Samstag, 24. August 2024

I Feel the Earth Whisper


"Black Forest", aus "Waldeinsamkeit"


Die Natur ist bedroht, ihr Feind ist der Mensch. Wir wissen das, wir hören und lesen es jeden Tag in den Medien. Warum haben all diese Statistiken, Mahnungen und Aufrufe so wenig Erfolg? Weil sie abstrakt bleiben; Zahlen und Drohungen erreichen unser Gefühl nicht. Wir brauchen Appelle, die unmittelbar unsere Sinne ansprechen. Mit anderen Worten: Wir brauchen die Künstler.

Im Frieder Burda Museum in Baden-Baden habe ich die schöne Ausstellung "I Feel the Earth Whisper" gesehen. Die beiden Künstler, die mir am besten gefallen haben, stelle ich euch hier vor.

Der Amerikaner Sam Falls hat seinen Raum "Waldeinsamkeit" genannt. Was geschieht im Wald, wenn wir ihn in Ruhe lassen? Er hat im Schwarzwald eine riesige Leinwand ausgelegt, sie mit Blumen, Gräsern und Zweigen bestückt und mit natürlichen Pigmenten bestreut. Licht, Sonne und Regen arbeiteten an der Leinwand, "fotografierten" die Objekte und schufen das Bild, das ihr oben seht. Es ist nicht nur atemberaubend schön, es macht auch nachdenklich, denn es erzählt von der Vergänglichkeit. Wir sehen nicht die Objekte selbst, wir sehen das, was sie beim Sterben hinterlassen haben. Es gibt sie nicht mehr, und doch haben sie einen "bleibenden Eindruck" hinterlassen. Und so ist die Arbeit von Sam Falls (es gibt noch mehr Bilder und Skulpturen von ihm zu sehen) ganz nebenbei und ohne dies zu thematisieren spirituell. 




Der zweite Künstler der ausgestellten vier, der mir Freude gemacht hat, ist der Brasilianer Ernesto Neto. Sein Beitrag für die Ausstellung "The Birth of Contemporous Blue Tree" in der dreizehn Meter hohen Eingangshalle war in ihrer schieren Größe, der Lebendigkeit und Farbenfreude für mich unmöglich zu fotografieren. Neto hat ein Zelt erschaffen, einen "Raum der Harmonie und Heilung", dessen Mittelpunkt eine monumentale Baum-Skulptur aus handgehäkelten brasilianischen Baumwollstoffen ist. An ihr und um sie herum hängen ebenfalls gehäkelte Körbe, die mit duftenden Kräutern und Gewürzen gefüllt sind.



"Zeitgenössische Kunst will über die Oberfläche hinausgehen", schreibt Neto. "Sie strebt nach Transparenz, Einheit in der Vielfalt, sie ist naturgemäß symbiotisch. Sie achtet Zerbrechlichkeit, sie will die Welt mit sorgsamer Aufmerksamkeit und Liebe berühren. Sie weiß, dass Poesie hier ist, jetzt, im stillen Gesang unseres Atmens."



Der Raum hat eine unglaublich warme, bergende Qualität. Umhäkelte Meditationskissen laden dazu ein, sich niederzulassen. Trommeln, Flöten und Klangschalen liegen herum, auch mein Lieblings-Instrument, die Handpan, die hier zu spielen ich euch aber nicht empfehle. Es ist so eine billige Pfanne aus dem Online-Versand, und die Umhäkelung tut ein Übriges dazu, den Sound zu ersticken.

Aber wie schön zu sehen, dass die Menschen die Einladung zum Mitmachen annehmen. Sie probieren die Instrumente aus, riechen an den Kräuterkörben und sind glücklich, dass man endlich in einer Ausstellung mal was anfassen darf. Als ich ging, fiel eine Kindergruppe ein, im wahrsten Sinne des Wortes, und verwandelte das Zelt mit Trommeln, Flöten und Klangschalen in eine schamanistische Zeremonien-Hütte. Und ich sah: Genau so ist dieses Kunstwerk gedacht, so hat Neto es sich vorgestellt. Als einen Raum der Begegnung, der Freude, des Spiels.

