Freitag, 24. Januar 2025

Santacitta Bhikkhuni "Fang einfach an!"

 

Santacitta Bhikkhuni erinnert sich an die junge Frau, die sie einst war. Sie suchte „etwas, das zu mehr Weisheit und Harmonie mit den Dingen führt, so, wie sie wirklich sind“. Dieser Satz fasst wunderbar prägnant zusammen, was eine langjährige buddhistische Praxis leisten kann. In sehr persönlichen Gesprächen mit ihrer Freundin, der Journalistin Irmgard Kirchner, erzählt sie in diesem Buch von ihrem Weg. Wie wird eine Frau, die eigentlich das Hotel ihrer Eltern übernehmen sollte, Nonne? 

Sylvia Bayer wird 1958 in der Steiermark geboren. Sie besucht die Hotelfachschule, dann arbeitet sie in Wien in einem avantgardistischen Theater und studiert Kulturanthropologie. Während sie zu Feldforschungen in Thailand ist, gerät sie durch einen jener Zufälle, die keine sind, in das Waldkloster von Ajahn Buddhadasa und beginnt zu meditieren. Aber unsere Lebenswege sind nie geradlinig, und auch Santacitta musste erst ein paar Umwege gehen, bevor der Wunsch, sich als Nonne ordinieren zu lassen, stark genug war. Erst stirbt ihr drogensüchtiger Geliebter in ihren Armen, dann heiratet sie einen thailändischen Geschäftsmann, der in kriminelle Machenschaften verwickelt ist. 

Dieses Buch verwebt die Erläuterung des Dharma mit der persönlichen Lebensgeschichte von Santacitta. Sie erklärt ihrer präzise nachfragenden Freundin buddhistische Lehrinhalte auf alltagsnahe Weise, mit Beispielen aus ihrem Leben. Der Edle Achtfache Pfad, die Brahmaviharas, die Sieben Erwachensfaktoren und die Ethischen Grundsätze zum Beispiel werden nicht als abstrakte Lehrinhalte, sondern als hilfreiche Ausrichtung und Haltung für ein heilsames Leben vorgestellt. 

Schon die junge Sylvia Bayer hatte begriffen, dass ihre mütterliche Ahnenlinie von Männern unterdrückt worden war. Diesen kritischen Blick auf Gender-Themen hat sie auch als Nonne nicht verloren. In den diversen Klöstern, in denen sie lebte, konnte sie die Diskriminierung von Nonnen gegenüber Mönchen nicht akzeptieren. Selbst die volle Ordination war Frauen dort nicht möglich. Schließlich verließ sie mit einer Mitschwester ihre Linie und gründete das Kloster Aloka-Vihara in San Francisco, nachdem sie im Spirit Rock Center ordiniert wurde. 

Santacitta Bhikkhuni engagiert sich bis heute für die Umweltbewegung und die Ermächtigung von Frauen: "Ich setze mich für die Gleichberechtigung von Frauen ein und ich mache das nicht nur aus sozialen, sondern auch aus psychologischen Gründen. Es macht etwas mit unserem Geist, wenn wir uns als Frauen freiwillig oder gezwungen in eine untergeordnete Position begeben. Wenn du wirklich erwachen und die Verblendung hinter dir lassen willst, muss die ganze Kapazität deines Geistes verfügbar sein."

Dieses Buch ist eine inspirierende Landkarte für die Reise zum Erwachen, gerade für Laiinnen und Laien.

Irmgard Kirchner, Santacitta Bhikkhuni "Fang einfach an! Wie mir meine Freundin den Buddhismus erklärt. edition steinrich, ISBN 978-3-942085-83-0.

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Dienstag, 14. Januar 2025

Es knospt

 

Am Wochenende hat die Gemeindeverwaltung die vor den Türen liegenden Weihnachtsbäume abgeholt. Auf dem Gehsteig sind kleine Zweige zurückgeblieben, an denen zwei Wochen lang Licht und Freude hing: Kerzen, Kugeln, Schleifen, Süßigkeiten. Das Fest, das voller Gesang und Glocken war, verabschiedet sich mit dem Klang des Knirschens meiner Schuhe auf trockenen Nadeln.

Die Zeit der Kälte und Stille ist da. Auf den Feldern liegen noch ein paar Kürbisse und Maiskolben, die nicht schnell genug geerntet wurden und jetzt in der Faust des Frosts sind. Er wird sie so schnell nicht mehr hergeben, aber wer wollte sie überhaupt noch essen. Die Dachpfannen und Gartenzäune sind weiß, ohne beschneit zu sein. Nicht flockig und pulvrig weiß, sondern froststarr weiß. Auf den Straßen hin und wieder ein paar dick vermummte Menschen, die an den Leinen ihrer Hunde zerren in der Hoffnung, das Tier möge sich ihrer erbarmen und zurück ins warme Haus streben.

