Donnerstag, 29. August 2019

Rilke: O Leben



O Leben Leben, wunderliche Zeit
von Widerspruch zu Widerspruche reichend
im Gange oft so schlecht so schwer so schleichend
und dann auf einmal, mit unsäglich weit
entspannten Flügeln, einem Engel gleichend:
O unerklärlichste, o Lebenszeit.

Von allen großgewagten Existenzen
kann eine glühender und kühner sein?
Wir stehn und stemmen uns an unsre Grenzen
und reißen ein Unkenntliches herein,
. . . . . . . . . . .

Rainer Maria Rilke,
Paris, Winter 1913-1914 

 

Freitag, 23. August 2019

Heute vor fünfzehn Jahren


Heute vor fünfzehn Jahren starb mein "kleiner" Bruder, an einem Tag in Georgia, der 42 Grad hatte.

"Er liegt im Bett, das Profil wie aus Alabaster gemeißelt. Um uns herum die große laute Familie, zu der ich nicht gehöre; sie weinen und reden sich in den Trost hinein, den ich nicht brauche. Ich hatte vier Jahre lang einen Bruder, als Geschenk des Lebens, das uns dauernd Geschenke macht, auch wenn wir das nicht bemerken. Ich hatte das Geschenk nicht verdient, aber ich musste es mir auch nicht verdienen, ich bekam es einfach so. Grundlos, unangekündigt und unerwartet. Das sind die wahren Geschenke, und wenn man solch ein Geschenk erhält, darf man nicht zögern, es anzunehmen, nicht zögern, es zu genießen, und nicht zögern, es gehen zu lassen, wenn es einen verlässt.

Ich knie neben dem Bett in dieser Blase aus Stille, die mich und ihn umhüllt. Er ist alleine gegangen, ohne Beistand in seinen letzten Minuten, das passt zu ihm. Ich würde es vielleicht genauso machen. Wir beide werden jetzt wieder unsere Wege alleine gehen, das können wir, das haben wir ja gelernt. Er ist schon weit voraus, ich werde noch ein wenig bleiben, hier unten, wenn man das so sagen kann. Ja, alleine zu gehen macht uns nichts aus. Und doch war es schön, für eine kurze Wegstrecke eine Begleitung zu haben.

Ich beuge mich über das Alabasterprofil und sage leise: You are safe. Ich weiß nicht, warum ich ihm sage, dass er nun sicher sei, aber ich kann es ganz deutlich sehen: Mein kleiner Bruder, dessen Kindheit auf andere Weise als meine einsam und traurig war, ist vollkommen sicher und behütet, wo immer er jetzt ist."

Aus: Margrit Irgang, "Die Kostbarkeit des Augenblicks", Kreuz Verlag

Montag, 19. August 2019

Was sehe ich, wenn ich sehe?


Sieben Uhr morgens am S-Bahnhof meines Vororts. Der Bahnsteig voller müder Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Ein Hund mit roter Schleife um den Hals hebt das Bein an der Ecke zum Toilettenhäuschen. Ein Spatz lässt sich vom Baum fallen und schnappt sich eine Beute, die er erspäht hat. Wahrscheinlich hat das außer mir niemand bemerkt, denn alle anderen starren auf ihre Handys.

In der Süddeutschen Zeitung vom 16. August schreibt der Filmemacher Edgar Reitz, inzwischen 86 Jahre alt: "Die medialen Bilder haben die Herrschaft übernommen. Man muss sich nicht mehr vom Ort bewegen, muss nicht für das Dabeisein bezahlen. So kam es, dass die Bilder das direkte Sehen ersetzt haben." Er stellt auch fest, dass der Zuschauer "nicht objektiv wahrnimmt", was er als Regisseur auf der Leinwand erzählt, dass "jeder nur sieht, was er mit eigenen Erfahrungen bestätigen kann." Reitz fragt: "Ist es für uns überhaupt wichtig, dass wir uns in einer Welt wiederfinden, die mit unserer eigenen, unverwechselbaren Biografie untrennbar verbunden ist?"

Ich meine, "wichtig" ist hier das falsche Wort - es ist ein Vorgang, der automatisch abläuft. Thich Nhat Hanh sagt: "Unsere Wahrnehmung basiert gewöhnlich auf dem Boden unserer vorausgegangenen Erfahrungen. (...) Wir färben die Information in den Farben, die wir bereits in uns haben. Und darum haben wir meistens keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit." Der buddhistischen Wahrnehmungstheorie zufolge erfassen unsere Sinne ein Objekt im Bruchteil eines Augenblicks. Danach erfahren wir ein noch unstrukturiertes Geräusch, einen Geruch, ein Bild. Diese werden überlagert von Erinnerungen und Gewohnheiten, die Urteile auslösen wie "hübsch" oder "hässlich", und diese Urteile lösen Gefühle aus von Anziehung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit.