Der Vollständigkeit halber seien die beiden von mir nicht vorgestellten Künstler/innen erwähnt: Bianca Bondi und Julian Charrière. Die Ausstellung ist noch bis 3. November zu sehen. Alle Informationen hier (klick)  Ein Audio im SWR über die Vorbereitungen hier (klick) 

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Sonntag, 18. August 2024

Das Ende des Wartens


An einer Haltestelle hat was zu halten. Ein Bus, ein Taxi, ein Freund, den wir gerufen haben, weil der Bus voll besetzt vorbeigefahren ist. Auf das, was da halten wird, warten wir. Ungeduldig. Wann kommt er denn? Wann denn endlich? (Schon zwei Minuten überfällig!)

Weg, bloß weg. Das ist ja der Charakter des Wartens: Wir sind an einem Ort, an dem wir eigentlich nicht sein wollen. Wir haben hier nichts verloren und suchen auch nichts. Dieser Ort ist eine unangenehme Zwischenstation zu unserem Ziel, das irgendwo dort hinten, dort drüben, dort oben liegt: im Später, im Anderswo. 

Der Nahverkehr ist auch nicht mehr das, was er mal war. Die sollen endlich wieder fähige Logistiker einstellen, die für durchgehende Verbindungen sorgen. Wo sind diese Leute abgeblieben? Nach Corona ins Home Office verschwunden, wie das Gastro-Personal? Wahrscheinlich ist der Busfahrer schuld. Plaudert mit allen, die bar ihr Ticket bezahlen, und überhaupt, diese Barzahler! Senioren natürlich. Die sollen zu Hause bleiben, wenn sie mit der Fairtiq App nicht klarkommen. 

Was ist das für ein Ort, an dem unsere Erwartungen an den örtlichen Nahverkehr wieder einmal und erwartungsgemäß enttäuscht werden? Wir haben keine Ahnung. Er interessiert uns nicht, wir haben ihn uns nicht ausgesucht. Ist er hübsch, hässlich, bunt, fröhlich, langweilig? Wir schauen auf die Uhr. (Schon drei Minuten überfällig!)

Man kann sich auf allerlei sinnbefreite Art die Zeit an einem Wartehäuschen vertreiben.

Meine Lieblings-Haltestelle liegt auf 900 m in der Bergwiese. Ich war ziemlich außer Atem, als ich sie erreichte. Im weiteren Verlauf verengt sich der Höhenweg zu einem steinigen Pfad, den Wanderer nur hintereinander erklimmen können. An dieser Haltestelle hält kein Bus mehr, aber die Wanderin hält an, um innezuhalten. Hier zeigt das Thema Warten eine neue Facette. Es erweist sich als das, was es auch im Tal ist: eine im Grunde überflüssige und kraftzehrende Haltung.

Ich setze mich ins Gras. Da sind Bienen, Käfer, der Klang der Mittagsglocken aus dem Unterdorf. Sogar der Sommer ist da, obwohl er in diesem Jahr so lange auf sich warten ließ. (Zwei Monate überfällig!) Ich packe mein Picknick aus. Ein kleiner Wind fingert am Butterbrotpapier herum. Aah, Kuhglocken! Und irgendwo muss ein Esel sein, oder ist das doch eine Tür, die in rostigen Angeln schwingt?

Während wir warten, verpassen wir die einzige Zeit, die es gibt: diesen Augenblick mit allem, was er um uns herum bereithält. Wir sehen, hören, riechen ihn nicht, uns entgehen seine Farben, seine Formen. Und was uns vor allem entgeht, ist die heitere Leichtigkeit, die uns der Augenblick schenkt, wenn wir ihn nicht mit Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen ausblenden. 

Bienen also, Käfer, Glocken aller Art. Mir fällt wirklich nichts ein, auf das ich hier warten könnte. 

Es ist einfach schon alles da.

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Samstag, 10. August 2024

Staunen & wertschätzen

 

Ich habe kürzlich einen Post darüber geschrieben, dass ich immer häufiger sage "Ich weiß es nicht". Leider ist dies keine gute Zeit für das Nicht-Wissen (schrieb ich), denn die Menschen sehnen sich nach Gewissheiten, und die werden auch zuverlässig vom rechten politischen Rand bedient. Wer es nachlesen möchte: hier (klick).

