Montag, 30. Juni 2014
Begegnungen mit Thich Nhât Hanh
Ich begegnete ihm zuerst in einem seiner Gedichte - wie es sein soll, wenn jemand Dichter ist. Denn der Dichter ist nicht wichtig, seine Gedichte dagegen sind es sehr. Die Rinzai-Zen-Schule, in der ich damals praktizierte, plante eine Feier; dort sollte ein Gedicht zitiert werden, das es damals nur auf Englisch gab, und man bat mich, es zu übersetzen. Der Autor namens Thich Nhât Hanh war mir kein Begriff. Aber als ich das Gedicht gelesen hatte, wusste ich: Einen Zen-Meister, der solche Gedichte schreibt, muss ich kennenlernen.
"Ich komme in jeder Sekunde an / um eine Knospe an einem Frühlingszweig zu sein / ein winziger Vogel mit zerbrechlichen Flügeln / der in seinem Nest das Singen lernt / um eine Raupe zu sein im Herzen der Blume / ein Juwel, das sich im Stein verbirgt. / Ich komme an, um zu lachen und zu weinen / mich zu fürchten und zu hoffen. / Der Rhythmus meines Herzens sind / Geburt und Tod all dessen, was lebt."
Es war das Jahr 1991, ich hatte noch keinen Zugang zum Internet, und es brauchte etliche Monate, unzählige Telefonate und eine mühsame nächtliche Zugfahrt in die Dordogne, bis ich ihn zum ersten Mal auf der Bühne sah, im Upper Hamlet von Plum Village, seinem Zentrum im französischen Exil. Ich begegnete einem bescheidenen, schlichten Mönch, der in großer Klarheit und Kraft einfache und weise Gedanken äußerte. Ich hatte acht Jahre im klassischen japanischen Zen praktiziert und wusste, mit Thay, wie er von seinen Schülern genannt wird, würde sich für mich ein ganz neuer Zen-Weg öffnen, der mich stärker mit der Welt verbinden würde als meine vorherige Praxis. Ich wurde Mitglied in seiner internationalen Gemeinschaft "Order of Interbeing".
Heute ist Plum Village ein riesiges internationales Praxiszentrum, aber damals - es war gerade Summer Reatreat - waren etwa 100 Menschen anwesend, darunter ganze zehn Deutsche. Und weil ich zum ersten Mal dort war - und vielleicht auch, weil ich die ganze Woche Thays Vorträge für die Deutschen übersetzt hatte -, wurde ich eingeladen zu einer Tee-Zeremonie mit ihm im kleinen Kreis. Wir waren etwa zwanzig Personen, saßen in einem winzigen Raum auf dem Boden um ihn herum, und dann sagte er etwas Überraschendes: Er bat uns, von unserem größten Schmerz zu erzählen. Und jeder von uns erzählte: Eine Mutter von ihrem Ex-Mann, der das gemeinsame Kind auf die glühende Herdplatte geschleudert hatte. Ein amerikanischer Vietnam-Veteran von dem hungrigen vietnamesischen Kind, das vor seinen Augen in Stücke gerissen wurde von dem Sprengstoff, den er vorher im Brot versteckt hatte. Thay hörte einfach zu, mit einer Präsenz, die ich vorher noch nie bei einem Menschen erlebt hatte. Die Tee-Zeremonie hatte um 6 Uhr morgens begonnen; als wir den Raum verließen, war es 12 Uhr mittags.
Ich habe im Lauf der letzten 24 Jahre viele Retreats mit Thich Nhât Hanh besucht. Eine Begegnung hat mich besonders bewegt. Als ich 2001 mein "Zen-Buch der Lebenskunst", das inzwischen vom Verlag in "Wunderbare Unvollkommenheit" umgetauft wurde, veröffentlichte, passte das ein paar Menschen in der Gemeinschaft nicht. Thays Kommentar dazu war: "When you have a book, you are a teacher. You support the transformation of many people."
Der Kommentar eines wahren Dichters, eines Zen-Meisters und eines freien großen Geistes.
Hier ist die Webseite seines Zentrums in Frankreich: www.plumvillage.org
1 Kommentar:
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Ja! Doch was ist wirklich in den Traditionen los, wie ich sie erlebe? Darf Leid als erfahrener Schmerz betrachtet werden. Ist der Dialog mit dem Inneren Kind erwünscht? Ist Mitgefühl die Art der Barmherzigkeit die Jesus gelehrt und gelebt hat? Mir tut alles weh und meine Seele schreit. Doch ich bleibe allein auf dem Kissen und auch danach! Übe weiter, begegne Thich Nhat Hanh, dann den Büchern von Margrit Irgang. Heute gründe ich eine eigene Gruppe nachdem ich 13 Jahre in der Tradition von Prabhasa Dharma Zenji praktiziert habe. Hier dürfen neben der Meditation, Erfahrung, Kraft und Hoffnung über den eigenen Schmerz geteilt werden und so Heilung erfahren. In dieser Art der Stille öffnen sich unsere Herzen hin zu allem was ist. Dies meine ich, verstanden zu haben. Dank Jesus - Buddha - Mohamed.....Dank Thay, Margrit und allen die Fragen stellen und Eigensinn praktizieren. Liebe Grüße und Gassho Carmen Sagert, Hamburg - Danke Gott!
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