Freitag, 18. Februar 2022

Einladung zum Nicht-Wissen


Kürzlich schaute ich mir eine politische Talkshow an, natürlich zum allgegenwärtigen Thema Corona; diesmal ging es um das Für und Wider der Impfpflicht. Die Redaktion spielte einen Zusammenschnitt aus früheren Auftritten diverser Politiker ein, und man sah im Fünf-Sekunden-Takt die immer gleiche Aussage, vorgetragen im Brustton der Überzeugung: „In Deutschland wird es keine Impfpflicht geben!“ Diesen Politikern, von denen einige als Gäste um den Tisch saßen oder zugeschaltet waren, kann es heute mit der Einführung der Impfpflicht nicht schnell genug gehen. Das war natürlich eine Traumsituation für die Moderatorin: Die Gäste mit ihren Widersprüchen konfrontieren zu können.

Die Herren (es war keine Frau dabei) hatten damit kein Problem. Einmütig erklärten sie, die Situation habe sich eben geändert und somit auch ihre Einschätzung. In einer großen Tageszeitung las ich hinterher, die Politiker hätten sich „wieder mal geschmeidig aus der Affäre gezogen“.

In dieser kleinen Szene geht es nicht um Corona. Übrigens - um diversen Kommentaren pro und kontra Impfen zuvorzukommen, die ich folglich nicht freischalten werde - auch nicht in diesem Blogpost. Sie zeigt unser aller grundsätzliches Dilemma. Thich Nhat Hanh pflegte uns immer wieder zu fragen: „Are you sure?“ Können wir wirklich sicher sein, dass wir alle Aspekte einer Sache in Betracht gezogen und begriffen haben? Gibt es nicht in jeder Situation unzählige Facetten, die wir nicht gesehen haben oder gar nicht sehen konnten, weil uns wichtige Informationen fehlten?

In dieser Welt, in der sich alles so schnell ändert, sehnen wir uns nach Gewissheiten. Diese Sehnsucht wird von den Politikern bedient, sie wollen ja wiedergewählt werden. Wir wollen starke Führungspersönlichkeiten, die klare Ansagen machen und uns ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Ich habe sehr selten einen Politiker zugeben hören: „Ich weiß es nicht.“

Eine Weltsicht, die keinen Zweifel zulassen kann, erkennt man an ihren Schlagworten. Solche Begriffe haben scheinbar den Vorteil, dass man zu wissen glaubt, was oder wen sie bezeichnen und was mit ihnen ausgesagt wird. Aber das ist ein gefährlicher Irrtum. Gerade beim Thema Corona kann man das beobachten. Da gibt es für die eine Seite die „Pandemie der Ungeimpften“, die „Impfgegner“ und „CoV-Idioten“, während sich auf der anderen einige – ich mag das kaum schreiben, weil es so furchtbar anmaßend ist – als „die neuen Juden“ bezeichnen. Und ich, die Zen praktiziert und einen homöopathischen Arzt hat („Wissenschaftsleugner“), werde zur Zeit von manchen Menschen, die mich seit Jahren kennen, abschätzig unter die „Esoteriker“ eingeordnet, die angeblich, wie man in den Medien lesen kann, die Impfung verweigern und somit das Gemeinwohl gefährden.

Unsere Überzeugung, mit Sicherheit etwas zu wissen, entlarvt unseren Blick als oberflächlich. In der Tiefe dagegen sind die Dinge komplex. Unerlöste Gefühle aus der Kindheit, sogar aus den Linien der Generationen vor uns vermischen sich mit festgefahrenen Meinungen und unserem verständlichen Wunsch nach Glück und sorgenfreiem Leben. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Unsere Urteile und Entscheidungen sind längst nicht so vernünftig und rational, wie wir behaupten.

Wie könnte es uns gelingen, aus den Zuordnungen und Bewertungen herauszukommen, um einander wieder wirklich zu begegnen? Im Zen gibt es die wichtige Kategorie des Nicht-Wissens. Damit ist nicht Ignoranz oder Leugnung gemeint. Schon gar nicht geht es darum, sich etwas schönzureden oder gewichtige Erkenntnisse oder Argumente auszublenden. Vielmehr treffen wir die Entscheidung, unsere Gedanken über dies und jenes vorübergehend auf freundliche Weise nicht zu beachten, woraufhin ihnen sehr schnell die Luft ausgeht. Es ist faszinierend, wie viel Raum im Geist entsteht, wenn sich unsere gewohnheitsmäßige Gedankenenergie beruhigt hat. 

Das Nicht-Wissen ist ein höchst lebendiger Zustand, in dem sich die universale Intelligenz äußern kann, die im Alltag durch unser zwanghaftes inneres Geplauder und die Beeinflussung durch andere Menschen und vor allem die Medien verdeckt ist. Wir werden kreativ, erhalten Informationen, die wir uns nicht hätten ausdenken können, denn wir haben uns jetzt dem großen Zusammenhang geöffnet. Im Raum des Nicht-Wissens wird uns Einsicht und Weisheit geschenkt. Aber auch dann sind wir nicht im Besitz der absoluten Wahrheit.

Unsere Entscheidungen sind eine Momentaufnahme: Der Schnittpunkt, an dem unser mehr oder weniger fundiertes Faktenwissen, unsere Vernunft, unser Gesundheitszustand, unsere Lebensumstände, unsere Erfahrungen, unsere bewussten und unbewussten Wünsche und Ängste sich in einem Ja oder Nein kristallisiert haben. Wenn wir uns das klarmachen, vertreten wir keine unverrückbaren Überzeugungen mehr, sondern entscheiden uns immer wieder aufs Neue nach bestem Wissen und Gewissen, aus der inneren Stille und dem unendlich großen Raum des Nicht-Wissens heraus. Mit hellwacher Aufmerksamkeit für die Welt, die im beständigen Fluss ist, und wir mit ihr. 

Und manchmal ist es nötig, dass wir ruhig und nachdenklich sagen: „Ich weiß es nicht. Aber ich möchte es herausfinden.“

 

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