Samstag, 29. Mai 2021

Die Zartheit der Welt

 

 

Immer, wenn ich das Kleine, Einzelne betrachte - nicht das große Ganze, nicht "die Natur", nicht "die Welt" -, dann, immer dann, muss ich den Atem anhalten, weil das ganz Kleine so zart ist, so gefährdet. Das winzige Vogelei unter der Hecke, der eine Grashalm in der Mauerritze. Die Biene, müde von der Suche nach Pollen, reglos auf dem Terrassenboden. So allein, so ausgesetzt. Mir ausgesetzt, meiner Achtsamkeit oder Unachtsamkeit. Meiner Zuwendung oder Abwendung. Meiner Fürsorge oder Gleichgültigkeit.

Ich muss den Atem anhalten, weil mir auf einmal bewusst wird, dass es auf mich ankommt. 


Dienstag, 25. Mai 2021

Großzügigkeit

Lady Alexandra verschenkt sich

In unserer letzten Online-Meditation haben wir uns über Großzügigkeit und Wertschätzung unterhalten. Im Buddhismus ist die Großzügigkeit - dana-paramita - eine der sechs Paramitas, der "Sechs Vollkommenheiten". Alle paramitas wollen praktiziert, also geübt und verstanden werden. So einfach ist das nämlich nicht mit der Großzügigkeit, die hat zwei Gesichter: Wir können geben, weil wir etwas wertschätzen - oder aus Berechnung.

Ein reicher Kaufmann spendete seinem Zenkloster einen Sack mit fünfhundert Goldstücken. Der Meister sagte: "Gut, ich will es nehmen." Der Mann ärgerte sich über diese Antwort und sagte: "In diesem Sack sind fünfhundert Goldstücke." "Das sagtest du bereits", sagte der Meister. "Willst du, dass ich mich dafür bedanke?" "Ich denke, das solltest du", antwortete der Kaufmann. "Warum sollte ich das?", gab der Meister zurück. "Der Gebende sollte dankbar sein."

Aber da gibt es auch den alten Zenmönch Ryokan, der im achtzehnten Jahrhundert in einer ärmlichen Hütte in den Bergen lebte. Eines Tages, während er auf einem Spaziergang war, brach ein Dieb in seine Klause ein, fand aber nichts, was er hätte stehlen können. In dem Moment kam Ryokan zurück und rief aus: "Du Armer, jetzt bist du umsonst gekommen! Hier, nimm wenigstens meine Jacke und meine Hose." Der verblüffte Dieb nahm die Sachen und verschwand. Ryokan setzte sich, nackt wie er war, vor seine Hütte und seufzte. "Der arme Kerl", sagte er zu sich. "Schade, dass ich ihm nicht diesen schönen Mond schenken kann."

Wir können auf so viele Weisen großzügig sein, auch wenn wir kein Geld haben. Wir können zum Beispiel jemandem unsere Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Wir können unsere Freude schenken, unseren Frieden, unser Wissen und unsere Erfahrungen. Und falls wir wirklich nur noch unsere Jacke und unsere Hose besitzen, können wir immer noch ein Lächeln schenken. 

Großzügigkeit löst unsere Ich-Zentriertheit, und zwar sowohl, indem wir sie geben, als auch, indem wir sie ohne Bedenken annehmen. Wir lassen das nagende Gefühl des Mangels, das uns unterschwellig begleitet hat, los und öffnen uns der grundlegenden Fülle. Thich Nhat Hanh pflegte uns immer wieder zu sagen: You have enough!



Der ausgiebige Regen der letzten Wochen hat meinen geheimen Garten mit einer Fülle an Blättern und Blüten beschenkt. Ich weiß gar nicht, wie ich mich für diese Freude bedanken soll. Die amerikanischen indigenen Völker opfern den Naturgeistern ja Tabak, den ich nicht im Haus habe, und bei Wolf-Dieter Storl habe ich gelesen, dass gerne kleine handgewebte Wolldecken an Seen für die Wassergeister hinterlegt werden. Ich habe auch keine kleinen handgewebten Wolldecken. Sollte ich vielleicht ein Lied singen (Zimmerpflanzen immerhin, las ich, mögen Mozart)? Genügt mein Lächeln, meine stille Begeisterung als Dank?

Ja, ich glaube, meine Freude ist dana-paramita.

 

Mittwoch, 19. Mai 2021

Geschenk vom Regen

 

Nur mal so, weil alle sich über den Regen beschweren. So ein Regen hat ja auch eine Persönlichkeit. Der möchte gemocht werden. Nicht immer hören, er sei nicht in Ordnung. Weil entweder zu wenig oder zu viel, im falschen Monat oder falschen Moment (weil Menschen gerade keinen Schirm dabei haben). Der Regen, der sich nach Freundlichkeit sehnt, macht jetzt abends Ein-Minuten-Geschenke. Man darf die Anstrengung, die solch ein Zauber erfordert, nicht unterschätzen. Eine Minute ist da schon eine Leistung. Leider kriegt das kaum jemand mit. Der Himmel ist im Moment nicht der Ort, an dem man gern seine Augen ruhen lässt.

 

 

Es ist auch an der Zeit, meine tapfere Pfingstrose zu preisen (9 Knospen!). Jeden Tag kämpft sich das Innenleben einen Millimeter weiter heraus. Das Innenleben wird, wenn es einmal das Licht der Welt erblickt hat, eine rosagerüschte, umwerfend duftende Wolke sein. Meine Pfingstrose versteht etwas vom Aufbau emotionaler Spannung, von Verheißung und Versprechung. Seit Wochen schaue ich jeden Morgen nach, ob es schon so weit ist. Sie heißt übrigens Lady Alexandra. Sie ist mir in diesem Jahr, wo sie es so schwer hat, ans Herz gewachsen.

