Sonntag, 7. April 2024

Mitgefühl - oder Mitleid?

 Steht uns bald das Wasser bis zum Hals? Das muss nicht sein ...

 

Zerbombte Häuser in der Ukraine, Massengräber, Leichenfunde, durch eine Drohne "versehentlich" getötete Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, amoklaufende Schüler, in meiner unmittelbaren Nähe eine Familientragödie mit drei Toten und einer Schwerverletzten, dazu das Erdbeben in Taiwan, die schmelzenden Gletscher. Ich überfliege die Schlagzeilen und fühle mich überfordert. Es ist zu viel. Müssen wir eigentlich immer "auf dem Laufenden" bleiben, müssen wir uns wirklich jedes Detail einer jeden neuen Katastrophe zumuten?

In diesen Tagen muss ich manchmal an jenen tibetischen Abt denken, der lange in chinesischer Gefangenschaft war. Nach seiner Befreiung erzählte er, er sei einige Male in großer Gefahr gewesen. Seine Zuhörer nickten verständnisvoll: Natürlich hätte er jederzeit ermordet werden können. Nein, sagte der Abt, seine Gefahr sei eine andere gewesen: Er sei in Gefahr gewesen, das Mitgefühl mit seinen Wärtern zu verlieren.

Vor einiger Zeit habe ich eine kleine Serie begonnen über das buddhistische Konzept der "Nahen Feinde". Wir haben uns bereits "Gleichmut oder Gleichgültigkeit" angeschaut hier (klick). Genauso wichtig finde ich gerade jetzt die Unterscheidung zwischen Mitgefühl und Mitleid.

Was empfinden wir, wenn wir sagen "Ich habe Mitleid mit dir"? Wir denken: Der Arme, es geht ihm ja so schlecht, da will ich mal großmütig helfen (oder auch nicht). Mitleid fühlt nicht mit dem Schmerz des anderen, es bleibt von ihm getrennt und denkt, urteilt oder handelt aus dem Getrenntsein heraus. Der andere ist dort, ich bin hier, und weil es ihm schlechter geht als mir, bin ich in einer überlegenen Position. Es ist ganz subtil, und wir müssen hier wirklich ehrlich sein: Mitleid enthält einen feinen Hauch Herablassung.

Mitgefühl dagegen begegnet dem anderen auf derselben Ebene. Ich sehe den Schmerz des anderen und spüre ihn in mir, denn er berührt meinen eigenen Schmerz, den ich wie alle Menschen erfahren habe und immer wieder erfahre. Im Schmerz sind wir eins, wenn auch die Auslöser der Schmerzen ganz unterschiedlich sind.

Die Gefahr, in der wir uns gerade befinden, ist die, uns in Mitleids-Bekundungen zu flüchten.

Ich werde seit einiger Zeit immer stiller. Ich habe keine druckfertigen Meinungen zu Weltproblemen. Ich will nicht aus meiner privilegierten, sicheren Position heraus Urteile abgeben über Richtig und Falsch, auch nicht zur Politik dieses oder jenes Landes. Ich sitze auf meinem Kissen, morgens und abends, und lausche auf meinen eigenen Schmerz. Ich sage zu meinem Schmerz: Du darfst sein. Du bringst mir bei, dass Schmerz universell ist, er findet nicht dort draußen in Gaza oder der Ukraine statt, sondern im Herzen jedes Einzelnen von uns. Ich weiß, wie sich die Mutter fühlt, deren Tochter umgebracht wurde, ich weiß, was der Vater des getöteten Soldaten fühlt. Dafür brauche ich nicht die neueste Katastrophen-Meldung zum Frühstück.

Vielleicht geht es in diesen Monaten für jeden von uns um etwas sehr Bescheidenes. Vielleicht geht es einfach darum, den eigenen Schmerz in seiner ganzen Größe anzunehmen. Weil er es ist, der uns alle miteinander verbindet.

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