Die Sanfte
Sie steht da einfach in einem Garten. Dort, wo bei anderen Menschen eine Regentonne vor sich hinmuffelt oder eine Hundehütte. Steht einfach da und schaut mich an. Kleine Kinder haben diesen Blick: unverwandt und fest, interessiert und doch kein bisschen aufdringlich. Ein Blick, der nicht nach dir greift, der nichts von dir will, der keine Absicht verfolgt außer der, das unbekannte Wesen dort jenseits des Zauns zu bestaunen. Ich fühle mich eingeladen, ihre sanfte Stille zu teilen, an einem Gartenzaun in einem Dorf, das ich zufällig durchquere. Wer so schaut, entfesselt keine Kriege, keinen Streit. Jetzt weiß ich es: Ich will den Alpaca-Blick lernen.
Der Alte
Er legt die Stirn an den Maschendrahtzaun und ist zu müde, sie wieder wegzunehmen. Ich kraule seine Nase. Das Fell ist eher eine Bürste als Haar. Er riecht. Ich weiß nicht, ob ein Ziegenjahr auch sieben Menschenjahren entspricht wie bei Katzen oder Hunden. Dann bist Du wahrscheinlich älter als ich, sage ich zu ihm. Wir sprechen über die Müdigkeit. Auch ich, sage ich, habe manchmal Lust, meine Stirn irgendwo abzulegen. Er schließt die Augenlider zur Hälfte, was bei ihm einen spektakulären Effekt hat. Bei mir sähe es tranig aus. Zum Dank für den Austausch rupfe ich ihm von meiner Seite des Zauns ein Büschel Gras und schiebe es ihm ins Maul. Er kaut bedächtig. Und lehnt die Stirn wieder an den Zaun.
Der Schöne
Diese Grazie! Das makellose Weiß der Federn! Er beachtet mich nicht; ich kenne dieses Verhalten von den schönen Männern und Frauen, denen ich manchmal begegne. Sie nehmen mich gar nicht wahr, denn einem Körper wie meinem wird in ihrer glanzvollen Sphäre kein Eintritt gewährt. Das ist mir sehr recht, so kann ich die Schönen ungestört und ungefährdet bewundern. Während ein Schöner einen Spiegel braucht, um sich seiner Schönheit zu vergewissern, und dabei fällt er leicht in den Tümpel, wie die Legende von Narziss beweist. Diese Schwanzfederchen, wie vom besten Friseur hingefönt! Und dieser eine Federstrahl, der in elegantem Bogen ein Gegengewicht zum unteren Körper bildet! Ist diese Schönheit eigentlich flugfähig?
Die Unabhängige
Sie wohnt, wo sie will. Ich sehe sie heute hier, morgen da. Sie hat kein Interesse an Schöner Wohnen; eine alte Decke in einer Scheune, ein Heuballen reichen ihr als Bett. Ihr autonomer Lebensstil weckt meine Sehnsucht. Ich komme ins Grübeln. Nicht, dass ich Lust hätte, im Heu zu wohnen. Aber wann ist eigentlich die Waschmaschine bei mir eingezogen, wie kam ein Toaster in mein Leben? Wie wurde aus einem schmalen Buch-Regal eine Bibliothek mit Hunderten Büchern? War das nötig? Einfach aufstehen und gehen, sich mal hier niederlassen, mal dort - eine nie erfahrene Freiheit. Da sitzt sie in königlicher Gelassenheit in ihrem Reich aus Gerümpel, und ich bin sicher, das Letzte, wonach sie sich sehnt, ist, ein Mensch zu sein. Beim Blick in die Zeitungen dieser Tage kann ich sie verstehen.