 

Dieses Bild der Blätter im Spinnennetz machte ich an einem Tag im Juli, als die Rosen noch in voller Blüte standen. Für eine Freundin war es ein trauriges Bild: Es würde vom Ende des Sommers erzählen, der doch auf seinem Höhepunkt sei. Ein Bekannter, der selbst fotografiert, lobte die interessante farbliche Komposition und den Gegensatz von Verwelktem und Frischem. Jeder hatte ein anderes Bild gesehen, jeder es auf Grund seiner Persönlichkeit anders interpretiert. Das Bild selbst ist nicht traurig; es ist einfach ein Bild von Blättern im Spinnennetz.

Dieses blitzschnelle Interpretieren von sinnlichen Eindrücken geschieht ständig im täglichen Leben. Und deshalb sind "die medialen Bilder" nicht die Auslöser für die Unfähigkeit, die Welt wirklich wahrzunehmen. Wir erzählen uns im Grunde unablässig eine Geschichte, die auf unseren vergangenen Erfahrungen basiert. Und wir wählen unbewusst aus, was wir sehen/hören/fühlen wollen. An jenem Morgen auf dem Bahnhof habe ich zwar den Hund und den Spatz gesehen - aber was alles ist mir entgangen?

Wenn wir - auf einem Gang durch den Wald, das Sitzen an einem Bach, Meditation - still werden, können wir diesen Vorgang in unserem Geist beobachten. Wir lernen unsere Bewertungen kennen und können uns entscheiden, ob wir ihnen erlauben, zu Gefühlen zu werden, die uns vielleicht nicht guttun.

Auch Edgar Reitz mit seinen Filmen und ich mit meinen Fotografien vermehren die Bilder im medialen Raum. Ich habe die Hoffnung, dass der Satz der berühmten Fotografin Dorothea Lange aus den 1940er Jahren immer noch gültig ist: "The camera is an instrument that teaches people how to see without a camera." Ich hoffe auf einen Moment der Stille im Geist der Betrachterin, die auf meinem Foto einen winzigen Ausschnitt der Welt sieht, den sie noch nie gesehen hat: Farben, die sie nicht in sich hat, die zu keiner Bewertung führen und deshalb für einen Moment die Welt neu und frisch erscheinen lassen, blank geputzt. So, wie man sie eigentlich immer wahrnehmen könnte.


Samstag, 10. August 2019

Sommer in der Stadt


Wenn die Nachmittage lang und träge sind, alle Türen offen stehen, in der Eisdiele ein uralter Hit von Eros Ramazzotti gespielt wird ...


... wenn man einfach nur stundenlang auf der Mauer sitzen und dem Leben beim Lebendigsein zugucken will und entdeckt, dass das besser ist als Kino ...



... wenn man sich allen ebenfalls durstigen Kreaturen von Herzen verbunden fühlt ...


... und vor lauter Glück kurz davor ist, in den Himmel zu fliegen und den Engeln Guten Tag zu sagen ...

... dann ist Sommer in der Stadt.

Donnerstag, 1. August 2019

Pema Chödrön: "Wir lassen die Dinge winzig"


... einfach mal mit Kamera oder offenen Augen die Schönheit des Winzigen entdecken ...

"Man muss ein gewisses Verständnis dafür haben, dass unsere Emotionen die Kraft haben, uns im Kreis herum zu hetzen. Dieses Verständnis hilft uns zu entdecken, auf welche Weise wir unseren Schmerz vermehren, wie wir unsere Verwirrung vergrößern, auf welche Weise wir uns selbst Schaden zufügen. Weil wir aber eine grundlegende Gutheit besitzen, grundlegende Weisheit und grundlegende Intelligenz, können wir aufhören, uns selbst und anderen zu schaden. Achtsamkeit lässt uns die Dinge erkennen, sobald sie erscheinen.Verständnis hilft uns, der Kettenreaktion, die winzige Dinge ins Unermessliche vergrößert, nicht nachzugeben. Wir lassen die Dinge winzig. Und sie bleiben winzig. Sie werden nicht zum dritten Weltkrieg oder zu häuslicher Gewalt. Und das wird möglich, wenn wir lernen, für einen Augenblick innezuhalten, nicht immer sofort impulsiv zu reagieren. Einfach innezuhalten, ohne den offenen Raum augenblicklich vollzustopfen, ist eine transformierende Erfahrung. Wenn wir warten, beginnen wir uns mit der grundlegenden Ruhelosigkeit und gleichzeitig mit der grundlegenden Weite zu verbinden.

Das Ergebnis ist, dass wir aufhören, Schaden zu verursachen. Wir lernen uns genau kennen und beginnen uns zu respektieren. Alles darf geschehen, jeder darf in unser Haus eintreten; wir können alle möglichen Gestalten auf unserem Wohnzimmersofa vorfinden und flippen doch nicht aus. Indem wir uns durch ehrliche, sanfte Achtsamkeit selbst kennengelernt haben, sind wir mit uns ins Reine gekommen.

Dieser Prozess bringt uns mit den Früchten der Gewaltlosigkeit in Kontakt: grundlegendem Wohlbefinden von Körper, Sprache und Geist." 


Die Amerikanerin Pema Chödrön, Nonne in der tibetischen Shambhala-Tradition

Aus dem Buch "Wenn alles zusammenbricht", Goldmann Verlag, ISBN 978-3-442-21525-6