Heute aber preise ich das Nicht-Wissen, diesen wunderbaren Zustand, in dem unser Geist leer ist von allem, was wir gelernt haben, was man uns eingetrichtert hat, was wir auf keinen Fall vergessen wollen, weil man uns gesagt hat, dass wir es nicht vergessen dürfen. Im Zustand des Nicht-Wissens haben wir sogar uns selbst vergessen, unsere Sorgen, unsere Pläne, unsere Grübeleien über die Zukunft (unsere Sehnsucht nach Gewissheiten ...). Fangen wir bescheiden an, üben wir das Nicht-Wissen erst einmal für zehn Minuten. (Zehn Minuten können sehr lang sein. 😉) 

Im japanischen Zen gibt es den Ausdruck shoshin. Er bezeichnet den "Geist des Anfängers", der jeden Moment wie zum ersten Mal wahrnimmt, auch wenn der Moment ihm etwas präsentiert, was er scheinbar schon hundert Mal gesehen hat. Das aber ist ein Irrtum. Da alles mit allem verbunden ist und jede Veränderung im Ganzen Veränderungen in jeder Einzelheit verursacht, ist jeder Moment neu, anders, und nur der Geist, der im Nicht-Wissen verweilt, nimmt die feinen Nuancen der Veränderung wahr. 

Henry David Thoreau versuchte sich in allerlei Berufen. Er war Lehrer, Landvermesser und kurzzeitig sogar Fabrikant. Nach diesen kurzen Ausflügen in die Welt der Erwerbstätigen zog er sich 1845 in eine selbst gezimmerte Hütte an den Walden Pond in den Wäldern Massachusetts zurück: "Ich zog in die Wälder, weil ich bewusst leben, mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens auseinandersetzen und zusehen wollte, ob ich das lernen konnte, was es mich zu lehren hatte. Ich wollte nicht auf dem Sterbebett einsehen müssen, dass ich nicht wirklich gelebt hatte." In den folgenden zwei Jahren wanderte er durch die Wälder, lauschte dem Sturm und dem Regen auf dem Dach und schrieb seine Tagebücher, die zu Lebzeiten kein Mensch kaufen wollte und die heute zur Weltliteratur gehören.

Thoreau war ein Meister des Nicht-Wissens: "Erst wenn wir all unser Wissen vergessen, beginnen wir, etwas zu wissen. Wenn du die Farne kennenlernen willst, musst du deine Botanik vergessen. Du musst deine sogenannten Kenntnisse über sie loswerden. Du musst dir bewusst sein, dass kein Ding deiner Vorstellung von ihm entspricht. Dein Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich."

Müssen wir also jahrelang meditieren oder Achtsamkeit praktizieren, um in den seligen Zustand des Nicht-Wissens zu kommen? Nein: Unser Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich. Dieser Zustand ist das Staunen.

Staunen über das, was ich sehe, höre, rieche, schmecke. Ich habe mein Wissen darüber vergessen. Es ist ohnehin ganz neu, denn so hat es noch nie ausgesehen, geklungen, gerochen, geschmeckt. Wenn ich staune, verweile ich im Nicht-Wissen. Ich gebe kein Urteil ab, ich vergleiche nicht, ich belege meine Wahrnehmung nicht einmal mit einem Namen, also einem Etikett. Der Name bezeichnet das, was ich schon kenne. Das hier aber kenne ich nicht.

Staunen ist untrennbar verbunden mit Wertschätzung. Vielleicht stelle ich nach ein paar Sekunden oder Minuten fest, dass mir das, was ich wahrnehme, nicht recht gefällt. Kein Problem, dann gefällt es mir eben nicht. Wertschätzung bezieht sich nicht auf den Wert, den der Moment für mich hat. Sie feiert vielmehr den Moment selbst in seinen zahlreichen Facetten, sie feiert seine Lebendigkeit, die überraschende, erstaunliche Vielfalt des Lebens. 

Als ich meinen Salatkopf aus dem Hofladen entblätterte, staunte ich nicht schlecht. Er war bewohnt. Na sowas. Das Leben ist voller Überraschungen.

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Samstag, 3. August 2024

Eine Bahn-Geschichte


... und draußen fliegt die Landschaft vorbei


Nein, nicht die übliche Geschichte über blockierte Türen, Böschenbrand, in der Hitze verbogene Weichen und zwei Stunden Verspätung. Sondern eine darüber, wie man innerhalb von zehn Minuten Freude und Schmerz bereiten kann.

