Kürzlich schaute ich mir eine politische Talkshow an,
natürlich zum allgegenwärtigen Thema Corona; diesmal ging es um das Für und
Wider der Impfpflicht. Die Redaktion spielte einen Zusammenschnitt aus früheren
Auftritten diverser Politiker ein, und man sah im Fünf-Sekunden-Takt die immer
gleiche Aussage, vorgetragen im Brustton der Überzeugung: „In Deutschland wird
es keine Impfpflicht geben!“ Diesen Politikern, von denen einige als Gäste um
den Tisch saßen oder zugeschaltet waren, kann es heute mit der Einführung der
Impfpflicht nicht schnell genug gehen. Das war natürlich eine Traumsituation
für die Moderatorin: Die Gäste mit ihren Widersprüchen konfrontieren zu können.
Die Herren (es war keine Frau dabei) hatten damit kein
Problem. Einmütig erklärten sie, die Situation habe sich eben geändert und
somit auch ihre Einschätzung. In einer großen Tageszeitung las ich hinterher,
die Politiker hätten sich „wieder mal geschmeidig aus der Affäre gezogen“.
In dieser kleinen Szene geht es nicht um Corona. Übrigens - um diversen Kommentaren pro und kontra Impfen zuvorzukommen, die ich folglich nicht freischalten werde - auch nicht in diesem Blogpost. Sie zeigt
unser aller grundsätzliches Dilemma. Thich Nhat Hanh pflegte uns immer wieder zu fragen:
„Are you sure?“ Können wir wirklich sicher sein, dass wir alle Aspekte einer
Sache in Betracht gezogen und begriffen haben? Gibt es nicht in jeder Situation
unzählige Facetten, die wir nicht gesehen haben oder gar nicht sehen konnten,
weil uns wichtige Informationen fehlten?
In dieser Welt, in der sich alles so schnell ändert, sehnen
wir uns nach Gewissheiten. Diese Sehnsucht wird von den Politikern bedient, sie
wollen ja wiedergewählt werden. Wir wollen starke Führungspersönlichkeiten, die
klare Ansagen machen und uns ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Ich habe
sehr selten einen Politiker zugeben hören: „Ich weiß es nicht.“
Eine Weltsicht, die keinen Zweifel zulassen kann, erkennt
man an ihren Schlagworten. Solche Begriffe haben scheinbar den Vorteil, dass
man zu wissen glaubt, was oder wen sie bezeichnen und was mit ihnen ausgesagt
wird. Aber das ist ein gefährlicher Irrtum. Gerade beim Thema Corona kann man
das beobachten. Da gibt es für die eine Seite die „Pandemie der Ungeimpften“, die „Impfgegner“ und
„CoV-Idioten“, während sich auf der anderen einige – ich mag das kaum schreiben, weil
es so furchtbar anmaßend ist – als „die neuen Juden“ bezeichnen. Und ich, die
Zen praktiziert und einen homöopathischen Arzt hat („Wissenschaftsleugner“),
werde zur Zeit von manchen Menschen, die mich seit Jahren kennen, abschätzig
unter die „Esoteriker“ eingeordnet, die angeblich, wie man in den Medien lesen
kann, die Impfung verweigern und somit das Gemeinwohl gefährden.
Unsere Überzeugung, mit Sicherheit etwas zu wissen, entlarvt
unseren Blick als oberflächlich. In der Tiefe dagegen sind die Dinge komplex. Unerlöste Gefühle aus der Kindheit,
sogar aus den Linien der Generationen vor uns vermischen sich mit
festgefahrenen Meinungen und unserem verständlichen Wunsch nach Glück und
sorgenfreiem Leben. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Unsere Urteile und
Entscheidungen sind längst nicht so vernünftig und rational, wie wir behaupten.
Wie könnte es uns gelingen, aus den Zuordnungen und
Bewertungen herauszukommen, um einander wieder wirklich zu begegnen? Im Zen
gibt es die wichtige Kategorie des Nicht-Wissens. Damit ist nicht Ignoranz oder
Leugnung gemeint. Schon gar nicht geht es darum, sich etwas schönzureden oder
gewichtige Erkenntnisse oder Argumente auszublenden. Vielmehr treffen wir die
Entscheidung, unsere Gedanken über dies und jenes vorübergehend auf freundliche
Weise nicht zu beachten, woraufhin ihnen sehr schnell die Luft ausgeht. Es ist
faszinierend, wie viel Raum im Geist entsteht, wenn sich unsere
gewohnheitsmäßige Gedankenenergie beruhigt hat.
Das Nicht-Wissen ist ein höchst lebendiger Zustand, in dem sich die universale Intelligenz äußern kann, die im Alltag durch unser zwanghaftes inneres Geplauder und die Beeinflussung durch andere Menschen und vor allem die Medien verdeckt ist. Wir werden kreativ, erhalten Informationen, die wir uns nicht hätten ausdenken können, denn wir haben uns jetzt dem großen Zusammenhang geöffnet. Im Raum des Nicht-Wissens wird uns Einsicht und Weisheit geschenkt. Aber auch dann sind wir nicht im Besitz der absoluten Wahrheit.
Unsere Entscheidungen sind eine
Momentaufnahme: Der Schnittpunkt, an dem unser mehr oder weniger fundiertes
Faktenwissen, unsere Vernunft, unser Gesundheitszustand, unsere Lebensumstände,
unsere Erfahrungen, unsere bewussten und unbewussten Wünsche und Ängste sich
in einem Ja oder Nein kristallisiert haben. Wenn wir uns das klarmachen,
vertreten wir keine unverrückbaren Überzeugungen mehr, sondern entscheiden uns
immer wieder aufs Neue nach bestem Wissen und Gewissen, aus der inneren Stille und dem unendlich großen Raum des Nicht-Wissens heraus. Mit hellwacher
Aufmerksamkeit für die Welt, die im beständigen Fluss ist, und wir mit ihr.
Und
manchmal ist es nötig, dass wir ruhig und nachdenklich sagen: „Ich weiß es
nicht. Aber ich möchte es herausfinden.“