Nun, meine Lieben, ist wieder Zeit, euren Weihnachtsstern auf Weihnachten vorzubereiten. Er/sie (eine Sternin gar?) soll doch im Advent schön rot sein. Deshalb hier noch einmal mein Erfahrungsbericht für alle tapferen Weihnachtssternbetreuerinnen und -betreuer. Nicht müde werden, Sternchen schleppen!
Übrigens: Mein Sternchen vom letzten Jahr ist ein ausgewachsener Prachtstern geworden. Dies ist das letzte Jahr, in dem ich ihn noch erröten lassen werde. Der Kerl wiegt so viel wie eine ausgewachsene Katze und passt jetzt schon kaum noch in seine Dunkelkammer.
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Im Dezember letzten Jahres kaufte ich einen kleinen Weihnachtsstern im Edeka. Es war der letzte im Regal, ein Sternchen im 10-cm-Topf für 99 Cent. Er tat mir leid. Alle Brüder und Schwestern aus dem Haus, der Kleine allein zwischen den obszön fleischigen Stängeln der Amaryllis, wo er irgendwie zurückgeblieben wirkte und nicht gerade zum Kauf einlud. Ich nahm ihn mit.
Sternchen gefiel es bei mir. Es wuchs. Ich topfte um. Sternchen war begeistert und wuchs schneller. Ich holte beim Edeka einen größeren Topf, der dreimal so viel kostete wie das Pflänzchen. Dazu beste torffreie Bio-Erde. Das Wachstum machte mich bange. Und irritierte mich: Die paar roten Blättchen waren längst von dicken grünen Blättern überwuchert. Was war los mit ihm? Falsche Pflege, falscher Standort? Ich konsultierte das weltweite Netz. Und erfuhr, dass der tropische Stern eine Kurztagspflanze ist und dem Photoperiodismus unterliegt. Vom 22. September an benötigt er acht Wochen lang täglich zwölf Stunden absolute Dunkelheit, um neue rote Blüten (die im Grunde Hüllblätter sind) zu entwickeln. "Wichtig ist", sagt das Netz, "dass man die Zimmertür nach Sonnenuntergang nicht mehr öffnet." Und fügt für uns Villenbesitzer hilfreich hinzu: "Ein ungenutzter Raum mit einer Außenjalousie, die sich zeitgesteuert herunterfahren lässt, eignet sich sehr gut."
Am 22. September trug ich Stern um 19 Uhr in mein kleines Kofferabteil unter der Dachschräge und wünschte ihm Gute Nacht. Am nächsten Morgen holte ich ihn um 7 Uhr wieder heraus und wünschte ihm Guten Morgen. Tag für Tag: Stern abends ins Dunkle betten, morgens in den Tag holen. Die Welt rutschte währenddessen in großer Geschwindigkeit in Richtung Chaos. Ich saß am Computer und sah ihr dabei zu; es gibt Grafiken dafür, die kennt inzwischen jeder. Die Überschriften lauten Inzidenz, Hospitalisierung, Impfstoffknappheit, Mutanten, vierte Welle. Beim Lesen von Online-Zeitschriften kann man ganz schnell mit der Welt zusammen abrutschen, und aus solchen Abgründen kommt man schwer wieder raus. Ich aber hatte einen Stern. Mit ihm zusammen bewegte ich mich durch die Tage der schlechten Nachrichten, die von zwei verlässlich aufgestellten Säulen zusammengehalten wurden: dem "Guten Morgen, Stern!" und dem "Gute Nacht, Stern!".
Allmählich fühlte ich mich aber doch etwas ermüdet. Nach einem Monat wurde ich mürrisch, weil auch nicht der kleinste rote Schimmer zu sehen war. Ein wenig Erfolg für meine Mühe hätte ich schon gern gesehen. Okay, sagte ich mir. In Grün ist er ja auch hübsch. (Ich will aber einen Roten ...!) Dann fuhr ich nach Salzburg, und als ich im Retreat auf meinem Kissen saß, fiel mir ein, dass ich den Stern im Kofferabteil vergessen hatte. Ach je. Ob er mir das wohl verzeihen würde? Ob er jetzt, drei Tage lang in Dunkelheit gesperrt, endgültig die Röte verweigern würde? Aus Hilflosigkeit? Aus Trotz? Am nächsten Montag holte ich ihn aus dem Verlies, er wirkte ungebrochen vital. Und war sehr grün.
Die acht Wochen neigten sich dem Ende zu. Am 18. November - ja, ich habe das Datum notiert - holte ich morgens den Stern aus der Dunkelheit, und die Hüllblätter waren von einem rosaroten Schimmer überzogen. Ich jubelte. Jetzt ging alles sehr schnell. In den nächsten Tagen errötete er immer mehr, wuchs dabei natürlich weiter und sieht jetzt aus wie eine junge Punkerin, die sich in den Haarschopf oben knallrote Stellen gefärbt hat, während unten die Eigenfarbe stehenblieb.
Mir erzählen ja immer wieder Menschen, dass sie es nicht schaffen, sich täglich zur Meditation auf ein Kissen zu setzen. Vielleicht probieren sie es im nächsten Jahr mal mit der Weihnachtsstern-Praxis. Immer dieselben Handgriffe in derselben Weise um dieselbe Zeit auszuüben,
hat etwas enorm Beruhigendes. Es gibt dem Tag eine Struktur, man lernt den Zustand seines Geistes kennen, kann das Loslassen aller Wünsche und Vorstellungen üben und gewinnt eine neue geliebte Freundin. Eine Punkerin. Das Leben ist voller Überraschungen.