Fahrt nach Hohenau zu meinem Retreat im Intersein Zentrum. In Bayern und Baden-Württemberg beginnen die Ferien, halb Deutschland reist mit großen Koffern. Ich musste kurzfristig buchen und konnte einen der letzten Sitzplätze reservieren. Neben mir sitzt ein junger Business Man. Anzug, Apple Notebook, Smartphone, viel Papier. Zu viel Papier für einen Fensterplatz im ICE, also klemmt er einen Teil davon zwischen das hochgeklappte Tablett und den Vordersitz. Tippen, aufgeregtes Telefonieren, Tabellen ausfüllen, erneut tippen. Der arme Kerl, denke ich. So jung und schon ein Kandidat für späteren Herzinfarkt. Der Zug rollt in einen Bahnhof ein, und ihm fällt in letzter Sekunde ein, dass er aussteigen will. Er rafft sein Zeug zusammen und stürzt hinaus. Zwischen Tablett und Vordersitz klemmen die Tabellen. Ich stürze ihm hinterher und wedele mit den Papieren aus der Zugtür. Er ruft: "Oh nein, danke, danke, die sind wichtig!"

Ich sinke zurück in meinen Sitz und fühle mich ausgesprochen gut. Eine aufmerksame, hilfsbereite Frau bin ich, die für andere mitdenkt und sie nicht im Stich lässt. Ja, so sehe ich mich gern. Und dann, obwohl es da keinerlei Zusammenhang gibt, habe ich den Wunsch, die Toilette aufzusuchen.

Der Schalter steht auf Grün, aber die Tür geht nur einen Spaltbreit auf und wird sofort wieder zugeworfen. Allerdings nicht abgeschlossen. Ich probiere es noch einmal. Tür auf, zugeworfen. Zufällig - ich möchte hier ausdrücklich an Zufall glauben, obwohl ich sonst gerne erkläre, dass alles mit allem zusammenhängt und man deshalb von Zufall nicht sprechen kann -, also zufällig steht die junge Zugbegleiterin neben mir im Gang und telefoniert. Meine Ratlosigkeit angesichts der offenen und dennoch besetzten Toilette erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie beendet ihr Telefonat und drückt die Klinke. Die Tür geht kurz auf und wird sofort wieder zugeworfen. Aber jetzt haben wir beide einen Blick erhascht auf einen jungen schwarzen Mann, und die Zugbegleiterin wird auf der Stelle von einer Energie erfasst, die mir zeigt: Diese Situation kennt sie, die hat sie schon Dutzende Male erlebt. Sie klopft mit ihrem Handy an die Tür und ruft: "Kollege, sofort rauskommen, rauskommen habe ich gesagt!"

Er schleicht in den Gang. Siebzehn, achtzehn Jahre alt. In der Hand ein Stoffbündel. Abgerissene Hosen, schmutziges T-Shirt. "Ticket, Kollege!" ruft die Zugbegleiterin und hält ihn am Shirt fest. Langsam dreht er sich um und schaut mich an. Nicht sie. Mich. Ich habe einmal in einem Zoo eine Antilope gesehen, der die Trauer über die verlorene Savanne in den Augen stand. Sie schaute mit der Sanftheit, die man, denke ich, ganz am Ende hat, wenn man weiß, dass es nicht mehr gut werden wird und dass die Träume ausgeträumt sind. 

So schaut er mich an, der junge Schwarze.

Er sagt kein Wort. Kein einziges, die ganze Zeit über. Von meinem Sitz aus sehe ich die Zugbegleiterin erneut telefonieren. Der Zug läuft im Hauptbahnhof Darmstadt ein, sie weist auf die offene Tür, und er steigt aus. Steht mit seinem Bündel auf Gleis 2 in einer Stadt, die er noch nie betreten hat und in die er mit Sicherheit nicht wollte. Steht dort unbeweglich immer noch, als der Zug an ihm vorbei den Bahnhof verlässt. 

Sicher wäre doch irgendwann jemand anderes auf die Toilette gegangen, sage ich mir. Reiner Zufall, dass ich es war. Nur wäre dann vielleicht die Zugbegleiterin nicht in der Nähe gewesen. Und er hätte es geschafft. Unentdeckt dort hinzukommen, wo er hinwollte. Aber wollte er überhaupt irgendwo hin, außer in eine Art Sicherheit, die er in einem bürokratisch organisierten Land nicht finden wird?

Ich kann den Blick nicht vergessen. 

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