Aber - schau mal: Die Büsche und Bäume tragen den Frühling in fest verschlossenen kleinen Paketen. Schatzkästchen, in denen sie ihre Kräfte und Säfte sammeln, und irgendwann Ende Februar oder Anfang März werden die Kästchen so prall voll sein, dass sie von selbst aufplatzen. 

Wir frieren, es ist kalt, die Feste sind vorbei, die Plätzchen sind aufgegessen. Öde Zeit. Aber in uns sammelt sich still und leise die Kraft an, die uns durch den Rest des Jahres tragen wird. Wir dürfen sie nur nicht beim Wachsen stören.

Es ist ganz einfach, es geht so: 



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Freitag, 10. Januar 2025

Volker Kitz "Alte Eltern"


Der Vater von Volker Kitz ist Ende siebzig, als er eines Tages nicht mehr weiß, wie man einen Schlüssel im Schloss dreht und die Kaffeemaschine bedient. Die Diagnose Demenz stellt die beiden Söhne vor eine Herausforderung. 

"Wie löse ich mich von der Illusion des Immer-weiter-so? Welche Zeichen muss ich erkennen, welche Entscheidungen darf ich treffen? Welche muss ich treffen, gegen Vaters Willen? Wie behalte ich Zugang zu ihm, teile Schmerz, Freude, pendle in seine Welt - ohne meine verdorren zu lassen?"

Als das Leben für den Vater alleine nicht mehr möglich ist, findet Volker für ihn in Berlin ein Pflegeheim. Aber er kann das Irreversible der Krankheit nicht akzeptieren, kontrolliert die Pflegerinnen, zählt die Tabletten nach. Mit jeder weiteren Verwandlung des Vaters wächst seine Verzweiflung.

Der Titel ist etwas irreführend, denn in diesem Buch geht es ausdrücklich um Demenz. Aber auch wenn Volker Kitz viele Informationen über diese Krankheit zusammengetragen hat, ist es doch sein sehr persönlicher Zugang zum Thema, der das Buch ausmacht. Und so dürfte es auch für erwachsene Kinder, deren Eltern vielleicht aus anderen Gründen pflegebedürftig sind, ein wertvoller Begleiter sein durch eine Zeit, auf die man sich emotional nicht vorbereiten kann.

Volker Kitz "Alte Eltern. Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt", Kiepenheuer & Witsch. 

Meine Besprechung in SWR Kultur hier (klick).

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Mittwoch, 8. Januar 2025

Mit Anmut altern


 

Der britische National Health Service hat 2023 untersucht, wie man "schnell und eindeutig den Alterungsprozess eines Menschen prüfen kann". Der wichtigste Wert sei der Flamingo-Stand: Wer länger auf einem Bein stehen kann, lebe länger. Für den Einbein-Stand gibt es strenge Vorgaben, gestaffelt nach Alter. Die Vorgabe für meine Altersgruppe ist 18 bis 19 Sekunden. Hm? Auf dem rechten Bein stand ich heute morgen beim Zähneputzen 90 Sekunden, auf dem linken, na ja, 25.
 
Heute bin ich, die Alte, ein Jahr älter geworden. Der britische Health Service hat mir nicht verraten, wie alt ich mit diesen Werten insgesamt werden soll. Das interessiert mich auch nicht. Mir ist viel wichtiger, wie ich alt werde.

Ich möchte mit Anmut altern. Noch gelingt mir das nicht immer, ich weiß. Aber ich lerne.
 
Die Literaturredakteurin der Zeit, Iris Radisch, beklagte vor einigen Monaten die fehlenden Rollen-Vorbilder für alternde Frauen. Wo sind die tollen Alten? rief sie aus. Ich dagegen sehe mich in den Medien umzingelt von toll alternden, vor Tatkraft strotzenden, Motorrad fahrenden, die Nächte durchtanzenden und todschick (oder, alternativ, punkig) gestylten Frauen mit jungen Liebhabern, die mir zurufen: Du bist so alt wie du dich fühlst! Geh raus, genieße dein Leben! Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mich machen diese Frauen traurig. Ich werde das Gefühl nicht los, sie schreien mit knallengen Capri-Jeans und dickem Make-up gegen ihre Angst vor dem Alter an. Also: vor dem Sterben. Den Bestseller "Altern" von Elke Heidenreich habt ihr ja sicher alle gelesen. Es stehen hübsche und kluge Sachen drin, aber auch Frau Heidenreichs demonstrativ provokative Art zu altern ist nicht meine.
 
