Sonntag, 27. Februar 2022

Der lange Schatten des Krieges

 


Ich komme gerade zurück von meinem Retreat "Der lange Schatten des Krieges". Als ich das Thema vor einem Jahr festlegte, hätte ich nie gedacht, wie aktuell es zwei Tage vor dem Beginn des Retreats werden würde. Wir haben uns mit den Traumata befasst, die uns deutschen Nachkriegskindern von den Generationen vor uns vererbt wurden, weil unsere Eltern und Großeltern den Schmerz über die erlittene und ausgeübte Gewalt nie wirklich zugelassen haben.

Ich glaube, wir alle sind von irgendetwas traumatisiert. Von Kriegen, die wir selbst gar nicht erlebt haben, von Missbrauch, Inzest, Vernachlässigung, Rassismus, Flucht, Alkoholismus oder psychischen Krankheiten in unserer erweiterten Herkunftsfamilie. Was unsere Vorfahren erlebt haben, ist tief eingegraben ins kollektive Gedächtnis des Landes und in unser eigenes Bewusstsein, auch wenn wir das im Alltag zumeist nicht bemerken. 

Trauma ist eingefrorene Energie. Wie eine Tüte Gemüse, die wir im Gefrierschrank vergessen haben und eines Tages nach Jahren ausgraben und auftauen, hält sich das Trauma frisch. Aber irgendwann wird es unweigerlich erneut aktiviert - durch eine Begegnung, eine Drohung, eine Nachricht oder durch Bilder, wie sie uns gerade aus der Ukraine erreichen. Der eingefrorene Schmerz "taut auf", wird erneut oder zum ersten Mal fühlbar. Das ist ein schwieriger Moment für uns, aber wenn wir ihn aushalten, wird die eingefrorene Energie gelöst. Aus Sicht unserer Praxis heißt das: In den Schmerz hineinatmen, ihn nicht leugnen, uns nicht von ihm ablenken, ihn nicht mit irgendetwas "Positivem" überdecken und auch nicht über ihn nachdenken, denn das Denken ist in diesem Fall Vermeidung, denkend weichen wir ihm aus. Jetzt geht es darum, stellvertretend für unsere Vorfahren das zu tun, was sie nicht leisten konnten: den Schmerz zu fühlen. Einfach mit ihm zu sein mit ganzer Aufmerksamkeit. Mit dem Schmerz, unserem Erbe, denn es ist an uns, ihn zu erlösen.

Thich Nhat Hanh sagte uns immer wieder: Mit jedem Schmerz, den du in dir erlöst, verringerst du ein klein wenig den großen Schmerz der Welt.

Vielleicht fühlen wir uns hilflos, weil wir der Ukraine nicht helfen können. Aber dies können wir tun: Einen Schmerz in uns erlösen, damit die Welt um eine Winzigkeit weniger schmerzvoll ist. Damit das riesige Reservoir an Leid, das gerade so furchtbar aufgefüllt wird, nicht überläuft.


4 Kommentare:

  1. ich habe ein ganz eigenartiges Gefühl, daß die westliche Welt eben keinen Schmerz zuläßt. Daher werden diese Sanktionen nichts bringen.
    Seit ein paar Tagen schaue ich mir ganz wenig Medienberichte an und versuche in die Stille zu gehen. In der Stille spüre ich das ganze Chaos, aber auch Liebe in mir. Gitti Haas

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    1. Ich erlebe viel Schmerz, gerade in Deutschland. Und bin überrascht von der internationalen Reaktion, die ich nicht erwartet habe. Das alles wird Putin nicht an seinen Plänen hindern – aber vielleicht verändert es uns, gibt uns mehr Entschlossenheit und Klarheit.

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  2. Liebe Margrit,

    deine Gedanken zum „langen Schatten des Krieges“ sind mir eine große Hilfe.
    Ich verstehe damit mich selber besser und das was das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine bei mir auslöst. Manchmal ist in meinem Leben auch scheinbar grundlos ein seelischer Schmerz aufgebrochen, mit dem ich nichts anzufangen wusste. Mein Hintergrund sind u.a. die 1944 geflüchtete Mutter (94), ihre „Bilder“ von erfrorenen Säuglingen am Wegrand und vom Vater (+) die z.B. die Erinnerung an seine plattgefahrenen Kameraden.

    Ich lasse mich darauf ein, was du schreibst für, unsere Praxis im Umgang damit, bin froh darüber, auch wenn es erst einmal weh tut.

    Ich danke dir.

    Herzlich
    Joachim S.

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    1. Ich bin mit einer schwer kriegstraumatisierten Mutter aufgewachsen, die mir als Gute-Nacht-Geschichten zitternd von ihrer brennenden Wohnung, der Flucht aus Frankfurt an der Oder und dem Bombardiertwerden im Straßengraben erzählt hat. Ich weiß, wie Dir zumute ist.

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