Das alles nur mal so, weil ich mich ab sofort nicht mehr über den Regen beschweren möchte.

 

Mittwoch, 12. Mai 2021

Frau Irgangs geheimer Garten

Grün. Sehr grün. Und nass. Noch nicht ausgeschlafen, die Bewohner. Ist halt keine Gärtnerin da oben, nur eine Dichterin.

Ich habe einen geheimen Garten. Kein Mensch, der von unten zu mir in den zweiten Stock hochschaut, ahnt, was hier oben los ist. Darüber bin ich sehr froh. Ich hatte bislang als Mieterin einen halbwegs guten Ruf, aber mein Garten würde den Ruf ruinieren, denn er entspricht in keiner Weise den unkrautbefreiten hoch ordentlichen Gärten meiner badischen Nachbarn. Da sind die Hecken gestutzt, die Rasen rasiert, jede Pflanze weiß, wo sie hingehört, und diese Pflanzen-Erziehung funktioniert vom Töpfchen an, was mich ratlos macht. Wir haben einen großen Steintrog am Hauseingang, den hat mein Vermieter kürzlich bepflanzt. Alle zwanzig Zentimeter eine Zwiebel. Da wird exakt strammgestanden! (Iris halt, mit denen kann er es machen. Sollte er mal bei Kapuzinerkresse probieren.)

Frau Irgangs Garten ist voll mit Kapuzinerkresse. Und Glockenblumen aller Arten, Duftwicken, Borretsch, Mohn, Moschusmalven, Ringelblumen, Nachtkerzen und Nachtviolen. Da gibt es - soll es geben, wird es geben - laut Samentüten wunderbare bienenfreundliche, schmetterlingsanziehende Sorten mit so schönen Namen wie Acker-Hundskamille, Sommer-Adonisröschen, Acker-Rittersporn, Strahlen-Breitsame, Saat-Wucherblume. Also, wuchern tun sie schon. Sonst aber tun sie vorerst nix.

Und deshalb bleiben (vorerst?) die Gäste aus, deretwegen die ganze grüne Veranstaltung doch stattfindet: die Haarstrang-Sandbiene zum Beispiel, die Gewöhnliche Löcherbiene, die Giersch-Sandbiene, die Zweizellige Sandbiene und die "lokal Blauschillernde Sandbiene", die ich gerne kennenlernen möchte. (Wie schillert man lokal?)

Meine Campanula Rotundifolia sieht aus, als habe sie sich die Haare gerauft (mag sie mich nicht? Ach, ach ...), und die Wilde Möhre hat einen Schopf, dem ein Friseurbesuch guttun würde. Die weiße Rose (okay, es gibt eine ältere Abteilung im Garten, die eher konventionell bestückt ist) wird von kleinen grünen Läusen aufgefressen, die Blüten der Bauernhortensie muss man mit der Lupe suchen, und die Pfingstrosen halten eisern ihre Blüten seit Wochen geschlossen. Alles ist nass. Und grün. Sehr grün. Grün soll ja heilsam und beruhigend sein. Ich hatte mir aber schon etwas Gefälligeres vorgestellt.

Ich streichle sie einzeln (ersetzt mir die Sitz-Meditation). Ich spreche mit ihnen, ich nenne sie: meine Süßen, meine Allerliebsten. Ein Wissenschaftler, ich glaube, von der University of Ohio, hat in Experimenten herausgefunden, dass Pflanzen, mit denen ihre Besitzer sprechen, gesünder sind und besser wachsen. Und wie sie wachsen, ich kann nicht klagen! Der Wiesensalbei kam an als fünf Zentimeter kleiner Zwerg und misst inzwischen vierzig Zentimeter. Was soll ich sagen: Er ist grün. Ich habe ihn ausgewählt, weil seine Blüte lila sein soll.

Mir macht aber etwas ganz anderes zu schaffen. Es gibt da diese hübschen paarweise aufgenommenen Fotos von Hunden und ihren Herrchen/Frauchen, die sich einander - wer da wem, ist nicht ganz klar - auf unheimliche Weise optisch angenähert haben. Ob das auch für Menschen und ihre Pflanzen gilt?
 


 
Zum Geburtstag schenkte mir eine Freundin einen Glücksklee mit der Bemerkung "Die werden so schön buschig". Ich hatte nach zwei Wochen einen Individualisten im Topf, aber vielleicht ist es auch ein Egoist. Wenn man von meinen Pflanzen und mir paarweise Fotos machen würde - in welchen Abgrund meiner selbst würde ich da blicken? All dies Unordentliche, Eigensinnige, so gar nicht Nett-Gefällige ... 

Ich bin wirklich froh, dass kein Mensch ahnt, dass ich hier oben einen Garten habe.

Donnerstag, 6. Mai 2021

Textile Skulpturen von Riitta Päiväläinen

 

Die Fotografin und Installations-Künstlerin Riitta Päiväläinen spürt in Kleidung aus Secondhandläden und von Flohmärkten den Spuren nach, die ihre früheren Besitzer in einer Stofffalte, einem dünn gescheuerten Ellenbogen, einem Flicken hinterlassen haben. Sie setzt diese Textilien der Natur aus, dem Wind und dem Wetter, und sie erwachen zu neuem, ganz eigenem Leben. Eine künstlerische Kontemplation über Zeit, Vergänglichkeit und den Respekt vor den Dingen des täglichen Lebens 

For me, a piece of clothing represents, above all, its former wearer. It tells you that somebody has been present. However, the person who wore it is now gone. The faded colors and tears in the fabric show the signs of the time passed.

By freezing the garment or letting the wind fill it with air, I am able to create a sculptural space, which reminds me of its former user.

– Riitta Päiväläinen