (klick).

"Das Leben ist ein vorübergehender Zustand". Zu einer solchen Erkenntnis kommt man vielleicht erst, wenn das, was man immer für selbstverständlich gehalten hatte, nicht mehr möglich ist. Der Mann von Gabriele von Arnim hat einen Schlaganfall am Abend des Tages, an dem sie ihm gesagt hat, dass sie mit ihm nicht mehr leben kann. Einen Mann in hilfloser Lage kann sie nicht mehr verlassen. Was sie da noch nicht weiß: Er wird zehn Jahre lang ein Pflegefall sein, ein Mann, der weder gehen noch sprechen kann. 

Sie brauchte Jahre, um nach seinem Tod über diese Zeit zu schreiben, und sie tut es mit einer manchmal erschreckenden, aber faszinierenden und berührenden Aufrichtigkeit. Berichtet von Schuldgefühlen, Verzweiflung und Überforderung und sagt: "Ich war wie zerfleddert". Und doch ist dies ein Buch der Liebe, Fürsorglichkeit und des Trostes. Wir alle erleben ja immer wieder kleine und große Verluste, und ich meine, dieses Buch ist ein guter Begleiter durch eine solche Zeit, eben weil es keine Ratschläge erteilt und keine Lehren anzubieten hat.

"Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" gibt es jetzt als Taschenbuch bei Rowohlt. Eine Lese-Empfehlung von mir.

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