Ich muss euch noch ein Buch empfehlen, weil ich es so liebe. Gibt es eine Geschichte? Ja und nein. Am 27. August 1985 fährt der fünfzehnjährige Theo in einem Vorort von New York betrunken den Familienwagen an einen Baum, die Freundin stirbt, die siebzehnjährige Schwester Sarah behauptet, gefahren zu sein. Dieses Ereignis findet auf den ersten fünf Seiten des Buches statt. Auf den restlichen zweihundertachtzig Seiten sehen wir den vier Mitgliedern der Familie Wilf dabei zu, wie sie hilflos und tapfer versuchen, mit ihren gebrochenen Herzen zu leben - fünfunddreißig Jahre lang, aus wechselnder Perspektive jedes Einzelnen. Als Theo längst ein hippes Restaurant downtown hat, weiß er: "Seine Familie ist unmerklich Stück für Stück aus den Fugen geraten. Jetzt sind sie voneinander getrennt. In ihren einzelnen kaputten Universen."
Sie schweigen über das, was vorgefallen ist. Sie haben keine Worte dafür, und erst spät in ihrer Leben wird das Sprechen möglich und eine Erlösung sein. In einer weiteren Nacht, zehn Jahre später, geschieht etwas Neues: Im gegenüberliegenden Haus kommt ein Kind zu früh auf die Welt, Ben Wilf, der Arzt, hilft ihm ins Leben, und der kleine Waldo wird das Bindeglied zwischen den Menschen in beiden Häusern und dem, was sie unsichtbar verbindet. Jetzt sind wir beim eigentlichen Thema des Romans, und das ist eben keine erzählbare Geschichte, denn dieses Buch handelt vom Unerzählbaren. Von dem, was zwischen den Menschen geschieht, in ihren Herzen und im Kosmos, von dem sie ein Teil sind, geheimnisvoll miteinander verbunden.
Waldo ist ein besonderes Kind, zart und introvertiert. Schule und Eltern halten ihn für "nicht normal", er wird zu Therapien geschleppt, und nur Ben Wilf erkennt, wen er da vor sich hat: einen Hochbegabten, der sich in Astrophysik vertieft. Waldo hat etwas begriffen, was die anderen erst allmählich von ihm lernen: "Alles ist mit allem verbunden. Dr. Wilf. Ich. Ihr. Wie Teile eines galaktischen Superhaufens." Ben Wilf hat geholfen, Waldo auf die Welt zu bringen, und es wird der elfjährige Waldo sein, der Bens Frau Mimi aus dem Leben begleitet und dem alten Arzt, der längst in Kalifornien lebt, klarmacht, dass Tote nicht sterben, sondern immer bei uns sind.
Dani Shapiro erzählt über vierzig Jahre hinweg und springt von einem Jahrzehnt ins andere und wieder zurück, und das ist stimmig. Denn im Tiefsten ist dies ein spirituelles Buch. Es führt uns in den Bereich jenseits der sogenannten Realität, in dem es keine lineare Zeit gibt: "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entfalten sich immer und ewig."
Das Buch ist so herzzerreißend schön, voller Schmerz und Traurigkeit, aber gerade deshalb tröstlich. Wenn du je erfahren hast, dass ein Ereignis dein Leben in ein unwiederbringliches Vorher und ein Nachher trennt, ist dies dein Buch.
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