Mein Leben ist mit den Jahren immer stiller geworden, weil sich die Dramen verabschiedet haben. Musikalisch gesprochen: Mein Leben ist keine Oper mehr, sondern Kammermusik. Manchmal auch ein Solo-Gesang. Ich habe in meiner Jugend viel Energie vergeudet mit Diskussionen, Aufregungen und Verzweiflung über Belogenwerden, Betrogenwerden, verweigerte Chancen und unerwiderte Lieben. So viel Schmerz säumt meinen Weg, und manchmal war er durchaus berechtigt, hervorgerufen von familiären Umständen, die zeitweise unerträglich waren. Aber jetzt bin ich alt und stelle beglückt fest: Der Schmerz ist weg. Ich könnte ihn in mein Gefühl zurückrufen, wenn ich wollte, aber ich werde mich hüten, das zu tun. Es lebt sich so viel leichter ohne ihn. 

Die Tage haben irgendwie mehr Stunden, weil sie nicht mehr mit sinnlosen Diskussionen über dies und das gefüllt werden. Weil ich gelernt habe, den inneren Dialog abzustellen, ist Weite in meinen Geist eingekehrt. Jetzt erst hat die Welt in ihm Platz, und sie kommt mit ihren Pflanzen, Tieren und Menschen, mit den Jahreszeiten und dem Wetter. Ja, auch mit dem Weltgeschehen. Ich war noch nie so informiert wie heute, aber weil die Schmerzen der Welt nicht mehr auf innere Schmerzen treffen und potenziert werden, kann ich mitfühlen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Übrigens vermeide ich diese unter Menschen meines Alters leider so verbreiteten und oft in wohligem Ton geführten Gespräche über Krankheiten und Gebrechen aller Art. Das wirklich Ernste verschlägt mir ohnehin die Sprache, und über Kleinigkeiten rede ich nicht.

Mit Anmut zu altern heißt für mich: Alles Künstliche in mir und an mir allmählich abzulegen. Mein Haar hat jetzt die Farbe, die mir von den Genen zugeteilt wurde ("mäusefarben" nannte es meine Mutter und färbte die Tochter wasserstoffblond), und nachdem mich meine Kontaktlinsen fast mein linkes Auge gekostet haben, finde ich mein Leben mit Brille viel unkomplizierter (einfach aufsetzen, nicht mühevoll einsetzen). Mit Anmut zu altern heißt für mich, eigene Prioritäten auf stille Weise zu setzen, ohne eine Demonstration daraus zu machen. Nein zu sagen, auch wenn andere ein Ja erwarten; nicht mitzulachen, wenn alle lachen, zu widersprechen, wenn Zustimmung erwartet wird, und immer öfter einfach den Mund zu halten. Sich nicht zu entschuldigen, wenn man abends lieber ein Buch liest, als mit anderen auszugehen, und es überhaupt fast schon als Kompliment anzusehen, wenn man als ungesellig gilt. Geselligkeit, das weiß man doch jenseits der Fünfundsiebzig, ist nicht Gemeinschaft und nicht dasselbe wie Interesse, Zuhören, Mitfühlen und Mitdenken.
 
Aber natürlich ist es ganz in Ordnung, Motorrad zu fahren und einen zwanzig Jahre jüngeren Liebhaber zu haben. Das ist vielleicht die wichtigste Eigenschaft der Anmut im Alter: Sie lässt jede und jeden so sein, wie er oder sie glaubt, sein zu wollen. So bunt und verrückt oder so still und zurückgezogen, so albern oder so ernsthaft. Ich will niemanden mehr erziehen (jedenfalls meistens). Ich will mich einfach nur an ihm oder ihr erfreuen. Und wenn in einer Begegnung nun wirklich gar keine Freude aufkommen will, stehe ich still auf und verlasse den Raum (das kann ich gut). Die lauten Leute werden mich nicht vermissen, die haben meine Anwesenheit vorher ohnehin nicht wahrgenommen.
 
Ich bin auf dem Weg zu einer wunderbaren Unsichtbarkeit. Die Tarnkappe, die ich als Kind gern gehabt hätte, wurde mir geschenkt. Sie heißt Alter. Ah, nicht mehr gesehen zu werden! Und deshalb unbehelligt und ungestört alles und alle sehen zu können ...

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