Freitag, 10. Januar 2020

Wald. Eine Geschichte.


… aber während sie weiterging, stetig geradeaus auf das Ende zu, weil das die einzige Richtung ist, die Leben nehmen kann, spulte sich in ihr etwas ab, das zu straff aufgewickelt gewesen war, ein Knäuel ineinander verdrahteter Erfahrung, eine Last, die sie schon lange nicht mehr tragen wollte. Im Voranschreiten sammelte sie nichts mehr ein und an, vielmehr verlor sie etwas mit jedem Schritt, sie hatte das Gefühl, Schnipsel hinter sich zu verstreuen, Fetzen vergangener Gefühle, Bruchstücke alter Gedankengebäude, vielleicht würde man sie über kurz oder lang wegen Umweltverschmutzung verklagen, aber als sie sich umwandte, sah sie nichts als den Weg, den sie gegangen war.

Sie war jetzt so leicht, dass sie lautlos durch den Wald gehen konnte, kein Zweig knackte unter ihrem Schritt, die Tiere flohen nicht vor ihr und erkannten sie an als ihresgleichen. Noch nie war sie so weit in den Wald gegangen, in sein tiefes dunkles Herz, das hätte sie nie gewagt, früher, aber jetzt wusste sie, dass sie sicher war bei den Tieren. Die Stille des Waldes heilte sie von etwas, das sie nie als Heilungsbedürftig wahrgenommen hatte. Diese Stille war nicht die Abwesenheit von Geräuschen, denn es raschelte, rauschte und knisterte um sie her; es war die Abwesenheit von Beurteilung und Bewertung, von Meinung und Überzeugung, ihrer eigenen und die der anderen. Die Sprache des tiefen Waldes war nicht die der Menschenwelt, und sie verstand sie sofort, obwohl niemand sie je die Sprache gelehrt hatte ...


... und während sie weiterging, durch die Dunkelheit zwischen den Stämmen hinein in einen hellen Schimmer, wurde sie noch leichter und kleiner. Die Stämme waren jetzt sehr hoch, sie stolperte über Wurzeln, und dann trat sie in den Schimmer ein und erkannte den Silberwald, den sie schon oft gesehen hatte, in einer Zeit namens Vergangenheit, aufbewahrt an einem Ort, den die anderen Erinnerung nannten. Sie konnte sich nach Belieben an diesen Ort begeben, auch wenn sie ihn eigentlich nicht mehr brauchte. Sie hatte den Silberwald einige Male durchschritten, sie wusste, man muss ihn ganz durchschreiten, in ihm gibt es keine Seitenwege, und das Durchschreiten war, wie sie sich erinnerte, nie leicht gewesen. Auch jetzt war es kalt, alles war zu Eis erstarrt, und wieder war sie versucht, eine Abkürzung zu suchen, aber sie wusste: Erst wer den Silberwald durchschritten hat, erreicht die Lichtung, an dem die Schatten nicht mehr bedrohlich sind, sondern so notwendig und schön wie das Licht, weil die Natur beide braucht, um ein Kunstwerk zu erschaffen, die Kalligrafie der Landschaft ...


... und sie trat aus dem Wald, sah sich um und erkannte den Kreis, den sie abgeschritten hatte, so viele Jahrzehnte lang. Der Kreis war fast geschlossen, aber noch nicht ganz. Er hatte eine Öffnung wie die Kreise der Zenmeister, diese Symbole der Ganzeit, die dennoch fast unfertig wirken, weil alles fest Geschlossene gefährlich ist, sei es ein Urteil, eine Ansicht oder ein Lebensentwurf. Sie wusste, sie würde noch einmal hindurchgehen durch die Öffnung in die Welt der Menschen, was aber kein Zurückgehen sein würde, auch nicht wirklich ein Weitergehen, vielleicht einfach ein Fließen mit Wind und Wetter, ein Wandern mit Sonne und Mond. Sie war jetzt so leicht, dass sie einverstanden war, mit nichts Bestimmtem, mit nichts, das sie hätte benennen können, aber sie war es, ruhig und einverstanden ...

(Da ich gefragt wurde, ob der Text von mir ist: Ja, ich habe ihn (auf-)geschrieben. Aber es waren die Fotos, die mir die Geschichte erzählt haben. Also ist der Text vielleicht nicht direkt "von mir" - und die Fotos sind es eigentlich auch nicht, denn die "mache" ich nicht, ich empfange sie nur ...)

4 Kommentare:

  1. Wie schön ist dieser Text. Ist er von dir?
    liebe Grüße von Ellen

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  2. Nur eine spontane Idee zu deinen wunderbaren Worten: Wenn die Seele leise heimkehrt, wird die Stille sichtbar.
    Danke! Simon

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    1. Genau das wollte ich ausdrücken: Die Seele kehrt leise heim ... Danke, Simon

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