Sonntag, 14. August 2016
Was ist Achtsamkeit?
Vor etlichen Jahren hatte ich das Privileg, meine Mutter in den letzten sieben Stunden ihres Lebens begleiten zu dürfen. Sie lag auf der Intensivstation, konnte nicht mehr sprechen und tauchte nur ab und an aus dem Dämmerzustand auf, in den die Schmerzmittel sie versetzt hatten. Ich saß an ihrem Bett und nahm jede ihrer Regungen wahr, um ihr geben zu können, was sie brauchte. Sie hatte Durst, sie wollte ein Taschentuch, sie wollte, dass ich meine Hand auf ihre lege. Ich wusste all dies mit unfehlbarer Sicherheit, weil ich mich in ihr Sein eingefädelt hatte; sie und ich waren nicht mehr getrennt, sondern ein Wesen, das miteinander atmete, fühlte und empfand. Es war ein Ausnahmezustand, ein Zustand des Nicht-Getrenntseins, den ich in der Meditation auf dem Kissen zuvor manchmal empfunden hatte, aber nie sieben Stunden lang! Etwas in mir wusste, dass diese Erfahrung ein Geschenk war. Eine Stunde, nachdem meine Mutter gestorben war, stiegen auf einmal schmerzhafte Erlebnisse aus meiner Kindheit in mir auf, und ich bemerkte, dass ich aus der Verbundenheit zurückgefallen war in die Begrenztheit meines Ichs. Es fühlte sich schrecklich an, als hätte ich die Freiheit verloren und wäre zurück in meinen Körper gepresst worden, in eine viel zu enge Haut.
Wo war mein "Ich" in diesen sieben Stunden, während meine Hände Durst stillten, Schweiß abwischten, streichelten? Es gab nur völliges Präsentsein in jedem Augenblick, es gab höchste Achtsamkeit auf alles, was geschah und benötigt wurde. Aber es gab kein Ich, das sich bewusst war, achtsam zu sein.
Wir alle kennen das Gefühl der Trennung zwischen "mir" und "dem anderen" und "der Welt". Diese Trennung ist so schmerzhaft, dass wir Verbundenheit herstellen möchten, indem wir Mitgefühl und Liebe entwickeln, Aufmerksamkeit und Freundlichkeit, Gelassenheit und Geduld. Irgendwann habe ich, ganz nebenbei und in einer alltäglichen Situation, begriffen, dass mein vermeintlich so wertvolles Bemühen im Grunde ein Ausdruck meines Widerstands gegen das Leben ist. Bemühen muss ich mich nur, wenn ich mich nicht völlig und ohne Wenn und Aber einlasse auf das, was das Leben mir in diesem Moment präsentiert.
In den Grenzsituationen unseres Lebens können wir etwas Erstaunliches entdecken: All diese Qualitäten, um die wir uns so bemüht haben, stehen uns mühelos zur Verfügung, denn sie ruhen seit jeher in uns, in unserer wahren Natur. Wenn wir anwesend sein dürfen, während ein Kind geboren wird oder auch nur eine kleine Katze, oder wenn wir jemanden in den Tod begleiten dürfen, fällt auf einmal jeder Widerstand gegen das Leben von uns ab. Hier und jetzt, in diesem Moment, geschieht etwas ganz Großes, etwas, das unsere Meinung und unser Urteil nicht braucht, das unsere Gedanken nicht erfassen und unsere Worte nicht wiedergeben können. Wir wissen einfach, was jetzt von uns benötigt wird: eine Handlung, ein Wort, eine Geste oder schlicht unsere stille Anwesenheit. Wir wissen es, immer. Weil da reines Achtsamsein ist und kein Ego, das die Situation zu seinen Gunsten manipulieren will.
Achtsamkeit ist viel mehr als eine Methode - sie ist eine Qualität und ein Ausdruck unserer wahren Natur. Wenn wir ganz und gar präsent sind im Augenblick und uns nicht in Gedanken und Gefühlen verlieren, wird sie sich äußern. Spontan, mühelos und anmutig, zum "Wohle aller Wesen".
(Aus meinem Artikel "Wer ist es, der achtsam ist", in Buddhismus aktuell 1/2016
4 Kommentare:
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Diesen Artikel habe ich vor einiger Zeit gelesen, als sie ihn hier auf dem Blog erwähnten und auch aus ihrem Buch war mir der Bericht über den Tod Ihrer Mutter vertraut. Ich lese dies so gerne, da es mich auf eine besondere und stille Art berührt - danke!
AntwortenLöschenViele Grüße von
Helga
Danke, liebe Helga. Ich poste manchmal etwas mehrfach, weil ich auf facebook und auf dem Blog ganz unterschiedliche Leserinnen und Leser haben; die einen lesen nur hier, die andern dort. Es freut mich zu hören, dass es Menschen gibt, die sogar die Links, die ich angebe, anklicken. Liebe Grüße!
LöschenDas rührt mich auch sehr an. Ein wichtiges Geschenk des Lebens würde ich es nennen, dass Sie Ihre Mutter so begleiten konnten.
AntwortenLöschenViele Grüße, Taija
Ja, ich habe gesehen, dass jemand sein Sterben einem anderen als Geschenk machen kann. Liebe Grüße nach München (da lebte ich gerade, als sie starb).
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