Donnerstag, 19. Mai 2022

Margrits kleine Tierschau

 

Die Sanfte

Sie steht da einfach in einem Garten. Dort, wo bei anderen Menschen eine Regentonne vor sich hinmuffelt oder eine Hundehütte. Steht einfach da und schaut mich an. Kleine Kinder haben diesen Blick: unverwandt und fest, interessiert und doch kein bisschen aufdringlich. Ein Blick, der nicht nach dir greift, der nichts von dir will, der keine Absicht verfolgt außer der, das unbekannte Wesen dort jenseits des Zauns zu bestaunen. Ich fühle mich eingeladen, ihre sanfte Stille zu teilen, an einem Gartenzaun in einem Dorf, das ich zufällig durchquere. Wer so schaut, entfesselt keine Kriege, keinen Streit. Jetzt weiß ich es: Ich will den Alpaca-Blick lernen.



Der Alte

Er legt die Stirn an den Maschendrahtzaun und ist zu müde, sie wieder wegzunehmen. Ich kraule seine Nase. Das Fell ist eher eine Bürste als Haar. Er riecht. Ich weiß nicht, ob ein Ziegenjahr auch sieben Menschenjahren entspricht wie bei Katzen oder Hunden. Dann bist Du wahrscheinlich älter als ich, sage ich zu ihm. Wir sprechen über die Müdigkeit. Auch ich, sage ich, habe manchmal Lust, meine Stirn irgendwo abzulegen. Er schließt die Augenlider zur Hälfte, was bei ihm einen spektakulären Effekt hat. Bei mir sähe es tranig aus. Zum Dank für den Austausch rupfe ich ihm von meiner Seite des Zauns ein Büschel Gras und schiebe es ihm ins Maul. Er kaut bedächtig. Und lehnt die Stirn wieder an den Zaun.

 


Der Schöne

Diese Grazie! Das makellose Weiß der Federn! Er beachtet mich nicht; ich kenne dieses Verhalten von den schönen Männern und Frauen, denen ich manchmal begegne. Sie nehmen mich gar nicht wahr, denn einem Körper wie meinem wird in ihrer glanzvollen Sphäre kein Eintritt gewährt. Das ist mir sehr recht, so kann ich die Schönen ungestört und ungefährdet bewundern. Während ein Schöner einen Spiegel braucht, um sich seiner Schönheit zu vergewissern, und dabei fällt er leicht in den Tümpel, wie die Legende von Narziss beweist. Diese Schwanzfederchen, wie vom besten Friseur hingefönt! Und dieser eine Federstrahl, der in elegantem Bogen ein Gegengewicht zum unteren Körper bildet! Ist diese Schönheit eigentlich flugfähig?

 


Die Unabhängige

Sie wohnt, wo sie will. Ich sehe sie heute hier, morgen da. Sie hat kein Interesse an Schöner Wohnen; eine alte Decke in einer Scheune, ein Heuballen reichen ihr als Bett. Ihr autonomer Lebensstil weckt meine Sehnsucht. Ich komme ins Grübeln. Nicht, dass ich Lust hätte, im Heu zu wohnen. Aber wann ist eigentlich die Waschmaschine bei mir eingezogen, wie kam ein Toaster in mein Leben? Wie wurde aus einem schmalen Buch-Regal eine Bibliothek mit Hunderten Büchern? War das nötig? Einfach aufstehen und gehen, sich mal hier niederlassen, mal dort - eine nie erfahrene Freiheit. Da sitzt sie in königlicher Gelassenheit in ihrem Reich aus Gerümpel, und ich bin sicher, das Letzte, wonach sie sich sehnt, ist, ein Mensch zu sein. Beim Blick in die Zeitungen dieser Tage kann ich sie verstehen.


Montag, 9. Mai 2022

Über das Überflüssigsein

 

 

Mir steht der melancholische Sinn heute nach einem Post über das Überflüssigsein. Ich glaube, es hat mit dem gestrigen Muttertag zu tun. Ich fühle mich wie eine Mama, die feine Speisen vorbereitet und den Tisch zauberhaft gedeckt hat in der Hoffnung, die lieben Kleinen mögen in diesem Jahr einmal nicht den Muttertag vergessen. Und dann kommt keiner. Und Mama sitzt grübelnd vor vollen Kuchenplatten und Sahneschüsseln und fragt sich, ob sie was falsch gemacht hat.

Ich habe auf meinem Balkon eine Bienenweide angerichtet. Habe Fachliteratur studiert, Pflanzen und Erde bestellt, Kübel gekauft.  



 

Na, ist das ein Angebot? Duftender Wiesen-Salbei, laut meinem Fachbuch eine "Hummel- und Schmetterlingsweide". Glockenblumen jede Menge. Wildrosen. Die Spezial-Wildbienen-Mischung aus der Fach-Gärtnerei. Und keiner kommt. Denn meine Gemeinde hat alle Baumscheiben im Umkreis, die Straßenränder und jedes Fitzelchen Erde bepflanzt mit "bienenfreundlichen Blüten". Das ist unbedingt zu loben, das ist großartig, ökologisch, an diesem Ort wohnt man doch wirklich gern. 

Ein reich gedeckter Tisch im Erdgeschoss. Welche Biene hat da noch Lust, zu mir in den zweiten Stock zu fliegen?

 


Und so schnuppere ich bei Einbruch der Dämmerung alleine an der betörend duftenden Nachtviole ("Nachtfalter und Schwebfliegen fühlen sich von diesem Dufterlebnis angezogen"), die verwelken wird, ohne je von einem Falter besucht worden zu sein. Wie traurig ist das denn. Und wenn ich was Geflügeltes sehen will, muss ich auf die Straße gehen. (Auf die Straße!)

Die Kerle brauchen mich nicht. 

Eine harte Wahrheit. Ich bemühe mich, sie mit Fassung zu tragen.

 

Montag, 2. Mai 2022

Fragmente. Frammenti.


 

Um die Fragmente aber ist Raum
für die Liebe
und der Himmel zieht ein
in die offenen Häuser.

Was wir zu lernen versäumt haben:
Zeigen, was fehlt.
 
 


Attorni ai frammenti tuttavia c'è spazio
per l'amore
e il cielo penetra
nelle case aperte.

Quello che abbiamo omesso d'imparare:
mostrare ciò che manca.

(Trad: Simona Venuti)

 

Dieses Gedicht habe ich 1988 in Rom geschrieben, wo ich als Stipendiatin in der Deutschen Akademie lebte. Es war Teil meiner Installation in der Jahres-Ausstellung der Villa Massimo, die sich in Fotos und Gedichten mit meinen Eindrücken von Rom befasste unter dem Titel "Der Ort der Sprache". "Il luogo della lingua".